HT 2023: Sozialfiguren – eine gesellschaftliche Erscheinungsform zwischen Faktizität und Fiktion im 20. Jahrhundert

HT 2023: Sozialfiguren – eine gesellschaftliche Erscheinungsform zwischen Faktizität und Fiktion im 20. Jahrhundert

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD) (Universität Leipzig)
Ausrichter
Universität Leipzig
PLZ
04107
Ort
Leipzig
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
19.09.2023 - 22.09.2023
Von
Naima Tiné, Geschichte der Neueren und Neuesten Zeit, Universität Greifswald

In der bisherigen Wissenschaftslandschaft wurde das Konzept der Sozialfigur vor allem in der Soziologie angewendet. Ausgangspunkt des Panels unter der Leitung von MAREN MÖHRING (Leipzig) und Annelie Ramsbrock (Greifswald) war die Frage, inwieweit man das Konzept der Sozialfigur fruchtbar um eine historische Perspektive erweitern kann. Für Historiker:innen, so erklärte Möhring in ihren einleitenden Worten, sei es vor allem der Zeitindex, der von Interesse ist: Welche Sozialfiguren wurden zu welchen Zeitpunkten hervorgebracht und warum? Welche verschwanden wann wieder und aus welchen Gründen? Welche Sozialfiguren wurden später re-aktiviert und dabei aktualisiert? Eine Genealogie von Sozialfiguren fokussiert also auf die Prozesshaftigkeit ihrer Herausbildung und auf die Transformationen, die diese Figuren durchlaufen, denn deren Bedeutung und Bewertung kann sich im Laufe der Zeit stark verändern (oder gar ins Gegenteil verkehren). Thematisch schließt eine Untersuchung historisch gebundener Sozialfiguren insofern an das Thema des Historikertags an, als dass sie sich zwischen Realitätsbeschreibung und Fiktion bewegen.

Den Auftakt des Panels machte ANNELIE RAMSBROCK (Greifswald) mit einigen grundlegenden Überlegungen zur Anwendung der Analysekategorie „Sozialfigur“ in der Geschichtswissenschaft, die sie anschließend anhand der Figur des „Süchtigen“ illustrierte. Sozialfiguren seien zugespitzte Darstellungen gesellschaftlicher Problemlagen inklusive einer wertenden Stellungnahme, weshalb sie immer auch eine Orientierungsfunktion im sozialen Handeln hätten. Für die Geschichtswissenschaft, so Ramsbrock, sei deshalb nicht nur die Frage relevant, welche Figur welche konkreten Problemlagen zum Ausdruck bringe, sondern auch, warum bestimmte historische Problemlagen Sozialfiguren hervorgebracht haben (und andere nicht). Der Sozialfigur des „Süchtigen“ näherte sie sich über den Begriff der „Sucht“ als Zuschreibung bestimmter unerwünschter Verhaltensweisen. Als Erklärungscontainer, welcher gefüllt werden müsse, sei der Begriff ein „leerer Signifikant“ im Sinne Ernesto Laclaus, der in hohem Maße einen Kampf um (epistemische) Hegemonie signalisiere. Historisch, argumentierte sie, könne man sich solchen Signifikanten sinnvoll über das Konzept der „Sozialfigur“ nähern. Denn die Signifikanten brauchten Träger, um wirken zu können. Anhand des medizinischen und politischen Umgangs mit Opium, Kokain, Morphium und Heroin im 19. und 20. Jahrhundert in Europa und den USA zeigte Ramsbrock die gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen der Figur des „Süchtigen“, ihre Erscheinungsformen, und die mit ihr begründeten politischen, rechtlichen und auch sozialen Handlungsmaximen. Deutlich wurde dabei, dass sich im „Süchtigen“ stets diskursive Hegemonien verdichteten, weil Sucht als Zuschreibung immer auch ein projektives Machtphänomen sei, das radikal dekonstruiert werden müsse um es sozial deuten zu können.

Wie wirkmächtig und gleichzeitig im Wandel begriffen solche Formen der Subjektivierung sein können, zeigte auch SVENJA GOLTERMANN (Zürich) in ihrem Beitrag zum historischen Wandel der Figur des „Opfers“. Diese sei, so Goltermann, „eine zeitgebundene historische Gestalt“ vor allem des 20. und 21. Jahrhunderts. Im Anschluss an den Soziologen Andreas Reckwitz schlug sie vor „Opfer“ als Sozial- oder Subjektfigur zu begreifen und damit der gesellschaftlichen Normierung und Erwartungshaltung, die an diese Figur geknüpft ist, Rechnung zu tragen. Auch Goltermann ging der Frage nach, welche Diskurse und welches Wissen Grundbedingung für die Figur des Opfers seien und stellte dabei drei Punkte heraus: Erstens kam es mit der Bemühung um die „Zivilisierung“ des Krieges in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu neuen Rechtsformen, die zwischen legitimer und illegitimer Gewalt unterschieden; das Opfer erscheint darin als eine von illegitimer Gewalt betroffene Person. Zweitens wurde der Begriff seit den 1970er-Jahren mit dem Aufkommen der Viktimologie stetig erweitert und geformt. Was schließlich, drittens, eng verknüpft mit dem gesellschaftlichen Verständnis von Gewalt. Hier könne ebenfalls von einer Ausweitung des Konzepts seit den 1980er-Jahren ausgegangen werden, das beispielsweise psychische, sprachliche und emotionale Gewalt mit einschließt. Goltermann schlussfolgerte deshalb, dass es sich bei der Analyse des „Opfers“ nicht um reine Begriffsgeschichte, sondern um epistemologische Fragen handelt. Die Unterscheidung zwischen faktischem und fiktivem Opfer wird irrelevant, sobald man die Subjektperspektive des Opfers einnimmt. Gleichzeitig warnte sie vor einer nachträglichen Zuschreibung von Geschädigten als „Opfer“, da dies in weiten Teilen eine Überschreibung der Selbstwahrnehmung von Zeitgenoss:innen bedeute.

Inwiefern neue Rechtsformen Sozialfiguren zu ihrem Entstehen verhalfen, zeigte auch DETLEF SIEGFRIED (Kopenhagen) in seinen Überlegungen zum „Mitläufer“. Seine politische Aufladung habe der Terminus im Rahmen der Entnazifizierung erfahren, wo die juristische Belastungskategorie zur zentralen Entlastungsmetapher für NS-Täter wurde. Ab den 1950er-Jahren wurde das passive Mitmachen ohne Überzeugung in Bezug auf die BRD zunehmend negativ bewertet – nämlich als egoistisch und verantwortungslos – und mit Begriffen wie Opportunismus und Konformismus gleichgesetzt. Die Figur des „Mitläufers“ gewann mit der zunehmenden Aufarbeitung der Geschichte des Nationalsozialismus Ende der 1970er-Jahre an Bedeutung und wurde schließlich auch in Gegenwartsanalysen gebraucht, so beispielsweise bei Theodor W. Adorno, Peter Brückner oder Rudolf Heberle. An dieser Stelle lässt sich auch Maren Möhrings Feststellung, dass Sozialfiguren immer eine medial vermittelte Erscheinungsform brauchen und als meist intermediales Kompositum einer breiten Öffentlichkeit die Möglichkeit bieten, über Ereignisse und Erfahrungen zu kommunizieren, die von vielen Gesellschaftsmitgliedern geteilt wurden, gut beobachten. Schließlich wurde der Begriff vielfach auch von Künstler:innen und Kulturschaffenden aufgegriffen, die sich mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzten. Aber nicht nur in Bezug auf die zeitgenössische politische Lage oder die Gefahr eines Wiedererstarkens faschistischer Ideologien sprach man von Mitläufern. Eine Renaissance erlebte die Figur schließlich im Kielwasser der Totalitarismusthese nach 1989. Nicht wenige forderten im Zuge dessen, DDR-Bürger genauso wie NSDAP-Mitglieder als Mitläufer einzustufen. Diese neuerliche Wandlung des Begriffs zeigt deutlich, wie gesellschaftlich umkämpft derlei Figurationen waren.

LAURA HAßLER (Potsdam) widmete sich in ihrem Beitrag der „Vorzeigefrau“ innerhalb der extremen Rechten. Zwei Phänomene fasste Haßler unter diesem Begriff zusammen: einerseits den in den 1970er-Jahren geprägten Begriff der „Alibifrau“, andererseits die später aufkommende „Quotenfrau“. Die „Alibifrau“ geht auf ein Konzept von Adrienne Rich zurück: Die männliche Gesellschaft gebe einigen wenigen Frauen Macht, um das System zu stabilisieren und gleichzeitig den Eindruck zu erwecken, Frauen könnten selbiges im gleichen Maße gestalten, wenn sie nur qualifiziert genug seien. Im heutigen öffentlichen Diskurs häufiger gebraucht, ist der Begriff der „Quotenfrau“, der auf Quotierungsregelungen bei der Besetzung von Kaderstellen zurückgeht und impliziert, eine Frau habe eine bestimmte Position allein aufgrund ihres Geschlechts inne. Die soziale Figur der „Vorzeigefrau“ zeichne sich – und darin sei sie besonders hervorzuheben – einzig und allein durch ihr Geschlecht aus. Hierbei ist von besonderem Interesse, wie Frauen auf die Zuschreibung eine „Quoten-“ oder „Alibifrau“ zu sein, reagierten. Wie politisch umkämpft Quotenregelungen infolge derartiger Zuschreibungen waren, zeigte Haßler eindrücklich am Beispiel der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD). Selbst an der neonazistischen Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD), so konstatierte Haßler im Anschluss an diese grundlegenden Überlegungen, sei die Diskussion über die Rolle von Frauen in der Partei nicht spurlos vorbeigegangen. Um dem Vorwurf, die NPD sei eine Partei rückwärtsgewandter Nationalisten etwas zu entgegen, setzte gerade die NPD Jugendorganisation Junge Nationalisten (JN) auf das Kokettieren mit weiblichen Parteimitgliedern, die vermehrt in Pressegesprächen und auf Werbematerial der NPD auftauchten. Dies führte nicht selten zu einer Thematisierung seitens Journalist:innen, die Frauen in der neonazistischen Partei regelmäßig zu ihrer Position als Frau in der Partei befragten. Über das strategische Einsetzen von „Vorzeigefrauen“, kam die Partei jedoch nicht hinaus. Häufig handelte es sich bei den aktiven weiblichen Parteimitgliedern um die Partnerinnen männlicher Mitglieder. Mit Blick auf die Erfolge von Marine Le Pen, Giorgia Meloni und Alice Weidel formuliert Haßler die These, dass die NPD mit ihrer Marginalisierung von Frauen letztendlich ihre eigene Handlungs- und Wirkungsmacht schmälerte.

Im letzten Vortrag des Panels untersuchte JAN MÜGGENBURG (Lüneburg) den „Pflegefall“. Diese Sozialfigur kennzeichnet sich Müggenburg zufolge durch Pflegebedürftigkeit und der Zuschreibung von Unvermögen. Ähnlich wie auch der „Süchtige“ oder das „Opfer“ entfaltet die Figur des „Pflegefalls“ dadurch ihre Wirkungen, dass ihre Figuration Grundlage für rechtliche und/oder medizinische Behandlung ist und gleichsam vorerst durch Recht und Medizin bestimmt ist. In diesem Fall habe beispielsweise die Klassifizierung der Pflegestufen eine massive Auswirkung auf die Finanzierung von technischen Hilfsmitteln für Behinderte. Wie gut technische Neuerungen sich als alltägliches Hilfsmittel für körperbehinderten Menschen nutzen lassen, zeigte Müggenburg anhand verschiedener Beispiele aus dem Bereich der unterstützten Kommunikation in Großbritannien und Deutschland. Dabei warf er die Frage auf, ob technische Hilfsmittel überhaupt behinderten Menschen vorbehalten sind oder ob wir nicht alle mittels Google Maps, Smart Homes, etc. in irgendeiner Weise an technische Hilfsmittel gebunden seien. Daraus folgerte er, dass die Dynamik technischer Entwicklung fortwährend neue Fähigkeiten und Unfähigkeiten erzeuge und die Art und Weise wie wir über diesen Technikgebrauch sprechen (ob wir etwa bestimmte Technologien als assistive Technologien bezeichnen und andere nicht) ebenfalls einen Einfluss auf unsere Vorstellungen von Selbstständigkeit und Unselbstständigkeit hat. Obwohl bereits seit den 1980er-Jahren computergestützte Systeme mit natürlicher und synthetischer Sprachausgabe als Kommunikationshilfen für sprachbehinderte Menschen eingesetzt wurden, weigerten sich deutsche Krankenversicherungen noch in den 1990er-Jahren technische Hilfsmittel wie Sprachcomputer zu finanzieren, da sie nicht als überlebensnotwendig galten. In seinem Fazit appelliert Müggenburg an ein Verständnis von Fähigkeit und Vermögen, das Technik als diskursive und nichtdiskursive Möglichkeitsbedingungen stets mitbedenkt. Dabei orientierte er sich an dem Greifswalder Germanisten und Philosophen Klaus Birnstiel, der Unvermögen nicht länger als das Gegenteil von Vermögen begreift, sondern vielmehr als „konstitutive Negativität“, als „einen Bereich eigentlicher Abwesenheit, der dem Vermögen als sein irreduzibles Anderes gleichsam eingeschrieben bleibt“.1

Inwiefern das Konzept der Sozialfigur auch positiv gewendet werden könnte, blieb nach der Diskussion offen. Allerdings zeichnete sich bereits in der Diskussion ab, dass die Historikerin schnell dazu neigt, zu jeder Sozialfigur ein historisches Gegenbeispiel oder eine Ausnahme zu finden, die dann ebenfalls als Sozialfigur entworfen werden kann. So wären zu klärende Fragen: Ab wann kann man von einer Sozialfigur als gesellschaftlich wirkmächtig sprechen? Wo lässt sich das Konzept gewinnbringend anwenden, wo verwässert es und wird quasi synonym zu „Klischee“ oder „Stereotype“ verwendet? So bestünde der Mehrwert einer historischen Konzeption von Sozialfiguren gerade darin, diese nicht als starre Container zu begreifen, sondern zu untersuchen zu welchem Zeitpunkt sie wirkmächtig auf die historische Bühne treten. Daraus ergäben sich Fragen nach Widerstand gegen und Selbstaneignung von verschiedenen Sozialfiguren sowie gesellschaftliche Aushandlungsprozesse um deren konkrete Ausgestaltung.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Maren Möhring (Leipzig) / Annelie Ramsbrock (Greifswald)

Annelie Ramsbrock (Greifswald): Der Süchtige. Zur sozialen Kartografie einer globalen Figur

Detlef Siegfried (Kopenhagen): Der Mitläufer. Ambivalenzen des Konformismus

Svenja Goltermann (Zürich): Opfer. Zum historischen Wandel einer prekären Figur

Laura Haßler (Potsdam): Die Vorzeigefrau. Frauen in rechtsnationalistischen Organisationen der Bundesrepublik zwischen Agency und Instrumentalisierung

Jan Müggenburg (Lüneburg): Der Pflegefall. Zur medientechnologischen Konstruktion einer Sozialfigur

Anmerkung:
1 Klaus Birnstiel, Unvermögen, Technik, Körper, Behinderung. Eine systematische Reflexion, in: Karin Harrasser / Susanne Roeßiger (Hrsg.), Parahuman. Neue Perspektiven auf das Leben mit Technik, Köln 2016, S. 21–38, hier S. 33.

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