Nachdem die erste Tagung des DFG-Netzwerkes „Lautsphären des Mittelalters“ die Frage nach den „Dimensionen des Akustischen in Texten, Bildern und Artefakten des Mittelalters“ respektive den Prozessen medialer Transformation des Ephemeren ins Zentrum gerückt hatte, wagte sich diese zweite (hybrid veranstaltete) Tagung an die Grenzen des Auditiven vor und fragte – angesichts der zeitgenössischen Annahme eines eher als fluide und situativ charakterisierten Sensoriums – nach der Bedeutung des „Hörens mit allen Sinnen“, also innerhalb multisensorischer Gefüge und damit verbundener Wahrnehmungsmuster und Bedeutungszusammenhänge.
Eingangs zeigten die Organisatorinnen das Potenzial einer interdisziplinär angelegten Kulturgeschichte multi- und intersensorischer Beziehungen des Hörens auf. JOANNA OLCHAWA (Frankfurt am Main) machte am Beispiel des Tympanons am Nordportal der Würzburger Marienkapelle (um 1390) und der dort im „unkonventionellen Bildformular“ dargestellten „Conceptio per aurem“, der Empfängnis Mariens durch das Ohr, auf die zentrale Bedeutung des Hörens im Mittelalter aufmerksam. Dieses sei – obwohl eigentlich an zweiter Stelle der Sinneshierarchie verortet – in der Kommunikation, im sozialen Handeln insgesamt und insbesondere in Glaubensfragen vorrangig gewesen und offensichtlich durch multisensorische Strategien und Inszenierungen intensiviert worden. Für deren Untersuchung sei eine Schärfung der Theorie- und vor allem Begriffsarbeit notwendig. Darauf aufbauend vermaß JULIA SAMP (Aachen) die Möglichkeiten der Untersuchung multisensorischer Erfahrung am Beispiel der Konstruktion von Zeit und Raum aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive: Die Einheit in der Vielfalt der Sinne sei mehr als das Ganze ihrer Teile, vielversprechend erscheine daher eine Verschiebung des Fragehorizonts weg von der Hierarchie der Sinne hin zu in multisensorischen Relationen geschaffenen Sinnes-Ordnungen und ihren Kontexten. Dafür brauche es angemessene methodische Herangehensweisen und vor allem den Blick über die Disziplingrenzen der Geistes- und Kulturwissenschaften hinaus.
Im Fokus des ersten der beiden musikwissenschaftlichen Vorträge von KLAUS PIETSCHMANN (Mainz) stand die Verklanglichung der Elevation in der frühneuzeitlichen Messe. Die damit verbundenen Rituale sprachen alle Sinne an, seit der Mitte des 15. Jh. sei aber die Elevation, in Anlehnung an die Musik der Engel, zunehmend musikalisch inszeniert worden. Anhand des außergewöhnlichen, aber bisher kaum thematisierten Beginns von Josquin de Prez‘ Benedictus-Komposition „Missa pange lingua“ (kurz vor 1513) verdeutlichte Pietschmann den Bezugsreichtum der liturgischen Mehrstimmigkeit dieser Zeit und deren spirituelle wie auch von diesem entkoppelte Entfaltungsräume. Insbesondere mit Blick auf andere Überlieferungskontexte jener Missa, etwa im Occo-Codex (um 1515), konstatierte er die Vereinigung von Gebrauchscharakter und privater Andacht im Sinne eines „Hearing with the eyes“, die in den kostbaren Musikhandschriften angelegt sei. Intermedial und multisensorisch sind auch die Tafelstücke zu verstehen, denen sich MARGRET SCHARRER (Bern) widmete. Als Reflexion der Festkultur Burgunds und Savoyens handele es sich hierbei um Instrumente des „Machttheaters der Bankette“, die das Publikum (auf sensorischem Wege) in Staunen versetzen sollten – so etwa die vergleichsweise zahlreich erhaltenen Bénédicité-Messer, die kurze musikalische Notationen von „Benedictio mensae“ (Tischsegen) und „Gratiarum actio“ (Dankgebet) trugen. Sowohl die darauf überlieferten Repertoires als auch darüber vermittelte Verweise auf Bankette als musikalisch gestaltete und erlebbare Rituale sind noch nicht untersucht worden. Über die Verwendung der Tafelstücke bei der Tischsegnung, Danksagung wie auch beim Auftragen und Tranchieren des Fleisches, die Scharrer als feste, allen voran musikalisch inszenierte Bestandteile höfisch-ritualisierter Mahlzeiten kennzeichnete, sei das Hören in Form von Gesang und Gebet mit dem Sehen, Riechen und Schmecken verwoben und die Spiritualität der Besitzer:innen zur Schau gestellt worden.
HEIKE SCHLIE (Krems an der Donau) eröffnete die kunstwissenschaftlich ausgerichtete Sektion und brachte zwei bisher getrennt betrachtete Perspektiven der mediävistischen Kunstgeschichte (Vorgang der Imagination, Bildrezeption der fünf Sinne) zusammen: Indem Rezipient:innen mithilfe innerer Vorstellung selbst Klänge erzeugten, würden Bilder zu „Klangerzeugern ohne physischen Klang“, denn diese bzw. das Sehen jener sei(en) – in Anlehnung an das neurowissenschaftliche Konzept der Spiegelneuronen – als Imaginationen auslösender Trigger zu verstehen. Dies führte sie für den Reliefzyklus im Kloster Santo Domingo de Silos (Spanien, um 1150) aus: Die dort dargestellten Ereignisse – die „Thomasprobe“ und musizierende Spielleute – könnten bei den Betrachter:innen sowohl haptische wie auditive Imaginationen ausgelöst haben. Eine weitere intersensorische Vernetzung erkundete MARTA BATTISTI (Grenoble), die sich mit dem „Hören mit dem inneren Mund“ beschäftigte. Während in der älteren Überlieferung der Inspiration des Hl. Gregor, etwa bei Paulus Diaconus, diese im Bild der mit Worten „fütternden“ Taube des Hl. Geistes gefasst wurde, erscheint in jüngeren Darstellungen die ins Ohr flüsternde Taube, die zum zentralen Attribut christlicher Schreiber wurde. Battisti fragte nach den Kontexten dieser Verschiebung vom Mund hin zum Ohr: Entsprechend christlicher Konzeptionierungen und Priorisierungen von Auralität könne das Lesen als ein inneres Hören verstanden werden, bei dem wiederum das gelesene Wort – nach Augustinus – in der ruminatio durch einen inneren, spirituellen Mund geschmeckt werde.
Im Abendvortrag widmete sich FRANK HENTSCHEL (Köln) der „versalzenen Musik“, genauer: der sinnlich konnotierten Umschreibung von Musik bzw. Gesang. Was bisher als poetische Metaphorik verstanden wurde, entlarvte er anhand einer Vielzahl von Texten – etwa von Augustinus, Guido von Arezzo, Martianus Capella und Jacobus de Hispania – als bewusst eingesetzte cross-modale Korrespondenzen, die er zudem hinsichtlich ihrer wahrnehmungstheoretischen und bildlichen Traditionen verortete. Besonders taktil, visuell und gustatorisch assoziierte Begriffe seien in diesem Zusammenhang anzutreffen. Hentschel forderte daher, auf das (Multi-, Inter-)Sensorische abhebende Beschreibungen in ihren Bezügen und damit verbundene musiktheoretische Konzepte und Traditionslinien ernster zu nehmen.
Mit NINA-MARIA WANEK (Wien) und ihrer Betrachtung des Umgangs mit Einstimmigkeit in byzantinischen Klangwelten, deren Kontrast zur lateinisch-westlichen Mehrstimmigkeit und Potenzial (emulierte Mehrstimmigkeit, ambulatorisches Singen) es noch zu erforschen gelte, erfolgte ein „Ortswechsel“ nach Byzanz. Am Beispiel der sogenannten Cheironomie – ein System, um durch Handzeichen eine Melodielinie und deren Besonderheiten anzuzeigen – untersuchte sie das entstehende Zusammenspiel von Haptik, Akustik und Optik, mit dem Ziel, die byzantinische Kirchenmusik „greifbarer“ zu machen. Insgesamt sei nicht nur von völlig anderen Hörgewohnheiten auszugehen, sondern auch von der Herausbildung einer eigenen (musikalischen) Identität auf Basis der Verbindung von Sehen, Hören und Fühlen. MARIE-EMANNUELLE TORRES (Marseille) rückte dagegen die politische Sphäre in den Fokus und untersuchte die audio-visuelle Gestaltung des kaiserlichen Zeremoniells. Dieses war, angesichts der allein von Gott verliehenen und daher „unsichtbaren, unantastbaren und unhörbaren“ kaiserlichen Autorität, ein wichtiges Element der kaiserlichen Selbstdarstellung, welches nicht nur Inszenierungs-, sondern auch Legitimierungscharakter hatte. Mithilfe von der Liturgie entlehnten Musik und Ritualen (etwa stilles Verharren des Kaisers in Kombination mit bewusst inszenierten Lautäußerungen von Volk, Klangautomaten und engelsgleichen Sängern) seien innerhalb der politischen Sphäre mit dem Göttlichen assoziierte Resonanzen, sei eine audio-visuelle „Theophanie“ erzeugt worden.
THOMAS GREENE (Dahlonega, Georgia) lenkte den – nunmehr geschichtswissenschaftlichen – Blick auf das westliche Kaisertum und die Rolle des Sensorischen im Kontext der Thronfolge Ludwigs des Frommen. Gestützt auf narrative Texte, wie etwa Thegans Gesta Hludowici (835–837) machte er das Sensorium als Mittel der Herrschaftsfestigung Ludwigs aus. So sei in einem Treffen Ludwigs mit Papst Stefan IV. ein sensorischer Übergang vom Sehen zum Berühren, zum Hören, beim Bankett sogar zum Riechen und Schmecken erkennbar. Daher sei eher bzw. in Ergänzung zur üblicherweise hierarchischen Ordnung von Sinneswahrnehmungen von einer Verschränkung der Sinne auszugehen. Boris GÜBELE (Göttingen) widmete sich der Akustik, insbesondere der vox, im Werk Hildegards von Bingen. Deren Bedeutung beruhe maßgeblich auf alttestamentlichen Aussagen zur Prophetie sowie zum Hörsinn in der „Regula Benedicti“. So nehme die vox bei Hildegard eine zentrale Rolle im Kontext der Schöpfungs- und Heilsgeschichte ein, denn erst durch das Wort entfaltet sich das göttliche Werk. Die Schöpfung erhalte in Adam wiederum selbst eine Stimme. Für Hildegard sei die Stimme zudem von funktionaler, kommunikativer Bedeutung – ihr Werkzeug: Mit „trompetengleicher“ Stimme setze sie sich ab von der mit Schwäche assoziierten Stummheit. Auch JÖRN R. CHRISTOPHERSEN (Berlin) kennzeichnete verschränkte Sinneseindrücke als Mittel der Alteritätskonstruktion und Exklusion und fragte nach den Funktionen der Schilderungen erlebten Hörens, und zwar der 1510 in Berlin öffentlichkeitswirksam inszenierten Hinrichtung von des Hostienfrevels angeklagter Juden. Deren als „schauderhaft“ beschriebene Akustik mache – ähnlich wie Beschreibungen des Gestanks der Slawen, von Leichen oder brennender Körper von Häretikern – den Text „greifbarer“ und diene als Erklär-Kategorie angesichts prekärer Ordnungen. In der Kontrastierung unterschiedlicher Auslegungen von Sinneserfahrungen zeigte Christophersen so auch deren performative Natur, durch die „der Andere auch anders gemacht“ wurde, was im Deformationsprozess von Marter und Verbrennung – eine Form der ultimativen Körperaneignung – einen Höhepunkt finde.
HANNAH POTTHOFF (Chemnitz) wandte sich mit literaturwissenschaftlicher Zielrichtung den audio-visuellen Eindrücken eines in der mittelalterlichen Literatur – wie etwa im Eneasroman oder dem Nibelungenlied – oft bemühten, aber bisher wenig beachteten Phänomen zu: klirrenden Schwertern und sprühenden Funken. Die Funken – assoziiert mit enormem Kraftaufwand – ordneten nicht nur das Kampfgeschehen, sondern ergänzten auch den ephemeren Charakter der beschriebenen Lautentfaltung, sodass die audio-visuelle Kombination (auf inter- bzw. transsensorischem Wege) eine Visualisierung von Lautlichkeit erbringe und ggf. sogar die „Lautstärke“ der klirrenden Schwerter verstärke. MORGAN POWELL (Zürich) hinterfragte die im Bestiaire d’amours von Richard de Fournival angelegten multisensorischen Reize und legte über diese eine parodistische Ebene des Textes offen, die der Forschung bisher verschlossen geblieben ist. Der multisensorische Reiz bestehe allen voran in der Kombination von geschriebenem Wort, das zudem gleichzeitig visueller wie – in Form der parole – akustischer Reiz sei, und beigegebenen Bildern; aber auch die Beispiele selbst sprächen – bewusst ausgewählt – alle Sinne an. Insgesamt gehe der Text so über die eigenen Gattungsgrenzen hinaus und eröffne eine transgressive Reflexion über die Natur der Sinne und ihre Rolle im Dienste und in der Unterwerfung des menschlichen Willens.
Die von DANIELA WAGNER (Tübingen) geleitete Abschlussdiskussion markierte abschließend vier Felder, in denen die Auseinandersetzung mit dem Hören mit allen Sinnen, mit Lautlichkeit im multisensorischen Kontext vielversprechende Erkenntnisse erwarten lässt: Fragen der Ästhetik und Artifizierung, Akte der Performanz, Kognitionskonzepte und Aufmerksamkeitslenkung sowie Wissen. Grundlegend erscheinen, neben der auf der Tagung angestrebten Interdisziplinarität, der transkulturelle Austausch sowie das Nachdenken über entsprechende Begrifflichkeiten – stets entlang der Grenze von zeitgenössischer Wahrnehmungspraxis und -theorie.
Konferenzübersicht:
Mechthild Fend (Frankfurt am Main): Begrüßung
Joanna Olchawa (Frankfurt am Main) / Julia Samp (Aachen): Einführung in das Thema
Sektion 1: Inszenierungen
Moderation: Martin Clauss (Chemnitz)
Klaus Pietschmann (Mainz): O salutaris hostia. Strategien und Funktionen der Verklanglichung der Elevation in der Messe um 1500
Margret Scharrer (Bern): Auf Messers Klinge – intersensorische Inszenierungen von Benedictio mensae und Gratiarum actio in spätmittelalterlichen Banketten
Sektion 2: Imaginationen
Moderation: Christoph Schanze (Gießen)
Heike Schlie (Krems an der Donau): Auditive Imagination und Virtualität
Marta Battisti (Grenoble): Hearing with the Inner Mouth. Holy Inspiration in Medieval and Early Modern Christian Visual Culture
Abendvortrag und Abendführung
Moderation: Joanna Olchawa (Frankfurt am Main)
Frank Hentschel (Köln): Abendvortrag – Musik mit den Augen geschmeckt. Synästhetische Aspekte in der mittelalterlichen Musiktheorie
Corinna Gannon (Frankfurt am Main): Abendführung – „Mit allen Sinnen“ durch das Städel Museum
Sektion 3: Ritualität
Moderation: Julia Samp (Aachen)
Nina-Maria Wanek (Wien): Einstimmigkeit als Herausforderung und Chance. Byzantinische Klangwelten zum Sehen, Hören und Angreifen
Marie-Emmanuelle Torres (Marseille): A Glimpse of Heaven’s Throne. “Aural-Visual” Theophany in Byzantine Imperial Ritual (IXth-XIIth c.)
Sektion 4: Bedeutungswandel
Moderation: Gerald Schwedler (Kiel)
Thomas Greene (Dahlonega, Georgia): “The World Sings these Deeds”. Sound, the Sensorium, and Regime Change in Ninth-Century Francia
Boris Gübele (Göttingen): Die Posaune Gottes? Zur Bedeutung der Akustik sowie der vox im Schaffen Hildegards von Bingen
Jörn R. Christophersen (Berlin): Akustische Alteritätskonstruktionen und audiovisuelle Exklusion? Multisensorik und Bedeutungszuschreibung bei Ausgrenzungsvorgängen im ausgehenden Mittelalter
Sektion 5: Textualität
Moderation: Almut Schneider (Göttingen)
Hannah Potthoff (Chemnitz): Klirren, bis die Funken sprühen. Audiovisuelle Eindrücke in der hochmittelalterlichen Literatur
Morgan Powell (Zürich): Acoustic Transgressions: the Ear as Locus of Sexual Penetration in Richard of Fournival’s Bestiaire d’amours
Daniela Wagner (Tübingen): Abschlussdiskussion