HT 2023: Das Ende des Originals? Quellenkritik genuin elektronischer „Quellen“ in Archiven sowie in der historischen Forschung und Lehre

HT 2023: Das Ende des Originals? Quellenkritik genuin elektronischer „Quellen“ in Archiven sowie in der historischen Forschung und Lehre

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD) (Universität Leipzig)
Ausrichter
Universität Leipzig
PLZ
04009
Ort
Leipzig
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
19.09.2023 - 22.09.2023
Von
Christian Schlöder, Sächsisches Staatsarchiv

Bereits auf den Historikertagen 20161 und 20182 wurden Fragen zur digitalen Quellenkunde gemeinsam von Archivar:innen und Historiker:innen diskutiert. Aufgrund der hohen Relevanz des Themas bestand Konsens, sich zukünftig besser vernetzen und zum Thema stärker austauschen zu wollen. Auf dem Historikertag 2023 befasste sich die Sektion „Das Ende des Originals?“ ausschließlich mit genuin elektronischen Unterlagen, sogenannten „born digitals“. Darauf wies auch ANDREA WETTMANN (Dresden) in ihrer kurzen Begrüßung zu Inhalt und Ablauf der Sektion hin.

BETTINA JOERGENS (Duisburg) betonte in ihrer Einführung die Trennung von Medium und Information im digitalen Zeitalter – ein fundamentaler Bruch mit der in der analogen Welt selbstverständlichen Untrennbarkeit von Medium und Informationsträger. Dies führt dazu, dass Spuren über Veränderungen außerhalb des Mediums zu finden sind, in der Regel in Metadaten. Ohne diese Kontextinformationen gelingt zukünftig auch kein Nachweis über die Authentizität einer Quelle. Somit ist es für Historiker:innen unerlässlich, die Herkunfts- und Prozessmetadaten zu verstehen. Die Geschichtswissenschaft braucht daher Methoden und Instrumente, um genuin elektronische Archivalien wissenschaftlich auswerten zu können. Ein enger Austausch zwischen Archivwesen und Geschichtswissenschaft kann dazu dienen, einen Instrumentenkasten für die Arbeit mit diesen Quellen zu entwickeln.

BASTIAN GILLNER (Duisburg) erläuterte im ersten Vortrag der Sektion die Verwaltungspraxis im Aktenzeitalter, das seit nunmehr über 500 Jahren immer noch andauert. In den meisten Verwaltungen wurde das Papier aufgrund seiner Materialität notgedrungen nach Sachlogik und Chronologie in Akten sehr ähnlich geordnet. Diese gebündelten Informationen konnten sowohl von der Verwaltung selbst als auch später von Historiker:innen genutzt werden. Daraus zieht Gillner zwei Schlüsse: 1. Archive sind in erster Linie Verwaltungseinrichtungen. 2. Diese Verwaltungspraxis zerbricht gerade, weshalb neue Methoden für die Quellenkritik anzuwenden sind. Die sich rasch verändernde Verwaltungspraxis erläutert er am Beispiel von E-Mails, Fachverfahren und Dateiablagen. In diesen Systemen erfolgt in der Regel keine Abbildung von Geschäftsprozessen im Sinne der klassischen Aktenführung: Beispielsweise übernimmt ein E-Mail-Dienst E-Mails chronologisch nach Datum oder alphabetisch nach Name – eine sachlogische Ordnung wird jedoch nicht geschaffen und damit keine Abbildung von Geschäftsprozessen. Die elektronische Akte stellt mithin den Versuch dar, die Akte in das digitale Zeitalter zu überführen. Dies geschieht jedoch nicht automatisch; es ist nach wie vor eine bewusste Veraktung durch Anwendende notwendig. Da dies nur in einer nichtexistierenden idealen Welt reibungslos funktioniert, müssen sich Historiker:innen zukünftig auf eine unübersichtlichere und fragmentierte Quellenbasis einstellen. Deshalb sollte zukünftig stärker als bisher die Prozesssicht bei der Quellenanalyse einbezogen werden.

CHRISTINE FRIEDERICH (Dresden) fragte in Ihrem Vortrag danach, wie das Vetorecht der Quellen nach Reinhart Koselleck auch im digitalen Zeitalter Anwendung finden kann. Nach der Interpretation Kim Christian Priemels kennzeichnen wissenschaftliche Standards wie Nachweispflicht, Zitationskriterien und Quellenkritik das Vetorecht der Quellen.3 Das Quellenangebot bestimmen die Archive durch die Auswahl der Unterlagen, die archiviert werden. Genuin elektronische Unterlagen sind unter anderem durch ihre Fluidität gekennzeichnet. Friederich zeigte dies am Beispiel von Webseiten: Die Darstellung dieser Quellen beruht auf einem Zusammenspiel von Hard- und Software. So sieht beispielsweise die gleiche Webseite auf einem Smartphone anders aus als auf einem Desktop-PC. Webseiten werden auch nicht täglich archiviert; zudem entfallen dynamische Anteile. Archive sind sich dieser Grenzen bewusst. Doch indem Archive ihre Prozesse transparent halten und die erforderlichen Metadaten vorhalten, können sie weiterhin authentische und integre Quellen für die Nutzung bereitstellen. Auch genuin elektronische Quellen bewahren so ihr Vetorecht.

VALÉRIE SCHAFER (Luxemburg) hob in Ihrem Vortrag hervor, dass Web-Archive keine Originale verwahren, sondern lediglich in Anlehnung an Niels Brügger „wiedergeborene digitale Quellen“.4 Für ihre Beispiele nutzte sie „historische“ Webseiten, die über die Wayback Machine der Non-Profit-Organisation Internet Archive5 zugänglich sind. Sie zeigte auf, wie lückenhaft diese Überlieferung ist: Web-Archive haben wegen der enormen Menge das grundsätzliche Problem einer Qualitätskontrolle. Typisch ist zum Beispiel, dass bei archivierten Webseiten aus den 1990er-Jahren oft Bilder fehlen. Bei der Twitter (jetzt X) Archivierung führen zum Beispiel Mengenbeschränkungen zu Lücken. Deshalb sind Kontextualisierung und Einordnung in den Überlieferungszusammenhang besonders wichtig. Nur so können quellenkritische Methoden auch auf genuin elektronische Unterlagen angewandt werden. Historiker:innen können diese Quellen nur mit hohem Zeitaufwand und weiteren Methoden, wie dem „Scalable Reading“, zielführend auswerten.

Im fünften und letzten Vortrag der Sektion sprach ANDREAS FICKERS (Luxemburg) über historische Datenkritik am Beispiel der Online-Lehrplattform Ranke 2.0, die vom „Luxembourg Centre for Contemporary and Digital History“ betrieben wird.6 Auch in Zukunft werden Historiker:innen keine Expert:innen für digitale Forensik sein müssen, dennoch sollten neue Kompetenzen in die digitale Hermeneutik einfließen. Zudem muss ein Problembewusstsein bei allen historisch arbeitenden Wissenschafler:innen gestärkt werden. Drei Problembereiche kristallisieren sich dabei heraus: 1. Digitale Objekte sind dynamisch. 2. Der Begriff des Originals ist überholt; es sollte stattdessen der informationswissenschaftliche Fachbegriff der „Integrität“ genutzt werden. 3. Kontextinformationen sind elementar für das Verständnis digitaler Quellen, weshalb Verluste an diesen Informationen vermieden werden sollten. Die Plattform Ranke 2.0 bietet sieben Lernmodule zur digitalen Daten- bzw. Quellenkritik für genuin elektronische Unterlagen sowie für digitalisierte analoge Quellen. Diese Module sollen mittelfristig in Englisch, Deutsch und Französisch angeboten werden. Vorschläge zur Weiterentwicklung der Plattform und Unterstützung durch die Community sind willkommen.

Den Abschluss bildeten zwei Kommentare; zum einen vom Archivar CHRISTIAN KEITEL (Stuttgart) zu den Beiträgen der beiden Historiker:innen Andreas Fickers und Valérie Schafer und zum anderen vom Historiker KIRAN-KLAUS PATEL (München) zu den Beiträgen der beiden Archivar:innen Bastian Gillner und Christine Friederich.

Kiran-Klaus Patel führte drei Punkte an: 1. Der Dialog zwischen Archivar:innen und Historiker:innen wird wichtiger. Es dominierte in den Vorträgen der Sektion die Perspektive der staatlichen Archive. Für Historiker:innen sind aber auch andere Quellen relevant. Wer archiviert digitale Unterlagen von Unternehmen, Nichtregierungsorganisationen und von Wissenschaftler:innen? 2. Der Begriff des Originals ändert sich, das Material der Quellen wird unwichtiger. Hierbei wird von den Historiker:innen mehr Sensibilität im Umgang mit diesen Quellen abverlangt. Dies kann nicht alleine den Archiven überlassen werden. 3. Die Arbeit der Archive ist weit fortgeschritten, dagegen hängt das Problembewusstsein vieler Historiker:innen hinterher. Nur ein kleiner Kreis von Forschenden befasst sich intensiv mit genuin elektronischen Quellen. Wie können Historiker:innen die Arbeit der Archive stärker unterstützen?

Christian Keitel stellte in seinem Kommentar klar, dass es Eingriffe in Quellen nicht erst mit den großen Datenmengen von Web-Archiven gibt, sondern dass bereits analoge Archivalien kopiert und teilweise nur in Abschriften aufbewahrt wurden. Die Bewertung von Webseiten kann nicht umfassend erfolgen, es können nur Teile archiviert werden. Historiker:innen sollten den Archiven Vorschläge unterbreiten, welche konkreten Teile aus dem Internet aus ihrer Sicht zu archivieren sind. Außerdem fragt er, ob zertifizierte Archive den Historiker:innen helfen würden und ob Arbeitsprotokolle der Archive von den Forschenden benötigt werden.

Im Anschluss an die Kommentare folgte eine von Andrea Wettmann moderierte Diskussion im Plenum. Unter den Diskutanten waren neben Archivar:innen und Historiker:innen auch Studierende und Mitarbeitende von Museen und Bibliotheken, weshalb das Thema aus vielen verschiedenen Perspektiven beleuchtet werden konnte. Dabei wurde deutlich, dass die staatlichen Archive im Rahmen Ihrer Zuständigkeiten professionell und umfassend bereits seit einigen Jahren elektronische Quellen samt den notwendigen Kontextinformationen archivieren. Bisher werden diese Quellen jedoch kaum von Historiker:innen nachgefragt.

Aus der Sicht der Forschung sind aber nicht nur staatliche Unterlagen relevant. Auch nichtstaatliche Überlieferung ist von Interesse, beispielsweise von Unternehmen, Vereinen und Privatpersonen. Hier treten Überlieferungslücken auf, die es jedoch auch bereits im analogen Zeitalter gab. Sie sind auf die Zuständigkeiten der staatlichen Archive zurückzuführen, die archivgesetzlich verankert sind und die Grundlage der Arbeit der staatlichen Archive bilden. Zudem treten neben den öffentlichen Archiven auch weitere Akteure, wie Museen und Bibliotheken, auf diesem Feld in Erscheinung. Es wurde kritisch angemerkt, dass diese im 19. Jahrhundert entstandene Abgrenzung zwischen Erinnerungseinrichtungen möglicherweise im digitalen Zeitalter nicht mehr zielführend ist.

Einigkeit bestand darüber, dass der seit mindestens 20 Jahren geforderte Dialog zwischen Archiven und Forschung fortgeführt und intensiviert werden sollte. Drohende Überlieferungslücken sollen so frühzeitig erkannt und verhindert werden. So wurde etwa darauf verwiesen, dass auch die Archivierung von Suchmaschinen-Ergebnissen für die Forschung relevant sein könnte: Informationen, die in einschlägigen Suchmaschinen auf der ersten Seite zu finden sind, haben eine viel größere Wirkmächtigkeit als nachrangig aufgeführte Informationen.

Diese konkreten Hinweise aus der Diskussion bieten zahlreiche Anknüpfungspunkte für die weitere Arbeit mit genuin elektronischen Unterlagen – dies betrifft sowohl die Archivierung als auch die Benutzung. Es bleibt somit zu hoffen, dass auf dem nächsten Historikertag über erste Ergebnisse dieses verstärkten Austauschs berichtet werden wird.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Andreas Fickers (Luxemburg) / Andrea Wettmann (Dresden) / Bettina Joergens (Duisburg)

Bettina Joergens (Duisburg): Einführung

Bastian Gillner (Duisburg): Obskure Praktiken. Die Entstehung genuin elektronischen Verwaltungsschriftguts als quellenkundliche Herausforderung

Christine Friederich (Dresden): Fluide Archivalien? Die Variabilität von born digitals in Archivierungsprozessen und das Vetorecht der Quellen

Valérie Schafer (Luxemburg): Don’t try to be original! Web archives as ‘reborn digital sources’

Andreas Fickers (Luxemburg): Historische Datenkritik als Kernbestandteil der digitalen Hermeneutik erlernen – das Beispiel Ranke 2.0

Kiran-Klaus Patel (München): Kommentar

Christian Keitel (Stuttgart): Kommentar

Anmerkungen:
1 Titel der Sektion 2016 „Grundwissenschaften in der Digitalen Welt“, <https://www.historikertag.de/Hamburg2016/programm-2016/wissenschaftliches-programm/fachsektionen/digitale-geschichtswissenschaft.html> (09.11.2023).
2 Titel der Sektion 2018 „Quo vadis Quellenkritik. Digitale Perspektiven“, online: <https://www.historikertag.de/Muenster2018/sektionen/quo-vadis-quellenkritik-digitale-perspektiven/> (09.11.2023).
3 Kim Christian Priemel, Eingangsstatement, Geschichtliche Grundfragen, Teil 2) Vetorecht der Quellen?, in: Zeitgeschichte-online Juni (2022), <https://zeitgeschichte-online.de/themen/kim-christian-priemel-teil-2-vetorecht-der-quellen> (09.11.2023).
4 Niels Brügger, Digital Humanities in the 21st Century. Digital Material as a Driving Force, in: Digital Humanities Quarterly 10,3 (2016), <http://www.digitalhumanities.org/dhq/vol/10/3/000256/000256.html> (09.11.2023).
5 <https://archive.org/web/> (09.11.2023).
6 <https://ranke2.uni.lu/lessons/> (09.11.2023).

https://www.historikertag.de/Leipzig2023/
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