Werden die Grundbegriffe der gesellschaftlichen Verständigung in der jüngsten Geschichte Westeuropas zunehmend instabil? Unter dieser Leitfrage debattierten Begriffshistorikerinnen und Begriffshistoriker Schlaglichter einer Begriffsgeschichte des 20. Jahrhunderts, wobei im begrenzten Rahmen der Tagung das weitgefasste Begriffsfeld des Faktischen oder der Faktizität und dessen Dynamik, insbesondere seit den siebziger Jahren, im Zentrum der Betrachtungen stand. Ausgangspunkte bildeten die bekannten zeithistorischen Deutungsversuche zur zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts: die Narrative einer gesellschaftlichen Pluralisierung und der Verschärfung soziokultureller Konflikte sowie die These einer Auflösung moderner Großbegriffe in der sogenannten Postmoderne. Durch die Präsentation erster Forschungsergebnisse zu insgesamt zwölf Begriffen konnten diese Zeitdeutungen, die zuweilen begriffsgeschichtlich in der Diagnose einer zweiten Sattelzeit kulminieren, wesentlich differenziert werden. Damit lieferte die Tagung einen Verständigungsbeitrag zum Verbundprojekt „Das 20. Jahrhundert in Grundbegriffen. Lexikon zur historischen Semantik in Deutschland“, das derzeit unter der Federführung des Leibniz-Zentrums für Literatur- und Kulturforschung Berlin erarbeitet wird.
Leitgedanken und Konzeptionsvorschläge zum Projekt einer Begriffsgeschichte für das 20. Jahrhundert präsentierten RÜDIGER GRAF (Potsdam) und MARTINA STEBER (München). Die beiden Tagungsorganisatoren hinterfragten die Möglichkeit einer direkten Übernahme jener Deutungskategorien, die noch Kosellecks begriffsgeschichtliche Arbeiten zur Sattelzeit leiteten: Sowohl die Identifizierung eindeutiger Grundbegriffe als auch die Modellierung einliniger Prozesse seien für eine Begriffsgeschichte des 20. Jahrhunderts kaum möglich. Als Alternative führten die Organisatoren die Idee dynamischer Spannungsfelder ein, in die auch begrifflicher Wandel eingespannt werden könne. Indem man die Geschichte von Begriffen entlang der Achsen Destabilisierung—Stabilisierung, Universalisierung—Partikularisierung und Rationalisierung—Emotionalisierung untersuche, könnten gegenläufige und mehrdimensionale Entwicklungen, wie man sie insbesondere für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts vermutet, adäquater konturiert werden.
Aufgrund der Schwerpunktsetzung der Tagung befasste sich die Mehrzahl der Vorträge primär mit ersterem Spannungsfeld, der Frage nach möglichen Destabilisierungstendenzen. So untersuchte MARTINA STEBER vor der Folie der radikalkonstruktivistischen Epistemologien des späteren 20. Jahrhunderts die jüngere Geschichte des Begriffs der Wirklichkeit. Steber befand, dass jener Begriff stets häufig genutzt worden, jedoch auch vor der radikalkonstruktivistischen Kritik nicht eindeutig ausgedeutet gewesen sei. Ein erster orientierender Rückgriff auf den Google Books Ngram Viewer deute für den Wirklichkeitsbegriff auf mehrere Verschiebungen der Begriffsausdeutung für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, von einer vornehmlich aktiv-planerischen Konnotation in den sechziger Jahren, über eine gestaltungsskeptische Ausdeutung in der Mitte der Siebziger, bis hin zu den konstruktivistischen Umdeutungen seit den achtziger Jahren. Allerdings hätten Lexika durch eine kontinuierliche konventionelle Definition der Wirklichkeit als „begriffliche Stabilisierungsagenturen“ gewirkt. Und auch in der Parteipolitik der Bonner Republik, in der die Wirklichkeit zum rhetorischen Kampfbegriff christdemokratischer und konservativer Politikerinnen und Politiker wurde, zeige sich bis in die achtziger Jahre eine Kontinuität, die sich aus der begriffsprägenden Kraft des Kalten Krieges und des antitotalitären Konsens erkläre. Die seit den achtziger Jahren an Dominanz gewinnende Melange von neoliberal-konstruktivistischen und konservativen Strömungen las Steber einleuchtend an der jüngsten Entwicklung des Begriffs der Wirklichkeit ab. Dieser fungiere nach wie vor als „unhinterfragter Referenzpunkt“ im politischen Diskurs, werde jedoch zunehmend plural interpretiert, wodurch neben die "nüchterne" Wirklichkeit des früheren bundesrepublikanischen Konservatismus erneut ein gefühlsmäßig aufgeladener, rechtspopulistischer Wirklichkeitsbegriff trete.
Den Befund einer überraschenden Stabilität wies auch ERNST MÜLLER (Berlin) aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive für den Begriff der Tatsache nach. Die ursprüngliche Verschränkung der Tatsache mit einem Glaubensanspruch, so die originelle These, blieb dabei stets erhalten: Von Husserl über Cassirer und Wittgenstein, die eine philosophische Begriffsdefinition schließlich aufgaben, über die weitere Relativierung des Begriffsgehalts durch die Wissenschaftstheorien Flecks und Kuhns, bis zu den konstruktivistischen Einwänden sei die Tatsache stets mit einem subjektiven Glauben an ihre Geltung verbunden geblieben. Auch dieser Begriff habe, trotz der Vervielfältigung seiner Verwendungsformen, seinen ursprünglichen Gehalt beibehalten. ALEXANDER FRIEDRICH (Berlin) fragte vor diesem Hintergrund nach möglichen Verschiebungen in der jüngsten Zeitgeschichte durch das Hinzutreten des Begriffs der Fakten seit den 1970er-Jahren. Mit einer empirischen Untersuchung von deutschen Parlamentsreden durch das Tool SCoT gelangte Friedrich zum Befund einer „Steigerung der semantischen Komplexität“ des Faktenbegriffs, aus der sich ein empirisch-ontologisches und ein epistemisch-diskursives Bedeutungsfeld ausdifferenzieren ließen. Fakten hätten entsprechend schon vor dem heutigen, vermeintlich postfaktischen Zeitalter einen diskursiven Aspekt enthalten, der sich allerdings zunehmend durchgesetzt habe, während der empirisch-ontologische Gehalt der Tatsache vorbehalten geblieben sei. Der Referent formulierte die These einer „zunehmenden Verunähnlichung von Fakt und Tatsache“.
Während Friedrich am beeindruckendsten die Fruchtbarkeit quantitativer Analysetools für eine Begriffsgeschichte des 20. Jahrhunderts aufzeigte, konnten die drei folgenden Fallstudien, die sich Begriffen aus dem Feld der sozialen Beziehungen annahmen, weitere Zugangsmöglichkeiten zu einer Geschichte gesellschaftlicher Grundbegriffe des 20. Jahrhunderts veranschaulichen. So plädierte CHRISTIANE REINECKE (Flensburg) für eine transnationale Aufschließung der Geschichte des Diskriminierungsbegriffs. Reinecke zeigte, wie internationale Organisationen wie die UNESCO und die Internationale Arbeitsorganisation sowie europäische Verträge und Institutionen Ausgangspunkt einer zunehmenden, tendenziell stabilen Verwendung des Diskriminierungsbegriffs in westeuropäischen Kommunikationsräumen seit den sechziger Jahren waren. Als Katalysatoren hätten dabei vielfach Juristinnen und Juristen gewirkt, die zwischen internationalen Rechtsdiskursen und nationalen Protestgruppen eine Brückenfunktion übernahmen. Daneben habe auch die Rezeption der US-amerikanischen Civil Rights-Bewegung durch die Neuen Sozialen Bewegungen einen entscheidenden Anstoß gegeben zur Durchsetzung des Diskriminierungsbegriffs als zentralem gesellschaftlichen Unrechtsbegriff des späteren 20. Jahrhunderts.
SINA STEGLICH (München) stellte eine weitere Zugangsmöglichkeit vor, indem sie den Begriff der Sorge zunächst nach seinem Bedeutungsgehalt in einen passiv-individuellen Gemütsausdruck und einen aktiv-sozialen Handlungsbegriff differenzierte. Dieses begriffliche Spannungsfeld, das ein über den Zeitverlauf stabiles Spezifikum der deutschen Sprache darstelle, bilde sich in einer Ausdifferenzierung der Kommunikationsräume ab: Während die Artikulation des Begriffs im Sinne eines individuellen Vorbehalts aufgrund seiner ereignishaften Emotionalität in öffentlichkeitswirksamen, tagespolitischen Räumen einen gewichtigen Niederschlag finde, finde der Begriff der Sorge im Sinne einer sozialen Praxis aufgrund seiner langfristigeren sachbezogenen Orientierung in weniger herausgehobenen Fachdiskursen Verwendung. Der seit den siebziger Jahren zu beobachtende überproportionale Anstieg der Begriffsverwendung sei daher mit einer verstärkten Artikulation des individuell-emotionalen Aspekts einhergegangen, wodurch sich Krisennarrative verfestigten, da eine kollektive Antwort auf individuell geäußerte Besorgnis nicht möglich sei. Dagegen könne gerade über den sozialpraktischen Sorgebegriff ein Zugang zur Analyse von gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen und ihrem Wandel gewonnen werden.
KRISTOFFER KLAMMER (Freiburg) präsentierte eine weitere originelle Herangehensweise an eine Begriffsgeschichte des 20. Jahrhunderts, indem er die Entwicklung eines Begriffszusammenhangs nachvollzog, namentlich der Begriffe Autorität und Wahrheit. Dabei rekurrierte Klammer auf eine stabile, symbiotische Beziehung der Begriffe zwischen dem 13. und 19. Jahrhundert, die er primär kirchengeschichtlich nachverfolgte, als Interdependenz von Wahrheit und Autorität im Verkündigungsanspruch der christlichen Kirchen. Noch die bürgerlich-konservativen Ordnungsvorstellungen des 19. Jahrhunderts hätten vor diesem Hintergrund Wahrheit und Autorität verknüpft. Im 20. Jahrhundert allerdings habe sich dieses Interdependenzverhältnis vornehmlich in den dynamischen sechziger Jahren aufgelöst. Als Auslöser verwies Klammer einerseits auf die grundlegende Infragestellung von traditionellen Autoritätskonzepten, die sich auch in den nun markant auftretenden Begriffsabwandlungen des (Anti-)Autoritären und des Autoritarismus ablesen ließen; andererseits sei mit der Entkirchlichung des Alltags und der verbreiteten Papstkritik in der Diskussion um die Enzyklika Humanae vitae im Katholizismus auch die kirchliche Autorität erodiert. Klammer sprach von einer „Demokratisierung“ des Autoritätsbegriffs seit den 60er-Jahren.
Zu den Wissensbegriffen Wissenschaft und Indikator legten DÉSIRÉE SCHAUZ (Potsdam) und FRANZISKA REHLINGHAUS (Flensburg) Begriffsverwendungsgeschichten vor. Auch hier wiederholte sich der Befund, dass eine tendenzielle Stabilität der Begriffsbedeutung mit einer Vervielfältigung seiner Verwendungsräume und einer Hinterfragung seines Geltungsanspruchs einhergegangen sei. Den Schlüssel zu einem Verständnis der jüngeren Geschichte des Wissenschaftsbegriffs gewann Schauz durch dessen Gegenüberstellung mit dem Begriff der Forschung. Indem letzterer eindeutig und stabil mit der dynamischen Wissensproduktion in den Natur-, Technik- und Medizinwissenschaften verbunden gewesen sei, sei ersterer statisch-idealistisch ausgedeutet worden, etwa konstant in Lexikonbeiträgen, die Wissenschaft als kulturellen Fortschritt bestimmten. Schauz verwies auf das Paradox eines stabil bleibenden idealistischen Wissenschaftsbegriffs im deutschen Sprachraum, der aus der Perspektive der Forschungspraxis im 20. Jahrhundert zunehmend anachronistisch geworden sei und zur heutigen öffentlichen Wissenschaftskritik beitrage: Gerade die Stabilität eines idealistischen Wissenschaftsbegriffs ermögliche die heutige skeptische Hinterfragung des Geltungsanspruchs der Wissenschaft. Dagegen schütze die pragmatische Ausdeutung des Forschungsbegriffs diesen vor einer analogen Kritik.
Auch der Indikatorbegriff, so Rehlinghaus, enthalte ausgehend von seinen lateinischen Ursprüngen einen stabilen Bedeutungskern. Während der Indikator im 19. Jahrhundert in einer einfach-binären Codierung im mathematisch-naturwissenschaftlichen Kommunikationsraum verblieben sei, präsentierte die Referentin dynamische Konjunkturen des Begriffs in anderen Bereichen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zunächst von den Wirtschaftswissenschaften angeeignet, habe der Indikator eine handlungssteuernde gesellschaftspolitische Funktion gewonnen, die seit den siebziger Jahren zunehmend zu einem Deutungskampf ausgeufert sei. Berücksichtigt man die stochastische Erweiterung von Indikatoren durch die empirische Sozialforschung und die Entwicklung komplexerer Sozialindikatoren zur Abbildung qualitativer Zielgrößen wie der Lebensqualität durch die Sozialwissenschaften, so ließen sich an diesem unscheinbar anmutenden Begriff durchgängige Muster einer Begriffsgeschichte des 20. Jahrhunderts veranschaulichen: Die Stabilität ursprünglicher Begriffsbedeutungen, in diesem Falle wiederum der Verschränkung von Erkenntnis und Glaube; die Vervielfältigung der Begriffsverwendung durch die Pluralisierung von Kommunikationsräumen; sowie die Relevanz von transnationalen Kommunikationsräumen wie Internationalen Organisationen, die auch bei der Indikatorentwicklung eine gewichtige Rolle gespielt hätten.
Einen direkten begriffsgeschichtlichen Zugang zu zeitdiagnostischen Deutungen ermöglichten abschließend Fallstudien zu Zukunftsbegriffen. So unternahm CHRISTIAN GEULEN (Koblenz) entlang der jüngsten Geschichte des Krisenbegriffs eine Gegenwartsdeutung, die in einigen Aspekten an ein Posthistoire-Szenario erinnerte. Geulen begann mit der Feststellung, Kosellecks Beobachtungen zur Entwicklung des Krisenbegriffs aus den 1980er-Jahren, namentlich die Verflüssigung und inflationäre Verwendung des Begriffs sowie dessen vormodern-apokalyptische Aufladung, hätten sich in den Folgejahrzehnten bestätigt und verstärkt. Diese Begriffsentwicklung drücke einen Mentalitätswandel aus, in dessen Licht die gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse im Zustand einer unüberwindbaren Dauerkrise erschienen. Seien mit der Krise zuvor einmalige Anomalien beschrieben worden, entwickle sich der Begriff zunehmend zu einem Strukturprinzip der Gegenwart – die Diskrepanz zwischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont schließe sich, Praxis begrenze sich zunehmend auf einen Naherfahrungs- und -erwartungsraum.
Die zeitdiagnostischen Potentiale einer gegenwartsnahen Begriffsgeschichte bekräftigte RÜDIGER GRAF mit einer Analyse des Risikobegriffs. Ausgangspunkt bildete hier die Ambivalenz, dass die stetige Zunahme der Verwendung des Risikobegriffs über das 20. Jahrhundert zwar ein wachsendes Kontingenzbewusstsein anzeige, dem Risikobegriff selbst allerdings durch seine entscheidungstheoretische Aufladung seit den siebziger Jahren ein proaktiv-handlungsmotivierender Bedeutungsgehalt innewohne. Als historische Antriebskräfte des Aufstiegs des Risikobegriffs in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts identifizierte Graf die Versicherungswirtschaft und Risikoökonomie, die statistische Prognostik in der Medizin, die Szenario-Methode in der Betriebswirtschaftslehre sowie die Umweltwissenschaften und die Atomenergiedebatte. Den damit einhergehenden, rasanten Aufstieg von Risikotheorie und -forschung interpretierte Graf anschließend als Anzeichen für eine Veränderung des gesellschaftlichen Zukunftshorizonts in der westeuropäischen Zeitgeschichte. Sei Zukunft zuvor als Verlängerung vergangener Entwicklungen prognostiziert und geplant worden, so deute der Aufstieg des Risikobegriffs auf die Entfaltung eines pluralen Zukunftshorizonts, in dem verschiedene Szenarien mit unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten versehen würden, auf die man sich entsprechend vorbereiten müsse.
Die Betrachtung unterschiedlicher, zeitdiagnostisch interpretierbarer Begriffsgeschichten verkompliziert ersichtlich die Möglichkeit einer allgemeinen Ausdeutung – eine Einsicht, die SIMON SPECHT (Potsdam) mit einer Analyse des Fortschrittsbegriffs unterstrich. So betonte Specht in Absetzung von der wirkmächtigen zeithistorischen These eines markanten Bruchs des Fortschrittsparadigmas in den frühen siebziger Jahren, Glaube an und Kritik am Fortschritt seien durchgängige Motive des 20. Jahrhunderts. Anhand von Lexikoneinträgen und Parlamentsdebatten differenzierte Specht eine aktiv-gestalterische und eine passiv-erwartende Fortschrittsvorstellung, wobei sich erstere stärker in der sozialen Dimension des Fortschritts, letztere hingegen in dessen technischer Dimension artikuliert habe. Specht beobachtete ferner eine „Entpolitisierung“ des Fortschrittsbegriffs, indem im Laufe des 20. Jahrhunderts parteispezifische Fortschrittsvorstellungen ebenfalls abnahmen.
In der Abschlussdiskussion plädierte WILLIBALD STEINMETZ (Bielefeld) in diesem Sinne für eine stärkere Berücksichtigung der begriffsgeschichtlichen Entwicklungen der ersten Jahrhunderthälfte, die Deutungsaspekte für die zweite Jahrhunderthälfte nochmals differenzieren könnten. Auch dürften empirische Tools wie Kollokations- und Frequenzanalysen nicht das qualitative Studium der Quellen ersetzen. Steinmetz empfahl ferner, deutlicher zwischen einer semantischen und einer verwendungspragmatischen Dimension von Begriffsveränderungen zu unterscheiden, um Kategorien wie Fragmentierung, Verflüssigung und Ausdifferenzierung genauer definieren zu können. Für eine Begriffsgeschichte der jüngsten Vergangenheit stelle die pluralistische Erweiterung von Kommunikationsräumen ein entscheidendes Strukturprinzip dar, das auch Begriffsgeschichten pluraler machen müsse, so etwa wenn die politische Aneignung wissenschaftlicher Begriffe wie jüngst durch den Rechtspopulismus diesen Begriffen genuin andere Funktionen zuschreibe. Auch die transnationale Dimension und die Bedeutung von fremdsprachigen Begriffstransfers, wie sie in einigen Vorträgen aufschien, stelle eine stärker zu berücksichtigende Besonderheit der jüngsten Begriffsgeschichte dar. Wie ein begriffsgeschichtliches Lexikon vor dem Hintergrund der zunehmenden Pluralisierung, Internationalisierung, aber auch – wie etwa das Schicksal der DDR zeigt – vor der Unbeständigkeit von Erfahrungs- und Kommunikationsräumen geschrieben und integriert werden kann – für diese Frage, aber ebenso für die allgemeinen Potentiale und Grenzen einer Begriffsgeschichte für das 20. Jahrhundert schärfte die Tagung das weitere Nachdenken.
Konferenzübersicht:
Was der Fall ist…
Moderation: Michael Homberg (ZZF)
Martina Steber (IfZ, München/Augsburg): Auf dem Boden der „Wirklichkeit“. Antitotalitärer Konsens und politische Sprache in der Bonner Republik
Ernst Müller / Alexander Friedrich (ZfL, Berlin): „Die Fakten stimmen nicht!“ Zur Begriffsgeschichte der Tatsache im vor- und postfaktischen Zeitalter
Soziale Beziehungen
Moderation: Martina Steber (IfZ, München/Augsburg)
Christiane Reinecke (Flensburg): Über Ungleichheit anders sprechen? Zur transnationalen Karriere des Diskriminierungsbegriffs in sozialen Kämpfen und Diskursen
Sina Steglich (München): Das Ich als Vorbehalt. „Sorge“ als Argument in öffentlichen Auseinandersetzungen
Kristoffer Klammer (Freiburg): „Autorität“ und „Wahrheit“ im 20. Jahrhundert – eine Geschichte semantischer Destabilisierung?
Wissenschaftliches Wissen
Moderation: Barbara Picht (ZfL, Berlin)
Désirée Schauz (ZZF, Potsdam): Der Ruf nach wissenschaftlicher Evidenz. Zur semantischen Dynamik von „Wissenschaft“ im Zeichen medialer Kommunikation
Franziska Rehlinghaus (Göttingen): Zeichen, Mutmaßungen und Evidenz – Die vermeintliche Gewissheit des „Indikators“
Unsichere Zukünfte
Moderation: Falko Schmieder (ZfL Berlin)
Christian Geulen (Koblenz): Die „Krise“ als Konsens: Erfahrung und Erwartung seit 1970
Rüdiger Graf (ZZF, Potsdam): Der Aufstieg des „Risikos“ zwischen Verunsicherung und Kalkulierbarkeit
Simon Specht (ZZF, Potsdam): „Fortschritt sichern“? Gebrauchssituationen eines Grundbegriffs zwischen Erwartung und Gestaltung
Abschlussdiskussion
Kommentar: Willibald Steinmetz (Bielefeld)
Moderation: Rüdiger Graf (ZZF Potsdam)