Die neue Workshop-Reihe 'Archäologische Grundbegriffe' nimmt von konstruktivistischen Paradigmen Abschied – und fragt nach einer neuen Relevanz der antiken Bilder und Objekte. Die räumliche, soziale und ökonomische Re-Kontextualisierung antiker Artefakte und ihrer Bedeutungen ist in den vergangenen Jahren zu immer höherer analytischer Präzision gelangt; der Wert des dadurch ermöglichten, enormen Erkenntnisgewinns steht außer Frage. Ausgehend davon versucht die Reihe, die durch Historisierung und Kontextualisierung ausgelöste, systematische Partikularisierung der archäologischen Befunde und ihrer Botschaften auf den Prüfstand zu stellen. Kann es gegenwärtig gelingen, die spezifischen Aussagen antiker Bilder und Objekte aus dem engen Gehege ihrer individuellen historischen Situationen zu befreien und in Normen und Strategien von weiterer Gültigkeit zu überführen?
Der erste Workshop der Reihe fand im Juli 2023 statt und widmete sich einem Grundbegriff, der in der Formierung der modernen Archäologie im Zeitalter der Aufklärung eine ebenso radikale wie essentielle Rolle spielte: dem Begriff der Freiheit. Versammelt wurden kritische Beiträge, die Aussagen und Funktionen antiker Objekte und Bilder im Sinne eines semantischen Reservoirs beleuchten. Eine exemplarische Annäherung erlaubt die Episode vom Sirenenabenteuer des Odysseus, das nicht nur im Epos Homers, sondern mit eigenen Akzentuierungen auch in der antiken Bilderwelt, z.B. in Vasendarstellungen, wiederholt in Szene gesetzt ist. In der Episode manifestiert sich die Vorstellung eines Helden, der sich nicht etwa gegen seinen Willen, sondern aus freien Stücken an den Schiffsmast binden lässt – wohl wissend, dass er zu einem späteren Zeitpunkt unter dem verführerischen Einfluss der Sirenen zu keiner freien, nicht affektgeleiteten Entscheidung in der Lage sein würde. Trotz der großen historischen und philosophischen begriffsgeschichtlichen Projekte der Neuzeit und insbesondere des 20. Jahrhunderts bleiben speziell die materiellen und visuellen Dimensionen der Freiheit, wie sie etwa in besagten Odysseus-Bildern zum Tragen kommt, weitgehend unbestimmt. Dies sicher nicht zuletzt deshalb, weil auch der ontologische Status eines archäologischen Bildes im semiotischen Dreieck prekär ist: Ist es ein Zeichen zur Kommunikation und steht also auf einer Ebene mit dem gesprochenen oder geschriebenen Wort? Ist es in seiner Materialität aber nicht immer auch zugleich ein empirisches Phänomen der vorgefundenen Welt? Und kann es als mentales Bild nicht sogar selbst Teil eines Begriffs sein?
Ein übergreifendes Propädeutikum zur konkreten Beschäftigung mit Bildern und Manifestationen der Freiheit lieferten die drei Vorträge von Christian Illies, Karl Hepfer und Joachim Knape. Ausgehend von Benjamin Constants "De la liberté des Anciens comparée à celle des Modernes" und Isaiah Berlins "The Two Concepts of Freedom" traf CHRISTIAN ILLIES fundamentale Unterscheidungen für jede, auch und insbesondere archäologisch-historische Auseinandersetzung mit dem Begriff der Freiheit – sowohl deskriptiv zur Annäherung an ein historisches Bewusstsein eigener Freiheit und Unfreiheit als auch normativ als Zugang zu einer historischen Idee der Freiheit. KARL HEPFER rückte anhand eines Durchgangs durch die Philosophiegeschichte grundlegende Prämissen und Paradoxa in den Fokus und bestimmte das Verhältnis von Freiheit zu konkurrierenden normativen Begriffen von Sicherheit, Gerechtigkeit und Gleichheit. JOACHIM KNAPE steckte auf der Suche nach den "Möglichkeiten der Unmöglichkeit, die Freiheit abzubilden" das bildtheoretische Feld ab, in dem jedes ‚Optifikat‘ des abstrakten Freiheitsbegriffs eingebunden und zu verstehen ist.
Pointierte Beiträge aus den Nachbardisziplinen führten den am Begriff der Freiheit arbeitenden Klassischen Archäologen die Potenziale und Grenzen ihres Materials rigoros vor Augen. ANDREAS MAIER und MARCEL WEISS unterzogen das Feld kultureller Äußerungen prähistorischer Gesellschaften – von Abschlagtechniken für die Werzeugproduktion bis hin zur Organisation von Lagerplätzen und Siedlungsmustern, jeweils im Verbund mit zugrundeliegenden Graden von Planungstiefe und Wahlflexibilität zwischen Optionen – einer radikalen und suggestiven Unterscheidung in Freiheit versus Struktur. Die Kunsthistorikerin NATHALIE-JOSEPHINE VON MÖLLENDORFF zeichnete das ikonographisch explosive Potential der Freiheit im Gefolge der Französischen Revolution nach. Aus den altertumswissenschaftlichen Nachbardisziplinen schlüsselte der Althistoriker SVEN GÜNTHER die synchrone und diachrone mediale Vermarktung des Caesar-Attentats an den Iden des März des Jahres 44 v. Chr. anhand des Bild-Text-Programms römischer Münzprägungen auf. Als aufschlussreiche Referenz zu jeder Debatte von Kunstfreiheit präsentierte der Altphilologe MARKUS HAFNER das vielschichtige prekäre Spektrum von Autorfunktionen im Korpus der antiken Literatur: Neben den im Rampenlicht stehenden Autoren konnten Sekretäre, Schreiber, Grammatiker u.v.a. als regelrechte Autor-Kollektive fungieren, innerhalb derer freilich ganz unterschiedlich starke Einflussmöglichkeiten auf den letztlich veröffentlichten Text zugestanden bzw. in Abrede gestellt wurden.
Fallstudien aus dem engeren Gegenstandsbereich der Klassischen Archäologie deckten die Visualisierung und Materialisierung rechtlich-politischer und philosophisch-anthropologischer Freiheit ebenso ab wie die Freiheit derer, die die Bilder und Räume der antiken Welt gestalteten. Damit stand ein breites Feld von politischer über Willens- und Handlungsfreiheit bis hin zur Freiheit der Kunst zur Diskussion. BIRGIT BERGMANN arbeitete die visuelle Komponente des Kriegsgedenkens insbesondere im Gefolge der Perser- und des Peloponnesischen Krieges heraus. Als einen aufschlussreichen, von etablierten Kategorien individueller und politischer Freiheit nur unzureichend abgedeckten Fall rückte sie die Verfügungsfreiheit der Sieger über das vormalige Schlachtfeld und über alles dort Vorgefundene in den Fokus – eine Freiheit, die sich etwa in Beuteweihungen und der Errichtung von Tropaia als Materialisierungen des Wendepunkts einer Schlacht verdichten konnte. Welche Gestalt die Freiheit in längeren innenpolitischen Friedensperioden annehmen konnte, zeichnete ELISABETH GÜNTHER anhand der subtilen ikonographischen und semantischen Verschiebungen in Münzprägungen der römischen Kaiserzeit mit Darstellungen der Personifikation Libertas nach. Eine sukzessive Annäherung an das Konzept der kaiserlichen Liberalitas, Freigebigkeit, wie sie u.a. in Steuererleichterungen gesehen wurde, erwies sich in diesem Zusammenhang als besonders aufschlussreiches Detail. VIKTORIA RÄUCHLE interpretierte die ikonographischen Facetten und den visuellen und literarischen Anspielungsreichtum einer hellenistischen Statuengruppe zweier von Eroten gerittener Kentauren als dichte Allegorien der Freiheit und Unfreiheit der Liebe. WOLFGANG FILSER präsentierte eine suggestive Fallstudie zum Paradoxon der räumlich und künstlerisch freien Ausgestaltung der Nymphengrotte von Vari durch den Handwerker Archidamos, der sich zugleich als von den Nymphen besessen inszenierte. NIKOLAUS DIETRICH diskutierte, welche Gestaltungsspielräume die Produzenten bemalter attischer Trinkgefäße besaßen, gemessen u.a. am Aufforderungscharakter der Gefäßform, an der Bildfeldbegrenzung und an der etablierten Bandbreite von Bildthemen. Ebenfalls anhand der Gattung bemalter Keramik rückte ARNE REINHARDT die Freiheit im Koloritgebrauch in den Fokus. Diese Freiheit ergibt sich aus dem Umstand, dass gattungsbedingte Routinen der Farbreduktion und -addition jede allzu direkte Abbildrelation zwischen bildlichem und realweltlichem Farbspektrum von vornherein unterminieren, was Spielräume eröffnet, aber auch neue Zwänge nach sich zieht. Zur Grundsatzfrage des Workshops, wie im Spannungsfeld zwischen übergreifender Persistenz und historischer Standortbindung die spezifischen Aussagen antiker Bilder und Objekte in Normen und Strategien von weiterer Gültigkeit überführbar seien, schienen in Vorträgen und Diskussionen disparate, vielversprechende Perspektiven auf; exemplarisch: SABINE NEUMANN fokussierte auf das hermeneutische Potenzial von Dingen, die sich einer kategorialen Zuordnung zu entziehen und damit neue Freiheiten und Limitationen zu bewirken scheinen. Ansetzend bei Überlegungen u.a. von Paul Valery und Hans Blumenberg analysierte sie das Phänomen künstlich ausgestalteter antiker Grotten und Grottenmodelle als 'objets ambigus' gegenüber einer trennscharfen Natur-Kultur-Dichotomie. ASJA MÜLLER modellierte das Lenkungspotential der gebauten Umwelt für die Bewegung und Wahrnehmung der sie durchquerenden Menschen anhand dezidierter sozialhistorischer Rollen. Die Aussagekraft und Grenzen von in den Kulturwissenschaften gerne genutzten Interpretationskonzepten wie ‚agency‘ oder ‚Affordanz‘ gegenüber dem in Rechnung zu stellenden Anteil menschlicher Willens- und Handlungsfreiheit trat hier in besonderer Schärfe zutage. ALEXANDER HEINEMANN lotete den antiken Status des marginalisierten, grotesken Körperbildes aus; sein Vortrag eröffnete Lehren und Potentiale für eine Gegenwartskultur, die sich von ihren eigenen dogmatischen Stereotypen im Umgang mit menschlichen Körperbildern lösen will. CHRISTIAN KUNZE arbeitete den Freiheitsbegriff vor dem Hintergrund von Johann Joachim Winckelmanns Interpretation der "griechischen Kunst als ethischer Imperativ" heraus; gerade in dessen auf den ersten Blick paradoxen Konzept, eine empiristische, strikt objekt- und phänomengebundene Kunstbetrachtung mit einer idealistischen Herausarbeitung abstrakter, normativer Begriffe zu verzahnen, zeigte sich, welche radikalen Potentiale in den Grundlagen der Archäologie selbst angelegt sind. Als Ursache für die diachrone Durchschlagskraft der klassischen Form, namentlich des klassischen Körperbildes, wie es durch Klassizismen und Antiklassizismen unablässig rezipiert wurde, identifizierte ANDREAS GRÜNER ein genuines Prinzip der Freiheit, das freilich die bekannten ideologischen Indienstnahmen des Klassischen ermöglichte, sie zugleich aber auch a priori unterminierte: Im klassischen Bild prallen ganz konkrete Bildphänomene auf abstrakte Normensysteme. Sie tun dies mit offenem Ausgang und führen mit Kant zum freien Spiel der sinnlichen und der Vernunfterkenntnis.
Begriffsgeschichte wurde mit "Tunnelbohrungen von verschiedenen Seiten" verglichen, "die sich nicht unbedingt treffen" (Müller – Schmieder, Begriffsgeschichte, 2020, 11). Was alle Vorträge des Workshops verbindet: In extrem engagierten und konfrontativen Diskussionen wurden zahlreiche solcher Tunnel in die bislang sträflich vernachlässigte visuell-materielle Hälfte des Begriffsbergs der antiken Freiheit getrieben. Leider entfallen mussten Vorträge von Luisa Balandat zum Verhältnis von künstlerischer Freiheit und gesellschaftlichen Tabu und von Gunnar Seelentag zur 'libertas' in der Konkurrenz zwischen römischen Senatoren und Principes. Der Vortrag von Egon Flaig zum Thema "Individuelle Freiheit gegen politische Freiheit. Die Polis im europäischen Republikanismus“ wurde abgesagt.
Konferenzübersicht:
Sektion 1
Andreas Grüner, Julian Schreyer (Erlangen), Einführung
Christian Illies (Bamberg), Zwischen Chaos und Regelwerk. Zum Problem der Freiheit in der Kunst
Christian Kunze (Regensburg), Die griechische Kunst als ethischer Imperativ. Zur Kunstbetrachtung von Johann Joachim Winckelmann
Alexander Heinemann (Tübingen), Wider die Selbstoptimierung. Formensprache und Körperbilder der Antike als Feier der Devianz
Arne Reinhardt (Heidelberg), Freiheit des Kolorits
Markus Hafner (Graz), Freiheit und Urheberschaft – zur Soziologie des Autors in der griechisch-römischen Literatur der Kaiserzeit
Sektion 2
Sabine Neumann (Marburg), Das objet ambigu und die Freiheit der Dinge. Überlegungen jenseits von Kategorienbildungen
Asja Müller (Berlin), Von der (Un-)Freiheit der Bewegung und Wahrnehmung: Das hellenistische Heiligtum als relationaler Akteursraum
Viktoria Räuchle (München), Die Fesseln der Freiheit
Andreas Maier (Köln), Marcel Weiß (Erlangen), Vorwärts in die Zwangsneurose – Als die Menschheit Freiheit gegen Struktur tauschte
Sektion 3
Karl Hepfer (Erfurt), Freiheit – eine Ortsbestimmung
Joachim Knape (Tübingen), Möglichkeiten der Unmöglichkeit, die Freiheit abzubilden
Birgit Bergmann (Freiburg), Freiheit und Krieg im archaischen und klassischen Griechenland – Eine archäologische Perspektive
Sven Günther (Changchun), EID MAR = Freiheit?
Elisabeth Günther (Heidelberg), Nur eine „Freiheit“? Die Ikonographie der Libertas in der Münzprägung der Römischen Kaiserzeit
Sektion 4
Nathalie-Josephine von Möllendorff (Bamberg), Liberté toujours! Ikonograpghien der Freiheit in der Französischen Revolution
Nikolaus Dietrich (Heidelberg), Freiheit qua (dekorative) Unterordnung
Wolfgang Filser (Kopenhagen), Freiheit und Unfreiheit des Archidamos von Thera in der Höhle von Vari
Andreas Grüner (Erlangen), Zur Ordnung, zur Freiheit! Das revolutionäre Potenzial der klassischen Form
Julian Schreyer (Erlangen), Fazit & Organisatorisches