HT 2023: Transnationale Verflechtungen in der polnisch-litauisch-sächsischen Union. Ein Neuansatz zur Erforschung der Geschichte Ostmitteleuropas im 18. Jahrhundert

HT 2023: Transnationale Verflechtungen in der polnisch-litauisch-sächsischen Union. Ein Neuansatz zur Erforschung der Geschichte Ostmitteleuropas im 18. Jahrhundert

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD) (Universität Leipzig)
Ausrichter
Universität Leipzig
PLZ
04107
Ort
Leipzig
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
19.09.2023 - 22.09.2023
Von
Jürgen Heyde, Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa, Leipzig

Über weite Teile des 18. Jahrhunderts waren Sachsen und Polen-Litauen (einschließlich der heutigen Ukraine und Belarus) nicht nur über einen gemeinsamen Herrscher (Personalunion) sondern auf vielen Ebenen auch in Kultur und Wirtschaft eng miteinander verflochten. Nach der Herrschaftszeit der Könige/Kurfürsten August II. und August III von 1697 bis 1763 wurde die Union unter veränderten Bedingungen in napoleonischer Zeit zwischen Sachsen und dem Herzogtum Warschau von 1806 bis 1815 noch einmal aufgenommen. Nationale Engführungen in den Historiographien aller beteiligter Länder führten dazu, dass dieser Epoche bislang vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde.

Seit einigen Jahrzehnten gewinnen allerdings europäische Perspektiven an Bedeutung, welche die häufig stereotypen nationalen Sichtweisen überwinden helfen. Zugleich hat sich die Forschung in jüngerer Zeit intensiv mit Phänomenen des Kulturkontakts, des Austauschs, der Verflechtung und Hybridisierung von Gesellschaften befasst sowie Formen der Personalunion bzw. des „composite state“ als spezifisch vormoderne Formen von Herrschaft untersucht. Vermeintlich gesicherte Fakten zur Union werden durch diese neuen Perspektiven neu kontextualisiert, und überkommene Deutungen in Frage gestellt.

Das Forschungsvorhaben „Polen-Litauen und Sachsen im 18. Jahrhundert (PLUS 18)“, welches den Anstoß zu dieser Sektion gab, möchte diese Perspektivwechsel für einen Neuansatz zur Erforschung der Geschichte Ostmitteleuropas im 18. Jahrhundert nutzen und die länderübergreifende Zusammenarbeit stärken. Ziel der Sektion war es, mit Historikerinnen und Historikern aus Polen, Litauen und Deutschland über die jeweiligen Forschungstraditionen zu diskutieren und die Chancen einer transnationalen Erforschung von Verflechtung, Kulturtransfer und Wissenszirkulation auszuloten. Exemplarisch wurden dabei Fallbeispiele in den Blick genommen, die sich den übergreifenden Themen Netzwerke, Kommunikation und Objekte/Materialität zuordnen lassen. Der Fokus richtete sich bewusst nicht nur auf die Zeit der Union von 1697 bis 1763, sondern auf das „lange“ 18. Jahrhundert insgesamt, um in der „longue durée“ vom späten 17. bis in das frühe 19. Jahrhundert die längerfristigen Auswirkungen auf den genannten Feldern sichtbar zu machen.

Nach den einleitenden Bemerkungen von ANDREAS RUTZ (Dresden), in denen er die Problemlage in der Erforschung der sächsisch-polnisch-litauischen Beziehungen umriss, folgte eine von Rutz moderierte Podiumsdiskussion mit JACEK KORDEL (Warschau), MINDAUGAS ŠAPOKA (Vilnius) und FILIP EMANUEL SCHUFFERT (Regensburg) zum Stand der Forschung in Polen, Litauen und Deutschland, bei der zudem auch vergleichende Perspektiven ausgelotet werden sollten. Der Diskussion vorangingen kurze Statements der Diskutanten:

Jacek Kordel nannte die Zeit der Union mit Sachsen eine der am wenigsten erforschten Epochen in der frühneuzeitlichen polnischen Geschichte, was sich vor allem im Vergleich zu den zeitlich benachbarten Regierungszeiten von Johann III. Sobieski, der als Sieger der Schlacht von Wien in die Geschichte einging, und Stanislaus II. August, während dessen Herrschaft Polen von der europäischen Landkarte verschwand, augenfällig zeige. Kordel verwies aber darauf, dass seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts allerdings zunehmend Versuche unternommen würden, die traditionell negative Beurteilung der Union zu revidieren und ein differenzierteres Bild zu entwerfen.

Mindaugas Šapoka verwies darauf, dass die Betrachtung der Union mit Sachsen in der litauischen Historiographie nicht von der Union zwischen Litauen und Polen zu trennen sei. Das 18. Jahrhundert erscheint daher vor allem als Periode, in welcher Preußen und Russland auf Kosten Polen-Litauens erstarkten und schließlich die Teilungen herbeiführten. Vor dem Hintergrund der Teilungen wurde die sächsische Periode innenpolitisch als Zeit der Anarchie beschrieben, während Ereignisse, die diesem negativen Bild widersprachen, nicht berücksichtigt wurden. Die jüngste litauische Geschichtsschreibung sei hingegen stark von der neuen polnischen Sicht auf die Union geprägt, welche die sächsische Periode als eine entscheidende Etappe auf dem Weg zur Bildung eines modernen Staates ansieht.

Filip Emanuel Schuffert lenkte den Blick auf die Rolle der sächsischen Landesgeschichtsschreibung, die lange Zeit stark von der borussischen Historiographie und ihrer antipolnischen Haltung beeinflusst war. Aus dieser Sicht galt die Unionszeit als erfolglose Episode; für das 18. Jahrhundert wurde zumeist nur der sächsische Unionsteil beachtet. In den letzten dreißig Jahren entstanden zwar in einigen Bereichen, wie der Kunst- und Musikgeschichte, detailreiche und tiefgreifende Arbeiten, jedoch steht eine sozial-, politik- und kulturgeschichtliche Beschäftigung mit der Union weiter aus.

In der anschließenden Diskussionsrunde warf Andreas Rutz die Frage nach der Namensgebung auf: sächsisch-polnische versus polnisch-sächsische bzw. polnisch-litauisch-sächsische Union. Alle drei Diskutanten unterstrichen, dass diese Frage in den jeweiligen Historiographien kaum eine Rolle spiele. So reduziert der polnische Sprachgebrauch, der zumeist von der „epoka saska“ spreche, die Union auf dynastische Aspekte, ohne den sächsischen Teil mitzureflektieren. Ähnlich sehe es für die litauische Geschichtsschreibung aus, bei der Reflektionen über die litauische Staatlichkeit im Vordergrund ständen. Dabei werde unterstrichen, dass die litauisch-sächsische Union nicht einfach eine Ableitung der polnisch-sächsischen Union gewesen, sondern neben der Realunion zwischen Polen-Litauen von 1569 als eine weitere (Personal-)Union zu werten sei. Forschungen zum sächsischen Unionsteil gebe es allerdings eher nicht. Filip Emanuel Schuffert griff die Fragestellung auf und regte an, die in der Reihenfolge implizierten Kategorien von Über- und Unterordnung zu reflektieren und einen möglichst neutralen Sprachgebrauch zu finden.

Bei der Frage nach den längeren Entwicklungslinien der historischen Forschung bestätigten sich die in den Eingangsstatements geäußerten Befunde. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert wurde die Unionszeit immer im Zusammenhang mit den späteren Teilungen Polens betrachtet. Nach 1945 seien aber neue Tendenzen auszumachen gewesen. Filip Emanuel Schuffert betonte, dass die Historikerkonferenz zwischen der DDR und Polen von 1956 zu einer Annäherung geführt habe. Józef Gierowski und Johannes Kalisch beherrschten beide sowohl Polnisch als auch Deutsch, was zu einer ersten bedeutenden Publikation führte 1. Vor allem in den 1980er-Jahren kam diese Zusammenarbeit jedoch aufgrund politischen Drucks seitens der DDR-Regierung zum Stillstand. Jacek Kordel bestätigte diesen Befund aus polnischer Sicht. Die marxistisch inspirierte Hinwendung zur Wirtschaftsgeschichte habe den Weg bereitet, den Wiederaufbau vor allem Warschaus seit circa 1730 positiv zu bewerten; auch in der Bildungs- und Kulturgeschichte sei die so genannte „sächsische Aufklärung“ als Frucht der Union gewürdigt worden. Auch in praktischer Hinsicht wurden die Kontakte bis in die 1970er-Jahre enger: so sei es sogar möglich gewesen Archivalien aus dem Staatsarchiv Dresden nach Krakau auszuleihen. Mindaugas Šapoka wies hingegen darauf hin, dass Litauen als Teil der Sowjetunion nicht an dieser Entwicklung teilhaben konnte. Für die litauische Historiographie standen die sowjetischen Archive offen, während die polnischen und deutschen Archive weitgehend unzugänglich blieben. Zudem sei die kommunistische Maßgabe, keine positiven Aspekte der deutschen Geschichte zu thematisieren, eine Belastung gewesen, während der Kampf gegen die deutschen Eindringlinge ein durchgängiges Narrativ seit dem Mittelalter zu bilden hatte.

Bei den Herausforderungen für die Zukunft unterstrich Filip Emanuel Schuffert die Notwendigkeit, den kolonialen Blick auf Polen zu überwinden und die Geschichte des Nachbarlandes unvoreingenommen zu betrachten. Dazu seien unbedingt auch Kenntnisse der polnischen Sprache notwendig. Jacek Kordel mahnte, die Vielfalt der archivalischen Überlieferung, nicht nur in Warschau und Dresden, sondern auch in Minsk sowie in Moskau und St. Petersburg im Auge zu behalten. Hier schaffe die aktuelle politische Lage wieder neue Hindernisse für eine umfassende Forschung. Mindaugas Šapoka verwies auf die Probleme beim Spracherwerb, die nicht nur die Sprachen der Region, sondern auch das bereits im 18. Jahrhundert sehr wichtige Französisch umfassten. Positive Auswirkungen werde hingegen die voranschreitende Digitalisierung haben, die es ermöglicht, Archivalien auch aus der Ferne zu nutzen. Andreas Rutz unterstrich die Notwendigkeit, auch Belarus und die Ukraine in die Erforschung der Union einzubeziehen.

Im zweiten Teil der Sektion standen drei Vorträge zur Geschichte polnisch-litauisch-sächsischer Verflechtungen im 18. Jahrhundert im Mittelpunkt. HANS-JÜRGEN BÖMELBURG (Gießen) sprach über die Rolle höfischer, adliger und wirtschaftlicher Netzwerke. Die Chancen einer modernen Netzwerkforschung zu Polen-Sachsen seien bisher nicht aufgegriffen worden, obwohl Tausende von polnischen und sächsischen Adligen, Beamten, Handwerkern, Militärs und „Spezialisten“, die jeweils zeitweise oder dauerhaft im anderen Teil der Union tätig waren, breite Spuren in der archivalischen Überlieferung der gesamten Großregion hinterlassen hätten. Insbesondere Korrespondenzbestände und Briefarchive seien geeignet, polnisch-sächsische Netzwerke des 18. Jahrhunderts und deren sozioökonomische und kulturelle Grundlagen und Funktionsweisen zu erforschen. Anhand von drei mikrohistorischen Sonden skizzierte Bömelburg die Chancen der Erforschung solcher Bestände. Dabei sei besonders auf Praktiken der Mehrsprachigkeit in einer multikulturellen Großregion zu achten, auch weibliche Netzwerke müssten stärker in den Blick genommen werden.

MARTA KUC-CZEREP (Warschau) beleuchtete „Die Kommunikation zwischen Dresden und Warschau als Basis für den Wissens- und Ideentransfer“. Eine der Folgen der sächsisch-polnisch-litauischen Union sei die Intensivierung der Wanderungsbewegungen gewesen, an denen verschiedene Berufsgruppen beteiligt waren. Dies förderte den Aufbau gegenseitiger Beziehungen und die Entwicklung zahlreicher Formen der Kommunikation, wodurch die Voraussetzungen für den Transfer von Wissen und Ideen geschaffen wurden. Beispielhaft erläuterte die Referentin dies anhand der Aktivitäten von Buchhändlern und Druckern wie Michal Gröll, die durch ihre Initiativen im Bereich der Presseentwicklung und der polnisch-deutschen Übersetzungen eine wichtige Rolle als Vermittler im Kulturtransfer zwischen Sachsen und Polen-Litauen im 18. Jahrhundert spielten.

ANNA ZIEMLEWSKA (Warschau) wandte sich den Potentialen der Objektgeschichte zu. Sie verwies auf die aktuellen Diskussionen um einen möglichen Wiederaufbau des „Sächsischen Schlosses“ im Zentrum Warschaus, welche auch ein Nachdenken über die „sächsische Zeit“ und über das materielle und immaterielle Erbe der sächsisch-polnisch-litauischen Union ausgelöst hatten. Sie ging auf das Beispiel des von August II. gestifteten Ordens des Weißen Adlers ein. Dieser Orden ist die älteste und bis heute wichtigste polnische Staatsauszeichnung, deren Geschichte das Schicksal des polnisch-litauischen Staates in den letzten drei Jahrhunderten widerspiegele. Eine Darstellung Augusts III. in polnischer Tracht (dem sogenannten „Kontusz“) verweise auf die Symbolik der Verbundenheit mit Land und Tradition, die in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts große Bedeutung gehabt habe. Die „polnischen Figuren“ der Meißener Porzellanmanufaktur um 1740 verwiesen auf die Präsenz der Union im bürgerlichen Konsumverhalten.

In der von Joachim Schneider moderierten Abschlussdiskussion wurden noch einmal zentrale konzeptionelle Probleme des Projekts thematisiert: Wie kann die Rolle Litauens, aber auch anderer historischer Regionen reflektiert werden? Inwieweit können die Adelslandschaften Polen-Litauens im 18. Jahrhunderts als integriert angesehen werden, welche kulturellen oder identifikatorischen Differenzen sind zu beachten? Wie sind die weiteren Verflechtungen, etwa zu Preußen oder Russland, einzubeziehen? Welche Bedeutung spielt die Namengebung für die Wahrnehmung des Projekts?

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Andreas Rutz (Dresden) / Joachim Schneider (Dresden)

Podiumsdiskussion - Die Erforschung der Union in Polen, Litauen und Deutschland. Forschungsstand und vergleichende Perspektiven: Andreas Rutz (Dresden), Jacek Kordel (Warschau), Mindaugas Šapoka (Vilnius), Filip Emanuel Schuffert (Regensburg)

Hans-Jürgen Bömelburg (Gießen): Höfische, adlige und wirtschaftliche Netzwerke. Quellengrundlagen und erste Ergebnisse

Marta Kuc-Czerep (Warschau): Die Kommunikation zwischen Dresden und Warschau als Basis für den Wissens- und Ideentransfer

Anna Ziemlewska (Warschau): Orden vom Weißen Adler, Porzellantasse und Kontusz. Objekte als Symbole für transnationale Verflechtungen

Anmerkung:
1 Johannes Kalisch / Józef Gierowski (Hrsg.), Um die polnische Krone. Sachsen und Polen während des Nordischen Krieges 1700–1721 (Schriftenreihe der Kommission der Historiker der DDR und Volkspolens 1), Berlin (Ost) 1962.

https://www.historikertag.de/Leipzig2023/
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