Die Jahre der Pandemie haben den gesellschaftlichen Zusammenhalt wie auch unsere Sozialsysteme auf die Probe gestellt und die Bedeutung karitativer Einrichtungen neu akzentuiert. Das Italien-Netzwerk der Universität Kassel nahm dies zum Anlass, seinen 9. Italientag unter das Zeichen der Caritas im Sinne der gesellschaftlichen Fürsorge zu stellen. In ihrer Eröffnung verwies INGRID BAUMGÄRTNER (Kassel), die Sprecherin des Italiennetzwerks, auf die Aktualität des Themas, dessen große Tragweite die Vortragenden aus Geschichte, Kunstgeschichte und Linguistik – der Tradition des Italientags zufolge – interdisziplinär und epochenübergreifend erhellten.
Den Auftakt machte PHILINE HELAS (Rom), die über die künstlerische Ausgestaltung des im Frühmittelalter gegründeten Krankenhauses Santa Maria della Scala in Siena referierte. Sie konzentrierte sich auf das Wandgemälde in der sogenannten Sala del Pellegrinaio, dem Pilgersaal, das als umfangreichste Dekoration eines Hospitals vor 1500 anzusehen ist. Sie zeichnete die Rolle der Krankenfürsorge als Teil der christlichen Barmherzigkeit nach und betonte, dass mittelalterliche Krankenhäuser keineswegs nur Orte des Sterbens, sondern auch Orte der Heilung gewesen seien. Die ausgeprägten Bildprogramme in Palästen italienischer Stadtrepubliken der Renaissance wären als Ausdruck des kommunalen Selbstverständnisses zu werten. Christliche Orden stellten das Personal, während die Stadt die Finanzierung übernahm. Die Darstellung im reich ausgeschmückten Krankensaal von Santa Maria della Scala ist nicht nur besonders groß, sondern sie zeugt auch von einem hohen künstlerischen Anspruch. Ärzte sind auf dem Wandgemälde entgegen den Konventionen der Zeit als Akteure dargestellt, was laut Helas auf einen praxeologischen Wandel deutet. So wie Bücher als Attribut des Arztes dienten, wurde das Uringlas zu einem festen Bestandteil des Bildprogramms, das gerade in Siena auch die chirurgischen Fähigkeiten visualisierte. Helas betonte, dass das sienesische Wandbild das älteste sei, das aktiv handelndes medizinisches Personal samt Equipment in den Vordergrund stelle und auf sakrale Symbole verzichte. Das Gemälde entstand in einer Umbruchsphase, in der die Krankenfürsorge auf Privatinitiativen übergeleitet und zunehmend säkularisiert worden sei, bevor sich die christliche Symbolik im Zuge der Gegenreformation erneut ausgebreitet hätte. Die starke Präsenz der Medizin in dem Gemälde war deshalb Helas zufolge Ausdruck einer neuen Laienbewegung.
Anschließend befasste sich FABIAN JONIETZ (München) mit den vielseitigen Verbindungen zwischen Malern und Ärzten im Florenz der Renaissance. Sein Schwerpunkt lag auf den Wechselwirkungen zwischen Farben, Bildern und Menschen. Im interdisziplinären Zugriff versuchte Jonietz die Parallelen zwischen Heil- und Bildkünstlern aufzudecken. Bildern sei in der Vergangenheit nachgesagt worden, sie beeinflussten menschliches Handeln. Gute Bilder, insbesondere christlich-ikonographische Werke, förderten also – so die Annahme – nicht nur gutes Handeln, sondern auch die Gesundung von Menschen. Jonietz arbeitete heraus, dass Maler und Ärzte zumindest in Florenz zusammen mit anderen Berufsgruppen die Zunft der Medici e Speziali bildeten. Charakteristisch waren Überschneidungen in den Tätigkeiten, also etwa Ärzte, die sich auch als Maler betätigten, und Maler, die zu Medizinern avancierten. Die Gründe dafür lagen im Bemühen um finanziellen und sozialen Aufstieg sowie in inhaltlichen Berührungspunkten. So verfügten Maler über Wissen und Fähigkeiten, um Menschen anatomisch korrekt darzustellen. Solche Kompetenzen waren bei der Bebilderung medizinischer Schriften sehr gefragt, so dass der Malkunst ein direkter Nutzen für die Medizin zukam. Angesichts der Bedeutung der Uroskopie im Mittelalter, auf die auch Jonietz rekurrierte, seien Maler etwa zu Rate gezogen worden, wenn uroskopische Lehrwerke realitäts- und farbgetreu zu illustrieren waren. Sie hätten damit wichtige Funktionen im schriftzentrierten medizinischen Wissenstransfer übernommen.
MARELLA MAGRIS (Triest) lenkte den Blick von der Vormoderne weg auf die gesundheitliche Fürsorge im heutigen Italien, deren linguistische und kommunikative Aspekte sie anhand von Impfungen während der COVID 19-Pandemie und darüber hinaus untersuchte. Sie betonte, dass die Vermittlung medizinischer Inhalte nicht allein Aufgabe des medizinischen Fachpersonals, sondern der Gesundheitskommunikation insgesamt sei, um etwa einer zunehmenden Impfskepsis in pandemischen Zeiten zu begegnen. Gerade Italien sei ein solcher Fall gewesen. Magris befasste sich daher mit der Frage, wie das von der deutschen und italienischen Regierung gesetzte Ziel einer möglichst hohen Impfquote in Zeiten abnehmender Impfbereitschaft umgesetzt werden könne. Dabei legte sie ein besonderes Augenmerk auf gesundheitskommunikative Strategien der Persuasion, die sich Gewinn- und Verlustframing sowie emotionale Appelle zunutze machten. Überdies identifizierte sie drei Kategorien der Fürsorge, nämlich die staatliche, familiäre und gesellschaftliche, die jeweils einer anderen Herangehensweise bedurften und unterschiedliche Wirkmechanismen entfalteten. Magris argumentierte, dass eine persuasive (Gesundheits-)Kommunikation selbst in Ländern mit Impfpflicht wie Italien relevant sei, um die Skepsis gegenüber staatlichen Institutionen und obrigkeitlichem Zwang zu überwinden. Gesundheitskommunikation müsse daher immer auf konkrete Zielgruppen ausgerichtet sein, um fürsorglich zu wirken.
Zuletzt sprach CLELIA CARUSO (Kassel) über italienische Vereine im europäischen Ausland nach 1945. Ihr Fokus richtete sich auf die italienische Diaspora in Belgien, nicht ohne klarzustellen, dass die Erkenntnisse mehr oder weniger auf andere westeuropäische Länder wie Deutschland übertragbar seien. Dabei zeichnete sie die vielfältigen Wandlungsprozesse nach. Die Vereine übernahmen die karitativen Aufgaben oft als verlängerter Arm staatlicher, gewerkschaftlicher und kirchlicher Institutionen. Getrieben von dem Gedanken, dass der Aufenthalt im Gastland nur von kurzer Dauer sei, bestand das Karitative vor allem in der Sorge darum, den Emigranten die Rückkehr nach Italien zu ermöglichen und die damit verbundene gesellschaftliche Illusion zu nähren. Doch die Rückkehr blieb nicht selten aus, so dass sich das Aufgabenspektrum der Vereine vom anfänglichen Wirken auf konsularischer Ebene hin zur Organisation von Kultur- und Sportveranstaltungen wandelte. Mit den 1970er-Jahren setzte, so Caruso, allmählich eine Erinnerungsarbeit ein, wobei entsprechende Reformversuche die Vereinsstrukturen kaum veränderten. Der Übergang auf die zweite Migrantengeneration machte die Rückkehrhoffnungen oftmals ganz zunichte, da die in Belgien geborenen Kinder die elterliche Sehnsucht nach einem Land, das sie nie wirklich kennengelernt hatten, nicht teilten. Der Wunsch nach Rückkehr sei zwar wirkmächtig, aber eben doch nur eine Illusion gewesen. Seit den 1990er-Jahren hätten die Vereine vermehrt Erinnerungspolitik betrieben, sich selbst als emanzipatorische Subjekte stilisiert und ihre vermeintliche Unabhängigkeit von Akteuren in Italien betont, auch wenn ihr Selbstbild nur schwer mit den historischen Gegebenheiten in Einklang zu bringen wäre. Letztlich stelle sich die Frage, wie die immer noch bestehenden, rudimentär organisierten Vereine künftig auf die sich aktuell wieder verstärkende Zuwanderung aus Italien reagieren.
Der neunte Italientag, der erneut ein großes Publikum in seinen Bann zog und zu anregenden Diskussionen führte, eröffnete umfassende Einblicke in die Kulturen der Fürsorge beziehungsweise die Culture dell’assistenza. Der internationale Zugang aus mehreren Disziplinen trug dazu bei, vielfältige Schlaglichter auf karitative Institutionen vom Mittelalter bis zur Gegenwart zu werfen und die Komplexität der Fürsorge im Spannungsfeld zwischen Politik, Familie und Gesellschaft zu beleuchten.
Konferenzübersicht:
Ingrid Baumgärtner (Kassel): Einführung
Philine Helas (Rom): Arzt, Apotheker, Chirurg und Priester im Ospedale Santa Maria della Scala in Siena 1440
Fabian Jonietz (München): Krankenheilung durch Künstlerhand. Kunst und Gesundung in der italienischen Frühen Neuzeit
Marella Magris (Triest): Gesundheitliche Fürsorge in Italien: Linguistische und kommunikative Aspekte am Beispiel des Themas „Impfungen“
Clelia Caruso (Kassel): Italienische Diasporagemeinden in Europa nach 1945 – zwischen Betreuung und Selbstorganisation?