„Von Rohem und Gekochtem“. Interdisziplinärer Workshop für eine Standortbestimmung der mediävistischen Wissensgeschichte

„Von Rohem und Gekochtem“. Interdisziplinärer Workshop für eine Standortbestimmung der mediävistischen Wissensgeschichte

Organisatoren
Anne Greule, Juniorprofessur für die Geschichte des Frühen und Hohen Mittelalters Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August-Universität Göttingen; Maria-Elena Kammerlander, Professur für Mittelalterliche Geschichte II, Universität Freiburg im Breisgau
Ort
Freiburg im Breisgau
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
28.04.2023 - 29.04.2023
Von
Anne Greule, Juniorprofessur für die Geschichte des Frühen und Hohen Mittelalters Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August-Universität Göttingen; Maria-Elena Kammerlander, Professur für Mittelalterliche Geschichte II, Universität Freiburg im Breisgau

Wie operationalisieren wir in der Mediävistik die theoretischen Konzepte der Wissensgeschichte? Sicherlich helfen methodische Überlegungen aus bereits geschriebenen Wissensgeschichte(n) weiter, doch bleiben konkrete Zugänge und Methoden oft unklar, da das wissensgeschichtliche Theorieangebot vielfach eher implizit verarbeitet wird. In der Forschungspraxis finden sich sehr unterschiedliche Herangehensweisen, sodass das „proprium“ einer mediävistischen Wissensgeschichte kaum definiert werden kann. Ende April 2023 fand sich in Freiburg im Breisgau eine Arbeitsgruppe von sechs Mediävist:innen zusammen, um die Spezifik und das Erkenntnispotenzial einer mediävistischen Wissensgeschichte zu erörtern. Zu diesem Zweck war der Workshop bewusst als ein kleiner Arbeitskreis konzipiert worden. Die Teilnehmenden gingen von ihren eigenen Forschungsprojekten aus, um geteilte wie eigene methodische Probleme und Prämissen zu diskutieren.

Zur Eingrenzung der Diskussion wurde der Fokus dezidiert auf die Quellen gelegt, was ANNE GREULE (Erfurt) einleitend erläuterte. Die Kernfrage lautete: Wie lässt sich für eine bestimmte „Quelle“ (einen Text, ein Bild, ein Objekt etc.) eine wissensgeschichtliche Perspektive entwickeln? Der so gewählten Eingrenzung liegt die Hypothese zugrunde, dass das ‚spezifisch Mittelalterliche‘ innerhalb einer langen, globalen Geschichte des Wissens sich in den zeitgenössischen Quellen materialisiere. Es seien die spezifisch mittelalterlichen kulturellen Gegebenheiten, die eine Quelle so und nicht anders hervorbrächten. Die Quelle als Ausgangs- und Mittelpunkt einer Wissensgeschichte des Mittelalters bringe eine Fokussierung auf die Überlieferung in ihrer Materialität, die in ihrer Engführung der Weite des Wissensbegriffs produktiv entgegenwirke. Die Quelle materialisiere explizites und implizites Wissen und verweise auf Praktiken des Wissens, etwa Ordnungsvorstellungen und Visualisierungstechniken. Sie integriere zudem die Historischen Grundwissenschaften und den material turn in die Wissensgeschichte und bilde den notwendigen perspektivischen Kontrapunkt zur inhaltlichen Analyse. Schließlich erleichtere sie den interdisziplinären Austausch, da ausgehend von gemeinsamen wissenssoziologischen Grundannahmen fachspezifische Fragen und Kompetenzen auf einen geteilten Gegenstand – die „Quelle“ – gerichtet werden könnten. MARIA-ELENA KAMMERLANDER (Freiburg) fügte hinzu, dass es in diesem Zusammenhang einer Diskussion über Begrifflichkeiten und Analyseinstrumentarien bedürfe. Beispielsweise sei unklar, wie mit forschungspraktischen Einteilungen des Wissens etwa in „religiöses Wissen“, „gelehrtes Wissen“ oder „administratives Wissen“ umzugehen sei, die primär nach inhaltlichen Kriterien gewählt würden. Anstelle solcher letztlich ideengeschichtlichen Einteilungen sei möglicherweise eine wissensgeschichtliche Kategorisierung zu favorisieren, die das Wissen etwa funktional bestimme („Orientierungswissen“, „Handlungswissen“...). Ziel dieses Workshops, so hob sie abschließend hervor, sei es nicht, der Wissensgeschichte ihre Freiheit zu rauben, indem sie streng auf Forschungsthemen und Methoden zugeschnitten werde. Vielmehr gehe es darum herauszuarbeiten, was eine mittelalterliche Wissensgeschichte gegenüber anderen Feldern der Kulturwissenschaften auszeichne, und dabei der mittelalterlichen Überlieferung gerecht zu werden.

Der erste Beitrag von MARCEL BUBERT (Münster) lieferte die dafür notwendigen methodologischen Grundüberlegungen, indem er sich kritisch mit dem von Philipp Sarasin 2011 veröffentlichten Schlüsseltext „Was ist Wissensgeschichte?“ auseinandersetzte. In diesem geht Sarasin von drei „Dimensionen von Zeichensystemen“ aus: „rationales Wissen“ (Wissenschaft), „Glaubenssysteme“ und „Kunst“. Erstere ist für Sarasin der primäre Gegenstand der Wissensgeschichte. Diese von Sarasin zwar nur als pragmatische Einteilung verstandene Kategorisierung bringe für die Mediävistik dennoch einen Widerspruch zu der Sarasin’schen Forderung, die Grenzziehungen der Zeitgenossen zu untersuchen, so Bubert. Denn gerade hier führe die a priori-Einteilung dazu, die charakteristisch mittelalterliche Verschränkung von Religion und Wissen nicht adäquat untersuchen zu können. Auch sei nicht-wissenschaftliches Wissen von der Einteilung nicht ausreichend abgedeckt. Vor diesem Hintergrund müsse eine mediävistische Wissensgeschichte berücksichtigen, dass sich in den mittelalterlichen Jahrhunderten verschiedene Wissenskulturen auf engem Raum befinden konnten, in denen ein und dieselbe Sache unterschiedliche Bewertungen erfuhr. Bubert argumentierte, dass gerade diese Pluralität epistemischer Ordnungen ernst zu nehmen sei, wenn Mediävist*innen das Wissen der mittelalterlichen Zeitgenossen konsequent historisieren wollten. Nur so könnten Axiome wie die Seinsgebundenheit und die Prozesshaftigkeit von Wissen berücksichtigt werden. Die Diskussion des Beitrags hielt fest, dass eine mediävistische Wissensgeschichte „Wissen“ als „res“, nicht als „vox“ zu denken habe, mithin auch das implizite, nicht bewusste Wissen zu ergründen sei – nicht nur das ausdrücklich so bezeichnete. Zudem sei die Erforschung des Wissens von Moralurteilen zu trennen: (Mittelalterliches) „Wissen“ müsse nicht unbedingt heutigen Vorstellungen vom Schönen, Wahren und Guten entsprechen.

HANNA NÜLLEN (Halle) brachte ihre Erfahrungen aus ihren Forschungen über Stadtbücher in die Diskussion. Ihr wissensgeschichtlicher Zugriff auf diese mittelalterliche Quelle zeichnet sich durch eine Kombination praxeologischer und systemtheoretischer Ansätze aus. Letztere zeigen sich darin, Gesellschaft als Kommunikationssystem zu verstehen. Die in den Stadtbüchern zu beobachtenden Praktiken reduzierten die Komplexität der Buchumwelt, stellten beschränkte Ordnungen her und ermöglichten gleichzeitig Anschlusskommunikation. Grundsätzlich gehe es darum herauszuarbeiten, was in einem administrativen Kontext für wahr gehalten wurde, wie dies plausibilisiert wurde und in welchem Verhältnis Wissen und Handeln standen. Um dem auf die Spur zu kommen, seien das Schreiben, das Ordnen und das Nutzen der Bücher zu untersuchen, wie auch das in ihnen festgehaltene Wissen. Dass die Bücher Wissen für Amtsträger speichern sollten, sei in ihnen explizit festgehalten. Räumlich-soziale Ordnungsvorstellungen spiegelten sich etwa in Listen wider. Die Plausibilisierungsstrategien der Verfassenden hätten sich auch an ihren Rezipienten ausgerichtet. Dieses Wechselverhältnis verweise auf die Prozesshaftigkeit administrativer Wissensproduktion. Mit Blick auf die Fragen des Workshops könne man bei den primären Inhalten der Stadtbücher zwar durchaus von „administrativem Wissen“ sprechen, da es diesem Produktionskontext entspringe. In seiner Konsequenz beinhalte es aber mehr, da es, neben anderen Machtfragen, auch entscheide, wer zur Stadtgemeinschaft gehöre.

Der Philosophiehistoriker JONAS NARCHI (Heidelberg) stellte in seinem Beitrag zur Diskussion, ob die philosophische Methode der Konstellationsforschung ein auch für die mediävistische Wissensgeschichte nützlicher Zugang sein könne. Die Konstellationsforschung versuche einen dritten Weg zwischen Historismus (Reduktion philosophischer Argumente auf ihre historischen Bedingungen nach Art einer Meinungsgeschichtsschreibung) und Logizismus (Reduktion philosophischer Argumente auf ihren systematischen Gehalt ohne Berücksichtigung der historischen Bedingungen) zu entwickeln, um damit einerseits Ideen in ihrem spezifischen systematischen Kontext zu verstehen, andererseits diese Ideen auch als Teil einer langen Problemgeschichte zu würdigen. Dafür werden Denker:innen bzw. Positionen in ihren jeweiligen Argumentationskonstellationen untersucht; anstelle eines „genialen Einzeldenkers“, der als vermeintlicher Solitär Ideen produziere, erscheine ein Netz von Denker:innen bzw. Denkmöglichkeiten. Diese Herangehensweise erläuterte NARCHI anhand seines Forschungsprojektes zu den Trinitätsdiskursen des 12. Jahrhunderts, in welches er nicht nur philosophisch-theologisches, sondern auch nicht-wissenschaftliches (etwa liturgisches) Schrifttum sowie Bildquellen in die Analyse einbezieht. Einen wesentlichen Berührungspunkt mit wissensgeschichtlichen Anliegen sieht er in der von der Konstellationsforschung zugrunde gelegten Hypothese, dass ein:e einzelne:r Denker:in nur in Beziehungen gedacht werden könne. Dies entspreche zumeist auch der Selbstsicht mittelalterlicher Individuen, die sich beispielsweise über ihre Standes-, Ordens- und andere Gruppenzugehörigkeiten definierten. Den Ansatz der Konstellationsforschung, Argumente stets als Reaktionen auf vorangegangene Zeitprobleme mit konkreter Lebensbedeutung und damit als historisch bedingt anzusehen, sieht Narchi als weitere Übereinstimmung mit wissensgeschichtlichen Prämissen. Man vermeide damit auch – so ein weiteres geteiltes Anliegen – rein ahistorische Bewertungen von Wissen. In der Diskussion wurde zudem deutlich, dass so Konflikt- und Distinktionslogiken besser erarbeitet werden könnten. Indem die Konstellationsforschung auch die „roads not taken“ sichtbar mache, werde die Genese dominanter Ideen aus einer Vielzahl an Alternativen heraus einsichtig. Die Befragung von Argumenten auf ihre konkreten Entstehungsbedingungen bringe schließlich eine besondere Konzentration auf die handschriftliche Überlieferung mit sich.

GION WALLMEYER (Bielefeld) präsentierte seinen wissensgeschichtlichen Zugriff auf ausgewählte Portolankarten und versuchte damit semi-literate Milieus neben den üblicherweise prominent behandelten Gelehrten zu erschließen. Er erarbeitete beispielhaft, wie das praktische Wissen von Seeleuten von den Kartenzeichnern in visuelles Wissen übersetzt wurde, das im Anschluss wieder zur Seefahrt genutzt wurde. Die Portolankartographie könne als „Austauschzone“ zwischen diesen beiden Wissenskulturen gedacht werden, da die Karten über eine doppelte Zeichenbedeutung von Seeleuten einerseits, von Kartographen andererseits unterschiedlich interpretiert werden konnten. Die von Wallmeyer vorgestellten Karten vermochten es somit, zwei verschiedene epistemische Gewohnheiten vereint abzubilden. Überdies konnte er zeigen, wie die Kartographen sich über bestimmte Darstellungsweisen von konkurrierenden Zeichnern absetzen konnten. Er brachte zwei zentrale Überlegungen in die Diskussionen ein: Der Begriff der „Kreolsprache“ ermögliche es, die in der Karte zum Ausdruck kommenden Übersetzungsleistungen zu benennen und diese kontextgerecht zu untersuchen. Es handele sich um eine spezifische Art des Wissenstransfers. Des Weiteren verdeutlichte Wallmeyer, dass gerade im quellenkritischen Umgang mit den Portolankarten kunsthistorische Fragen rund um die Rezeptionsästhetik das Verständnis der Praktiken maßgeblich förderten. Erst mit den Kenntnissen um diese Praktiken lasse sich das Wissen in den Karten erfassen.

Was zeichnet die auf dem Workshop diskutierten wissensgeschichtlichen Projekte aus? Zunächst teilen sie theoretische Grundsätze: Wissen als diskursives Produkt erfordert die Wertneutralität der Historiker:innen, wenn sie die historischen Kontexte wissenschaftlich untersuchen wollen, in denen Menschen dieses Wissen produzierten. Diese Objektivität wird je nach Kontext stark herausgefordert, etwa bei anti-jüdisch durchdrungenen Wissensbeständen. Der theoretische Grundsatz der Seinsgebundenheit des Wissens schlägt sich praktisch vor allem in den sozialen Kontexten nieder, in denen Menschen ihr Wissen produzierten, speicherten und vergaßen. Damit bringt das gesamte Spektrum menschlichen Handelns Wissen hervor: Menschen distribuieren Wissen. Sie halten dieses Wissen aber auch gezielt zurück. Je nach Anwendungskontext komprimieren und entfalten sie ihr Wissen. Sie stabilisieren und transformieren ihre Wissensbestände. Auf die hier vorgestellten Projekte gemünzt: Mittels der Stadtbücher ließ sich administratives Wissen produzieren und in meist engen Personenkreisen distribuieren, gleichzeitig aber auch vor äußeren Zugriffen zurückhalten. Je nach Publikum komprimierten Gelehrte ihr Wissen über die Trinität oder sie entfalteten dieses Wissen in hitzigen Debatten, um ihr Gegenüber zu überzeugen. Kartographen stellten ihr Wissen über die See bereit, wenn sie es in Karten stabilisierten, und sie transformierten ihre Wissensbestände, wenn die atlantische Expansion sie vor neue Herausforderungen stellte.

Mit dem Distribuieren und Zurückhalten, dem Komprimieren und Entfalten, dem Stabilisieren und Transformieren wurden drei Begriffspaare für den Umgang mit Wissen aufgestellt, die als Praktiken durchaus ineinander verschränkt auftreten können und das Wissen als ihren Fluchtpunkt haben. Diese analytische Trias auf die mittelalterlichen Quellen anzuwenden, bedeutet, diese auf ihre zeitspezifischen Produktionsbedingungen und -mechanismen zu befragen. Zugleich wird damit die Frage adressiert, welche Funktion eine bestimmte Quelle für die Produktion von Wissen hatte. Damit ergibt sich eine vorläufige Antwort auf die zu Beginn gestellte Frage, wie wir in der Mediävistik eine wissensgeschichtliche Frage operationalisieren können. Vor diesem Hintergrund korrigierte JONAS NARCHI das Etikett des Workshops einer „History of Knowledge“ folgerichtig zu einer prozessorientierten „History of Knowing“, die Wissen nicht als vermeintlich festes Ergebnis, sondern als historisch bedingten Prozess begreift.

Mit diesen Ergebnissen möchten wir uns an der aktuell geführten Forschungsdebatte über die Chancen und Grenzen einer Wissensgeschichte des Mittelalters beteiligen. Dafür haben wir zum Abschluss des Workshops eine Tagungsprogrammatik erarbeitet, auf der quellennah auszuloten sein wird, wie wir wissensgeschichtliche Prozesse beschreiben können und dabei der Pluralität mittelalterlicher Wissenskulturen gerecht zu werden. Diesem Workshopbericht folgt im Januar 2024 ein Call for Papers, mit dem wir interessierte Mediävist:innen herzlich einladen möchten, im Rahmen der anvisierten interdisziplinären Tagung im Frühjahr 2025 gemeinsam über das ‚Rohe und das Gekochte‘ weiter nachzudenken.

Konferenzübersicht:

Anne Greule (Erfurt) / Maria Kammerlander (Freiburg): Einführung

Marcel Bubert (Münster): Wissensgeschichte des Mittelalters: Methodologische Fragen und Perspektiven

Hanna Nüllen (Halle-Wittenberg): Stadtbücher als Quelle der Wissensgeschichte. Informationsverarbeitung und Wissensproduktion in der administrativen Schriftlichkeit des späten Mittelalters
Jonas Narchi (Heidelberg): Die Methode der Konstellationsforschung: Mögliches Instrumentarium einer (mediävistischen) Wissensgeschichte?

Gion Wallmeyer (Bielefeld): Portolankartographie als Austauschzone

Synthese. Zur Operationalisierung wissensgeschichtlicher Forschungsfragen

Problemtableau, Prämissen und Thesen

Abschlussdiskussion und Ausblick

Kontakt

maria.kammerlander@geschichte.uni-freiburg.de
Professur für Mittelalterliche Geschichte II
Historisches Seminar der Universität Freiburg
79085 Freiburg i. Br.

anne.greule@uni-erfurt.de
Professur für Mittelalterliche Geschichte
Postfach 90 02 21
99105 Erfurt

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