HT 2023: Sanktionsregime: Entstehung, Praktiken und Wirkung

HT 2023: Sanktionsregime: Entstehung, Praktiken und Wirkung

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD) (Universität Leipzig)
Ausrichter
Universität Leipzig
PLZ
04107
Ort
Leipzig
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
19.09.2023 - 22.09.2023
Von
Christina Häberle, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Nach dem 24. Februar 2022 diskutierte die Öffentlichkeit über das Für und Wider von Sanktionen gegen Russland. Die aktuelle Debatte veranlasste die Sektionsleitung den Sanktionsdiskurs, um eine historische Perspektive zu ergänzen. Angefangen von der Kontinentalsperre im Ersten Weltkrieg bis zu Brandts verwehrtem Handschlag gegenüber Autokraten setzten Staaten im 20. Jahrhundert unterschiedliche Sanktionen als ein politisches, ökonomisches und kulturelles Mittel ein, um eine Verhaltensänderung bei den Sanktionierten zu bewirken. Gerade in dem aufkommenden internationalen Menschenrechtsdiskurs sahen die Vortragenden eine Akzentverschiebung. Dabei unterstrich Frank Bösch in seiner Einführung, wie wirksam Sanktionen ausgehend von 1945 waren und wie sich Sanktionspraktiken in diesem Zeitraum veränderten. Während sich die Gründe für Sanktionen wandelten, entwickelten auch die Sanktionierten ihren Umgang mit Sanktionen weiter. Laut sozialwissenschaftlichen Auszählungen ist nur für ein Drittel der Sanktionen ein Erfolg belegbar. Bis heute verletzen zahlreiche Diktaturen die Menschenrechte ihrer Bevölkerung trotz Sanktionen. Gleichzeitig ebben die Forderungen nach Sanktionen vieler Bürger:innen nicht ab, dagegen fragen andere: Erreichen wir unser Ziel oder schaden wir uns nicht selbst? Fest steht, Sanktionen bleiben umstritten. Dass Autokratien wiederum mittlerweile selbst sanktionieren, ist Teil ihres Wandels.

JAN ECKEL (Freiburg) zeigte am Umgang mit der chilenischen Diktatur und dem Apartheidregime die Ungewissheiten von Sanktionen bzw. deren Wirkung. Nach Augusto Pinochets Putsch in Chile am elften September 1973 verfolgte die Militärjunta zum Teil wehrlose Zivilisten. Davon schockiert und moralisch empört, forderten linksliberale bis linke Akteur:innen im „Westen“ Wirtschaftssanktionen gegen die Militärjunta. Dass Chiles Wirtschaftsbeziehungen zu diesen Staaten überwiegend vernachlässigbar waren, kam ihnen dabei zugute. In erster Linie entzogen sie dem Andenstaat Rüstungslieferungen und Zahlungen für die wirtschaftliche Zusammenarbeit. Besonders weil weder Menschenrechte in der Außenpolitik noch ein festgelegter Sanktionskatalog existierten, waren Wirtschaftssanktionen ein Mittel der „ultima ratio“. Für Eckel stellte der damalige Umgang mit Chile nichtsdestotrotz einen wichtigen ersten Schritt auf einem langen beschwerlichen Weg hin zu einer internationalen Sanktionspolitik dar.

Der Umgang der Industrienationen mit Südafrika, zu dem engere ökonomische Verflechtungen als zu Chile bestanden, entkräftete allerdings ihr Bekenntnis zu den universalen globalen Menschenrechten. Gegenüber ihrer empörten Bevölkerung begründeten sie das eigene Zögern mit dem Wohl der mehrheitlich unterdrückten Bevölkerung, die in erster Linie die Folgen der Sanktionen treffe. Doch interne Dokumente belegen vor allem die Sorge der Regierungen vor möglichen negativen Folgen für ihre eigenen Volkswirtschaften. Gleichzeitig wandelte sich die Entwicklungspolitik für autokratische Staaten im globalen Süden partiell „in ein Strafinstrument“, weil Industrienationen ihre Forderungen nach Wahrung der Menschenrechte mit ihrer ökonomischen Förderung verquickten. Die betroffenen Staaten lernten indes mit der Zeit diese Strafen zu antizipieren. Auf internationalen Foren vermieden Industrienationen durch Androhungen teils Sanktionen und verschlechterten ihre Beziehungen „gewissermaßen kontrolliert“. Den größten Effekt erzielten Sanktionen auf einer persönlichen Ebene. Die Sanktionen gegen Chile schloss es von einer „antikommunistisch ausgerichteten westlichen Gemeinschaft“ aus, als dessen Teil es sich verstand. Die Junta erklärte sich die Sanktionen mit einer kommunistischen Verschwörung und nicht mit der an sie herangetragenen Kritik. Mit ihrer Trotzhaltung wandte sie sich von den Sanktionierern ab. Bis heute sind die Effekte von Sanktionen nicht absehbar, „noch weniger die Strategien, die sanktionierte Regime entwickeln, um damit umzugehen.“ Damit schufen Sanktionen vor allem beidseitige Unsicherheiten.

FRANK BÖSCH (Potsdam) fokussierte sich in seinem Vortrag auf verschiedene Bundesregierungen seit 1949 und wie sie mittels Sanktionen ihren außenpolitischen Handlungsspielraum ausloteten. Bereits die Regierung Konrad Adenauers sanktionierte die DDR mit den CoCom-Listen, wobei sich die Eingliederung der Bundesrepublik in das westliche Bündnissystem unter US-amerikanischer Führung mit der Ablehnung eines zweiten deutschen Staates verschränkte. Gleichzeitig besaß die frühe Bundesrepublik mit der Hallstein-Doktrin ein zweites Sanktionsregime gegen die DDR. Mit ihr baute sie durch ihre Zugehörigkeit zu dem „Westen“ „eine enge Kooperation mit vielen antikommunistischen Autokratien“ auf. Einzig ein US-amerikanisches Veto ließ die Bundesregierung von solchen Kooperationen abrücken, etwa beim Aufbau eines Luftwaffenstützpunktes in Franco-Spanien 1960 oder beim Röhrengeschäft mit der Sowjetunion 1962. Ein schleichendes Umdenken bei Politikern bewirkten erst zivilgesellschaftliche Proteste, angeführt von Migrant:innen in der Bundesrepublik, der neuen Linken und NGOs, die gegen Diktaturen in Griechenland, Spanien, Iran, Südkorea, Brasilien und Chile demonstrierten. Für punktuelle Sanktionen dokumentierte Bösch bereits zu dieser Zeit einzelne Erfolge. Bei ihnen setzte die Bundesregierung gezielt Kapitalhilfen aus und konnte so Regimegegner:innen aus südkoreanischen oder chilenischen Folterkellern befreien.

Gleichzeitig veränderte sich auch das Auftreten von Politikern. So symbolisierte Willy Brandts öffentlicher Verzicht auf bestimmte Staatsbesuche auf der außenpolitischen Bühne einen neuen Umgang mit antikommunistischen Autokraten – sichtbar für die eigene Bevölkerung und spürbar für die Diktatoren. Doch, während der Menschenrechtsdiskurs in der Öffentlichkeit an Bedeutung gewann, sah selbst die sozialliberale Regierung von Wirtschaftssanktionen ab und verstärkte ihren Handel mit Diktaturen. Das tat die Bundesregierung trotz des US-amerikanischen Protests 1969 bei dem deutsch-sowjetischen Erdgas-Röhren-Geschäft, 1975 beim Bau von Atomkraftwerken für Iran und Brasilien oder 1981 im polnischen Fall. Damit grenzte sich Bonn ab den 1970er-Jahren vor allem konfrontativ von US-amerikanischen Sanktionen ab. Wie es schon Eckel für Südafrika darlegte, zeigt es auch Bösch im Fall von Libyen: gute ökonomische Vernetzungen schützten Autokratien vor Wirtschaftssanktionen. Erst das Massaker auf dem Tiananmen-Platz veränderte die Haltung der Bundesregierung – für kurze Zeit. Bis Oktober 1990 sanktionierte sie auf Druck von Bundestag und Europaparlament das chinesische Regime. Daher begann mit den 1990er-Jahren eine neue Phase der bundesdeutschen Sanktionspolitik. Eingebunden in internationalen Organisationen konnte sie sich nicht deren Sanktionspolitik entziehen und musste sich an ihnen beteiligen. In dieser Zeit zielten die Sanktionen auch verstärkt auf Eliten in autokratischen Staaten, damit reduzierte sich die Belastung für die deutsche Wirtschaft. Aber gleichzeitig trafen US-Sanktionen immer häufiger deutsche Unternehmen, die in der Vergangenheit nahezu folgenlos Aufträge übernehmen konnten. Wenn bundesdeutsche Außenpolitik vor allem der Exportförderung diente, dann ist sie mit einer auf Wahrung von Menschenrechten orientierten Außenpolitik nicht kompatibel.

Nach Einschätzung von JUTTA BRAUN (Potsdam) scheint die Politik des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) ebenso wenig mit der Wahrung der Menschenrechte kompatibel zu sein. In ihrer Ausführung zeichnete sie die Entwicklung von der „Mutter aller sportlichen Boykottbewegungen, nämlich die […] Olympischen Spiele 1936“ in Berlin bis Beijing 2008 und Sotschi 2014 nach. Seit 1936 sprachen sich Medienschaffende und Intellektuelle gegen die Teilnahme von Autokratien aus, während Sportfunktionäre dieselben von erhobenen Vorwürfen entlasteten. Prominentestes Beispiel war der US-Sportfunktionär Avery Brundage, der auf einer „fact-finding tour“ nach Nazi-Deutschland und in den 1960er-Jahren nach Südafrika reiste, um dort keine Diskriminierung von Minderheiten sehen zu wollen. Eine weitere Kontinuität von 1936 war das Demonstrationsverbot für Sportler:innen. So bestrafte das IOC und der österreichische Schwimmverband drei jüdische Schwimmerinnen, die sich weigerten an den Spielen in Nazi-Deutschland teilzunehmen. Ähnlich scharf ahndete das IOC und der amerikanische Sportverband zwei US-Sprinter, beide people of colour, 1968 wegen ihrer Black Power Geste. Erst mit Beijing 2008 begannen ernsthafte Debatten über ein Demonstrationsrecht für Sportler:innen.

Braun glich das Selbstverständnis der Sportverbände von einer etwaigen Unabhängigkeit zwischen Sport und Politik mit der Realität ab. So brach sich der Kampf von Staaten des afrikanischen Kontinents gegen die Apartheid auch bei den Olympischen Spielen 1976 in Montreal Bahn. Aus Protest gegen Neuseelands Teilnahme, das den Sportbann gegen Südafrika gebrochen hatte, reisten nigerianische und kenianische Sportler:innen wieder ab. Das kritisierten die USA wiederum als „unzulässige Vermischung von Sport und Politik“. Doch diese Kritik traf sie bei ihrem eigenen Boykott gegen die Spiele in Moskau 1980 wie ein Bumerang: Afrikanische Staaten lehnten es mit Verweis auf deren mangelnden Beistand im Kampf gegen die Apartheid ab, sie bei ihrem Boykott zu unterstützen. In erster Linie wirkten sich Sport-Boykotte auf das Ansehen der betroffenen Staaten aus. Neben dem internationalen Ansehen konnten die sanktionierten Staaten auch vor ihrer eigenen Bevölkerung den Ansehensverlust nicht verschleiern. Gleichzeitig widerlegte Jutta Braun zahlreiche Sportfunktionäre, die der Vergabe von Sportgroßereignissen an Autokratien eine positive Funktion zuschreiben. Denn eine erfolgte politische und gesellschaftliche Öffnung wertete sie mit Blick auf die Spiele in Berlin 1936 und Beijing 2008 nur als eine kurzlebige Scheinliberalisierung.

JERONIM PEROVIĆ (Zürich) beschäftigte sich mit einem Bereich, den Sanktionsbefürworter:innen oft als erstes im Blick haben: den Rohstoffhandel. Wie seine Vorredner:innen sah er in Sanktionen ein geeignetes Mittel, um Veränderungen anzustoßen, allerdings führten sie nicht immer zu den „erhofften wirtschaftlichen Effekten“. Die USA setzten ihre Sanktionsregime gegen die Sowjetunion zur Unterbindung von deren Expansion ein. Als die USA ihre Sanktionen in den 1950er-Jahren lockerten, schloss die Sowjetunion Wirtschaftsverträge mit westeuropäischen Staaten ab, um den eigenen Rohstoffsektor auszubauen. Davon hofften auch westeuropäische Unternehmen zu profitieren. Die marginalen Exportgeschäfte der 1960er-Jahren wurden daher im Zuge der Berlin-Krise 1961 und der Kubakrise 1962 zur Verhandlungsmasse. Gegenüber ihren europäischen Verbündeten setzte die US-Regierung sowohl eine Reduktion des Imports sowjetischen Erdöls als auch ein Embargo des Exports von Stahlröhren durch. Damit wollte die USA den Bau der „Druschba“-Pipeline verhindern, von der sie im Kriegsfall eine schnellere Versorgung der Warschauer Pakt Staaten vermutete. Allerdings betonte Perović, dass vor allem internationale Erdölfirmen Regierungen zu Sanktionen drängten, um ihre Geschäfte vor billigem sowjetischem Öl zu schützen. 1964 feierte die Sowjetunion daher nicht nur die fertige „Druschba“-Pipeline sondern damit einhergehend auch die wirkungslosen US-Sanktionen.

Nach dem Bau der „Druschba“-Pipeline beschloss Breschnew sibirische Erdgasvorkommen zu erschließen, wofür die Sowjetunion deutlich mehr Röhren benötigte. Daher schloss sie mit westeuropäischen Staaten „Erdgas-gegen-Rohre-Geschäfte“ ab. Ähnlich wie bei der „Druschba“-Pipeline strengte die Reagan-Administration für einen Baustopp internationale Sanktionen an. Außenpolitische Interventionen, wie die Afghanistan-Invasion 1979 und die Unterdrückung von Solidarnosc 1981, legitimierte Washington hierzu. Im Gegensatz zu 1969 weigerten sich die europäischen Regierungen, die von den USA eingesetzten Sanktionen umzusetzen. Daher trafen die US-Sanktionen auch an den Geschäften beteiligte Unternehmen aus Westeuropa. Die sowjetische Propaganda stellte anhand des amerikanisch-europäischen Konflikts erneut die Wirkungslosigkeit der Sanktionen zur Schau. Im Gegensatz zu heute zeigt der Ausbau der sowjetischen Energieversorgung, dass die Sowjetunion Energie zumindest während des Kalten Krieges entgegen amerikanischer Befürchtungen nicht als Waffe einsetzte.

Die Beiträge dieser Sektion griffen ergänzend ineinander und vertieften damit einzelne Aspekte um eine weitere Perspektive. Spürbar wurde dies auch in der abschließenden lebhaften Diskussion. Die meisten Beiträge aus dem Publikum beschäftigten sich mit der Wirksamkeit von Sanktionen und ihren Eskalationsstufen. Eckel betonte, dass Sanktionen nie für sich allein stünden, sondern immer „ein Baustein von vielen innerhalb einer Wirkungskette“ seien. Gleichzeitig hob Braun in der Entwicklung von Sanktionen die Bedeutung des technischen Fortschritts hervor. Die Live-Berichterstattung verstärkte die Wirkung auf ein Publikum jenseits politischer Entscheidungsträger:innen. Auf den Publikums-Kommentar, die Sanktionen gegen Russland seien wegen der Umsteuerung über Indien und China wirkungslos, entgegnete Perović, dass die mittel- bis langfristige Wirkung derzeit noch nicht absehbar sei. Mit Blick auf die jüngsten Ereignisse waren sich alle Vortragenden einig, dass für die Staaten des „Westens“ „keine Sanktionen keine Alternative“ (Bösch) seien.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Jan Eckel (Freiburg) / Frank Bösch (Potsdam)

Jan Eckel (Freiburg): Angst vor Sanktionen. Menschenrechtliche Strafpolitik in den 1970er und 1980er Jahren

Frank Bösch (Potsdam): Die Pragmatiker: Bundesdeutsche Sanktionsbeteiligungen und -vermeidungen seit 1949

Jutta Braun (Potsdam): ‘‘The Games must go on“: Boykotte im internationalen Sport

Jeronim Perović (Zürich): Krisenresistenz. Sowjetische Reaktionen auf westliche Sanktionen im Rohstoffhandel

https://www.historikertag.de/Leipzig2023/
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