Johannes Rau im zeitgeschichtlichen Rückblick und in der interdisziplinären Diskussion von Zeitzeugen:innen und Fachwissenschaftlern:innen

Erinnerung, Verantwortung und Zukunft. Fachtagung zu Johannes Rau (1931-2006) und seinem Wirken in politischer und wissenschaftlicher Perspektive

Organisatoren
Anja Kruke, Friedrich-Ebert-Stiftung; Jürgen Mittag, Deutsche Sporthochschule Köln (Bergische Universität Wuppertal, Johannes-Rau-Gesellschaft, Friedrich-Ebert-Stiftung) (Bergische Universität Wuppertal, Johannes-Rau-Gesellschaft, Friedrich-Ebert-Stiftung)
Ausrichter
Bergische Universität Wuppertal, Johannes-Rau-Gesellschaft, Friedrich-Ebert-Stiftung
PLZ
42119
Ort
Wuppertal
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
20.01.2023 - 21.01.2023
Von
Norbert Fabian, Institut für soziale Bewegungen, Ruhr-Universität Bochum

Über fast 20 Jahre als Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen (1978–1998), zuvor als Minister (1970–1978) und dann als Bundespräsident (1999–2004) hat Johannes Rau politische Akzente in der Bildungs-, Umwelt-, Integrations- und Strukturpolitik gesetzt. Bei der Wuppertaler Tagung in der Johannes-Rau Bibliothek ging es darum, verschiedene Facetten des Politikers und Menschen zu diskutieren und in den Kontext aktueller Forschungsthemen und -arbeiten zu stellen.1 Weggefährten:innen von Johannes Rau referierten und diskutierten zugleich als Zeitzeugen:innen. Fachhistorische und eher politik- und sozialwissenschaftliche Beiträge kamen hinzu, was sich als recht konstruktiv erwies.

In Begrüßungen würdigten Peter Gust / Brigitta Wolf von der Bergischen Universität Wuppertal und Uwe Schneidewind als Oberbürgermeister insbesondere den Wissenschaftspolitiker und Universitätsgründer Johannes Rau sowie dessen Verdienste für die Stadt. Die langjährige NRW-Bildungsministerin Gabriele Behler (Bielefeld) betonte die konstruktive und menschlich gute Zusammenarbeit mit Johannes Rau und die stark ethische Fundierung von dessen politischem Handeln.

In dem von Jürgen Kocka (Berlin) moderierten Eingangspanel wurde der neue konsensorientierte politische Stil herausgestellt, der für Johannes Rau kennzeichnend gewesen ist. Für ULRICH HEINEMANN (Bochum) hat er sich zeitlebens als „Brückenmensch“ und Brückenbauer verstanden. LUTZ HAARMANN (Bonn) versuchte die These zu belegen, dass mit der absoluten Mehrheit der Stimmen für den Ministerpräsidenten Johannes Rau und die SPD bei der Landtagswahl 1985 eine „elektorale Sozialdemokratisierung“ NRWs erfolgt sei. Dagegen wurde in der Diskussion angeführt, dass es Johannes Rau zwar gelungen sei, christlich und sozial orientierte Wechselwähler erstmals für die SPD zu gewinnen. Diese seien jedoch der SPD später wieder verloren gegangen. Als engagiertem Europapolitiker, der sich als politischer Bundespräsident auch sozialen Bewegungen zugewendet habe, wurde Johannes Rau durch JÜRGEN MITTAG (Köln) gesehen. Wegweisend seien die 2000er Rede in der israelischen Knesset und die Berliner Reden gewesen.2 Für Jürgen Kocka hat Johannes Rau nicht zuletzt dazu beigetragen, die Arbeiterschaft und das Bürgertum stärker zusammenzubringen.

Möglichkeiten der deutschen Bundesländer, sich auch über Verbindungsbüros in Brüssel in das Mehrebenensystem der EU einzubringen analysierte JONAS BECKER (Düsseldorf) in einem Panel zur regionalen und europäischen Strukturpolitik. LEA PFEFFERMANN-GOEHL (Göttingen) verwies darauf, dass mit der ersten von Johannes Rau als Ministerpräsident in Castrop-Rauxel 1979 einberufenen Ruhrgebietskonferenz Ansätze regionaler Strukturpolitik entwickelt worden sind. Zusammengebracht wurden mit Vertreter:innen aus Politik und Wissenschaft, Gewerkschaften und Verbänden ein breites gesellschaftliches Spektrum, und ein Ergebnis war ein Aktionsprogramm für das Ruhrgebiet. In der Diskussion stellte Stefan Goch (Bochum) zudem den Beitrag regionaler Strukturpolitik zur sozialen Bewältigung des Strukturwandels im Ruhrgebiet weiter heraus.3

Wichtige Impulse, die Johannes Rau in den Bereichen Bildung, Migration und Wissenschaft vermittelte, analysierte ein von Wolfgang Merkel (Berlin) moderiertes Panel. SARAH MARIE DEMIRIZ (Düsseldorf) vom Haus der Geschichte NRW, verwies auf die intendierte Förderung ausländischer Kinder und das Konzept einer Integration durch Bildung, Wissen und Teilhabe. DIETER BATHEN (Duisburg-Essen), der Vorsitzende der Johannes-Rau-Forschungsgemeinschaft zeigte auf, dass die Hochschulpolitik seit 1968 vielfach zentral zum Strukturwandel in NRW beigetragen hat. Ab 1972 wurden Gesamthochschulen in Wuppertal, Essen, Duisburg, Siegen und Paderborn gegründet, 1974 zudem die Fernuniversität Hagen. Hinzu kamen außeruniversitäre Forschungsinstitute wie das Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung (ILS) in Dortmund, das Institut für Energie- und Umwelttechnik, (IUTA) in Duisburg-Rheinhausen mit den Schwerpunkten Luftreinhaltung, Recycling, Kreislaufwirtschaft und 1991 mit Ernst Ulrich von Weizsäcker als erstem Präsidenten das Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie. Insgesamt ging es Johannes Rau darum, Wirtschaft, Soziales und Nachhaltigkeit miteinander zu verbinden und auch in Lernprozessen Brücken zwischen Wissenschaften und politisch-gesellschaftlicher Praxis zu schlagen.

In einer von Gunilla Budde (Oldenburg) moderierten öffentlichen Abendveranstaltung diskutierten dann Zeitzeugen:innen und gegenwärtige Akteure über ihre Erinnerungen und über das Vermächtnis von Johannnes Rau. Beteiligt waren der Staatsekretär a.D. Christoph Habermann und der ehemalige Leiter des Bundespräsidialamtes Rüdiger Frohn als enge Mitarbeiter, der frühere DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann und für das SPD-Präsidium Dietmar Nietan, MdB.

In weiteren Panels wurden unter der Leitung von Anja Kruke (Bonn) und Guido Thiemeyer (Düsseldorf) Beiträge Johannes Raus zur Umweltpolitik, zur Versöhnungsarbeit und seine Zukunftsvorstellungen diskutiert. Eher kritischen Einschätzungen von FELIX LIEB (München)4 und CHRISTIAN MÖLLER (Bielefeld) hielt der frühere Minister für Stadtentwicklung, Wohnen und Verkehr, Christoph Zöpel (Dortmund) entgegen, dass unter dem Ministerpräsidenten Johannes Rau in NRW erhebliche Erfolge in der Umweltpolitik möglich gewesen sind. Zu nennen seien das Jahrhundertprojekt der Emscher-Sanierung im Ruhrgebiet, der breite Ausbau von Kraft-Wärme-Kopplung und der Verzicht auf Atomenergie in NRW. Johannes Raus zentrale Zukunftsvorstellungen erläuterte anhand von dessen Reden JAKOB ERICHSEN (Berlin).5 Das nachhaltige Engagement für die jüdische Gemeinschaft in NRW betonte URI ROBERT KAUFMANN (Essen). In der Tradition biblisch-prophetischen Denkens waren für den überzeugten evangelischen Christen Johannes Rau der Blick auf die Zukunft immer zugleich ein Auftrag für gegenwärtiges Handeln.

Den Einfluss von evangelischen Pfarrern wie Karl Immer belegte dann der abschließende Überblick von HEINER FLUES (Wuppertal) über den Werdegang des jungen Johannes Raus und dessen Wirken als SPD-Abgeordneten im NRW-Landtag. Auf Möglichkeiten weiterer Forschungsarbeiten anhand der Quellen zu Johannes Rau v.a. im Archiv der sozialen Demokratie der FES verwies TOM HILLEBRAND (Bonn).6 Jürgen Mittag sprach das methodologische Problem an, Biographie und Strukturanalysen sowie auch mögliche unterschiedliche Perspektiven zusammenzubringen. Als bleibende, aus dem Wirken Johannes Raus erwachsende Impulse wurden insbesondere die gelungene moderne Hochschullandschaft und ein in erheblichem Umfang gelungener Strukturwandel in NRW sowie neue Ansätze in der Migrationspolitik angeführt. Kritisiert wurde, dass die Ahlener Rede Johannes Raus von 1985 mit dem für sein Lebenswerk wegweisenden und zentralen Motto „Versöhnen statt spalten“ stärker hätte berücksichtigt und herausgestellt werden können.7

Konferenzübersicht:

Peter Gust (Wuppertal) / Brigitta Wolff (Wuppertal) / Uwe Schneidewind (Wuppertal) / Gabriele Behler (Bielefeld): Grußworte

Panel I: Johannes Rau und sein politischer Stil

Lutz Haarmann (Bonn): Johannes Rau, die NRWSPD und die Landtagswahl 1985 in Nordrhein-Westfalen

Ulrich Heinemann (Bochum): Johannes Rau und das Primat des Persönlichen

Jürgen Mittag (Köln): Johannes Rau als Bundespräsident

Moderation: Jürgen Kocka (Berlin)

Panel II: Regionale und europäische Strukturpolitik

Jonas Becker (Düsseldorf): Johannes Rau und die Europapolitik der Bundesländer

Lea Pfeffermann-Goehl (Göttingen): Konsensorientierte Politik – Johannes Rau und die Ruhrkonferenz

Moderation: Jürgen Mittag (Köln)

Panel III: Bildung, Migration und Wissenschaft

Sara Marie Demiriz (Düsseldorf): Betreuung, Bildung und Beteiligung. Migration und Teilhabe in der Amtszeit Kühn/Rau (1966–1998)

Dieter Bathen (Duisburg / Essen): Vorstandsvorsitzender der Johannes-Rau-Forschungsgemeinschaft: Johannes Rau und die außeruniversitäre Forschung

Moderation: Wolfgang Merkel, Berlin

Abendveranstaltung: Johannes Rau – Erinnerung und Vermächtnis: Zeitzeugen:innen im Gespräch mit Rüdiger Frohn, Christoph Habermann, Philipp Heß, Reiner Hoffmann, Dietmar Nietan und Birgit Zoerner

Moderation: Gunilla Budde (Oldenburg)

Panel IV: Johannes Raus Perspektiven auf Zukunft und Versöhnungsarbeit

Jakob Erichsen (Berlin): Die Zukunft als Argument. Über die Rolle von Zukunftsvorstellungen in ausgewählten Beiträgen Johannes Raus

Uri Robert Kaufmann (Essen): Johannes Rau und die jüdische Gemeinschaft in Nordrhein-Westfalen

Moderation: Guido Thiemeyer (Düsseldorf)

Panel V: Umweltpolitik

Felix Lieb (München): „Ich möchte nicht mit den Grünen koalieren.“ Johannes Rau und seine Rolle in den Koalitions- und Ökologiedebatten der Bundes-SPD

Christian Möller (Bielefeld): Eintracht und Zwiespalt. Umweltbewegung und politische Teilhabe in der Ära Rau (1978–1998)

Moderation: Anja Kruke (Bonn)

Panel VI: Neue Zugänge zum Leben und Werk von Johannes Rau

Heiner Flues (Wuppertal): … und das Leben in die Hand genommen: Der Weg des Johannes Rau zum Abgeordneten im Landtag Nordrhein-Westfalen (1948–1958)

Tom Hillebrand (Bonn): Johannes Rau im Archiv

Moderation: Lars Bluma (Wuppertal)

Abschlussdiskussion

Anmerkungen:
1 Quellen und Literatur: Wolfgang Gröf / Sabine Kneib (Hrsg.), Johannes Rau. Ein Politikerleben in Briefen, Reden und Bildern, Bonn 2011; Rüdiger Reitz, Manfred Zabel (Hrsg.), Johannes Rau. Lebensbilder, Gütersloh 1992; Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hrsg.), Bundespräsident Johannes Rau. Reden und Interviews, Berlin 1999ff; SPD-Landesverband NRW (Hrsg.), Johannes Rau. Ausgewählte Reden und Beiträge, Düsseldorf o.J.; Jürgen Mittag / Klaus Tenfelde (Hrsg.), Versöhnen statt spalten. Johannes Rau: Sozialdemokratie, Landespolitik und Zeitgeschichte, Oberhausen 2007 (aus Beiträgen zu einem wissenschaftlichen Symposium des Instituts für soziale Bewegungen der Ruhr-Universität Bochum entstanden); Nikolaus Schneider (Hrsg.), „…weil ich gehalten werde“. Johannes Rau – Politiker und Christ, 5. überarb. Aufl., Holzgerlingen 2006; Rolf Kleine, Matthias Struck, Johannes Rau. Eine Biographie, München 1999; Wolfram Bickerich / Jürgen Leinemann / Hans Leyendecker, Bruder Johannes. Herausforderer Rau, Hamburg 1986; etc. Hinweis: Ein am 12.04.2023 in H/SOZ/KULT bereits erschienener Bericht fasst im Wesentlichen nur die Vorträge der Referent:innen zusammen. Der nachfolgende Bericht ergänzt dies durch die teils recht intensiven und auch kritischen Beiträge und Diskussionen im Verlauf der Tagung selbst sowie weiterführende Verweise. Vgl. Tagungsbericht: Erinnerung, Verantwortung und Zukunft. Johannes Rau (1931–2006) und sein Wirken in politischer und wissenschaftlicher Perspektive, In: H-Soz-Kult, 12.04.2023, <www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-135399> (14.6.2023).
2http://www.bundespraesident.de/Reden-und-Interviews/Berliner-Reden-%2C12090/Berliner-Rede-2000.htm (14.6.2023).
3 Vgl. u.a. Stefan Goch (Hrsg.), Strukturwandel und Strukturpolitik in Nordrhein-Westfalen, Münster 2004; ders., Eine Region im Kampf mit dem Strukturwandel, Bewältigung von Strukturwandel und Strukturpolitik im Ruhrgebiet, Essen 2002; ders., Im Dschungel des Ruhrgebiets (Stiftung Bibliothek des Ruhrgebietes - Schriften 14), Bochum 2004.
4 Vgl. Felix Lieb, Arbeit und Umwelt? Die Umwelt- und Energiepolitik der SPD zwischen Ökologie und Ökonomie 1969-1998, Berlin 2022.
5 Johannes Rau, Lust auf Zukunft. Reden, Essen 2006 (ausgewählt und eingeleitet von Elisabeth Domansky, hrsg. von Bodo Hombach, Fritz Pleitgen und Jürgen Rüttgers); Deutsche Umweltstiftung (Hrsg.), zukunftsverantwortung. Reden von Bundespräsident Johannes Rau zu Natur- und Umweltschutz, München 2007.
6 V.a. Johannes Rau, Sammlung Personalia, in: Archiv der sozialen Demokratie, Bonn.
7 Vgl. a.a.O., Ahlen 7867; Wolfgang Gröf / Sabine Kneib (Hrsg.), Johannes Rau, S. 95ff, 98ff.

https://www.fes.de/geschichte/veranstaltungen/johannes-rau-tagung-und-abendveranstaltung
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