Geschichtsdidaktisch forschen. Theorie und Empirie im Dialog

Geschichtsdidaktisch forschen. Theorie und Empirie im Dialog

Organisatoren
Arbeitskreis „Geschichtsdidaktik theoretisch“; Arbeitskreis „Empirische Geschichtsunterrichtsforschung“ der Konferenz für Geschichtsdidaktik; Sebastian Barsch; Martin Nitsche; Jörg van Norden; Lale Yildirim
PLZ
50923
Ort
Köln
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
04.10.2023 - 06.10.2023
Von
Miriam Grabarits, Institut für Geschichte, TU Darmstadt; Freya Kurek, Didaktik der Geschichte, Universität zu Köln

„Vernünftig streiten kann man nur darüber, wie genau das Verhältnis von Theorie und empirischer Forschung gestaltet werden kann“1 – nicht, ob die Empirie der Theorie oder umgekehrt bedarf. Zu diesem Zweck, um sich „vernünftig [zu] streiten“ und in einen fruchtbaren Austausch zu treten, fand die Tagung „Geschichtsdidaktisch forschen. Theorie und Empirie im Dialog“ vom 04. bis 06. Oktober 2023 an der Universität zu Köln als gemeinsame internationale Tagung der Arbeitskreise „Geschichtsdidaktik theoretisch“ und „Empirische Geschichtsunterrichtsforschung“ der Konferenz für Geschichtsdidaktik, Verband der Geschichtsdidaktikerinnen und Geschichtsdidaktiker Deutschlands e.V. (KGD), statt. Die gemeinsame Tagungsausrichtung stellte hierbei ein Novum dar. Die große Zahl an Einreichungen, die sich im vielfältigen Tagungsprogramm niederschlug, macht aber deutlich, dass ein konkreter Gesprächsbedarf adressiert wurde, den es aufrechtzuerhalten gilt.2 In ihren einführenden Worten bezeichneten SEBASTIAN BARSCH (Köln) und JÖRG VAN NORDEN (Bielefeld) die üblicherweise vorherrschende Trennung von Theorie und Empirie als eine künstliche, was sich auch an der aktuellen Forschungspraxis und den Beiträgen der Tagung zeigen ließe.

PHILIPP MCLEAN (Köln) widmete sich in seinem Auftaktvortrag der Frage, was eigentlich Ziele historischer Bildung seien. Mit der Feststellung, dass der Begriff der „historischen Bildung“ zwar viel verwendet, aber kaum eindeutig definiert sei, setzte er ein Thema, das während der Tagung noch häufig aufgegriffen wurde: die Notwendigkeit geschichtsdidaktische Begriffe genauer zu diskutieren und klarer zu definieren. Als ein übergeordnetes Ziel der Geschichtsdidaktik benannte er die Förderung reflektierten Geschichtsbewusstseins, das auf die Mündigkeit3 des Einzelnen ziele. Die Berücksichtigung gesellschaftlicher Herrschafts- und Machtverhältnisse, die nicht nur Bildungs- und Reflexionsprozesse, sondern auch Forschungsprozesse beeinflussten sei dabei notwendig. Eine Freiheit von Normen sei für das Feld der Bildung nicht zu haben, was aber kein Manko, sondern notwendige Tatsache sei. Problematisch sei es, wenn die eigenen normativen Grundlagen sowohl in der Theorie als auch der empirischen Forschung nicht transparent reflektiert würden. Diesbezüglich verwies McLean auf die Forschenden selbst, die normierend auf Ergebnisse Einfluss nähmen. Transparenz über diese Normen sei daher oberstes Gebot, damit Normativität nicht zur Falle werde.

JESSICA KREUTZ (Frankfurt am Main) stellte ihre Studie zu den Förderrichtlinien der „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ vor, um die Rolle von Normen in empirischer Forschung und deren Ausrichtung an der empirischen Realität der Hochschulwirklichkeit zu diskutieren. Im besten Fall könne ihre Forschung dazu beitragen, ein Modell zur Planung „qualitätsvoller“ geschichtsdidaktischer Hochschullehre zu entwickeln, wobei die Vorgaben durch die Qualitätsoffensive des Ministeriums einen großen normativen Einfluss auf die Gestaltung der Hochschulrealität hätten. Kritisch skizzierte sie das komplexe Zusammenspiel zwischen Förderbestimmungen, pädagogischen Praktiken und den Erwartungen verschiedener geschichtsdidaktischer Interessengruppen, die die Definition von „Qualität“ bestimmten. Quantitative Forschung sei darüber hinaus immer normativ, denn nur, was im Vorfeld normativ bestimmt würde, ließe sich in der Untersuchung auch messen. Dies veranlasste sie zur Frage: Was ist für Geschichtsdidaktiker:innen „qualitätsvolle“ Hochschullehre?

JÖRG VAN NORDEN erläuterte in seinem Vortrag den Unterschied zwischen „Interesse“ und „Faszination“ als unterschiedliche Zugänge zu Geschichte. Von der Annahme ausgehend, dass wir uns Geschichte nur als vergangener Wirklichkeit annähern können und dabei immer normativ geprägt seien, müsse auch empirische Forschung kritisch betrachtet werden, wenn sie Dinge als „wahr“ postuliere. Um sich der Beschäftigung mit Vergangenheit produktiv zu nähern, lohne eine Auseinandersetzung mit der Frage, was die Faszination an Vergangenem ausmache, der Grundlage für die Auseinandersetzung mit Geschichte. Sich von der Vergangenheit als Unbekanntem „befremden zu lassen“ könne zeigen, dass die Gegenwart nicht alternativlos sei. Mit der Frage, wie eine von Faszination statt von anvisiertem Kompetenzerwerb geleitet Beschäftigung mit Vergangenem in der Schule umgesetzt werden könne, schloss van Norden das erste Panel.

DANIEL BRANDAU (Bielefeld) präsentierte Beobachtungen zur curricularen Verortung von Technikgeschichte im Sachunterricht. Dabei problematisierte er drei Aspekte: Häufig werde Technikgeschichte als Erfolgs- oder Katastrophengeschichte erzählt, außerdem ließe sich ein Großteil als Fortschrittserzählungen klassifizieren, was nicht dem heutigen Selbstverständnis der Disziplin entspricht. Zudem fokussiere der Sachunterricht eine wenig diverse Geschichte großer Erfindungen und ihrer Erfinder. Technik und historisches Lernen, im Sinne der Vermittlung eines Bewusstseins für den Konstruktcharakter von Geschichte, stünden so unverbunden nebeneinander. Mögliche ertragreiche Anknüpfungspunkte an die Sachunterrichtsforschung sah Brandau in der Erhebung der Präkonzepte der Lernenden und der Conceptual-Change-Forschung. Auf Nachfrage verwies Brandau auf alternative Erzählmuster neben der Dichotomie von „Romanze oder Tragödie”, bspw. Infrastrukturgeschichte oder Mediengeschichte(n).

In ihrem Werkstattbericht stellte ANNABELLE THURN (Freiburg) die gemeinsam mit MIRIAM SÉNÉCHEAU (Freiburg), EVA-KRISTINA FRANZ (Trier) und BETTINA DEGNER (Heidelberg) gebildete Synopse dreier Ansätze aus Theorie und Empirie vor, mithilfe derer ein Instrument entwickelt wurde, um das historische Denken und Geschichtsbewusstsein von Kindern (4-12 Jahre) zu diagnostizieren. Das interdisziplinäre Team schlägt als Erhebungsinstrument ein material- und bildgestütztes Interview vor, wobei kindliche Präkonzepte, bspw. mittels Playmobil®-Figuren, erhoben werden. Historisches Denken verstand Thurn hierbei als Prozess historischer Sinnbildung, dessen zentrale Basisoperationen die Re- und De-Konstruktion seien, welche historischer Methodenkompetenz bedürften. Das (reflektierte) Geschichtsbewusstsein stelle sowohl Bedingung als auch Ziel historischen Denkens bzw. historischer Bildung dar.4 Inwiefern sich Kompetenzen in Interview-Formaten messen lassen und ob die Anlage der Synopse als „Baukasten“ in der Form verwendbar sei, bleibt abzuwarten.

„Übergänge“, bspw. von Primar- zu Sekundarstufe, fokussierte HEIKE KRÖSCHE (Innsbruck) in ihrem Vortrag. Der bisher wenig untersuchte Themenkomplex werfe Fragen danach auf, welche Bedeutung historische Bildung für den bzw. im Übergang habe und welche Aufgaben der Fachdidaktik bei der Gestaltung dieser Übergänge zukämen. Krösche skizzierte ihren theoretischen Weg anhand der Begriffe „Übergang“, „Transition“ (Welzer) und „Trajektorien“ (Bourdieu). Als Basisanforderungen einer praxeologischen Rekonstruktion stellte sie drei Prinzipien (relational, rekonstruktiv und prozessual) vor und verknüpfte damit dem Tagungsthema angemessen Theorie und Empirie. Zuletzt problematisierte sie auf Basis von Lehrkräfte-Interviews, dass es bisher nicht gelänge, Transitionsprozesse ausreichend zu erfassen. Der professionstheoretische Zugang sollte auch deshalb um die Perspektive der Lernenden ergänzt werden.

Das zweite Panel schloss mit dem noch in der Abschlussdiskussion nachhallenden Vortrag von CORINNA LINK (Heidelberg) und MANFRED SEIDENFUß (Heidelberg). Ausgehend von der Grundannahme, dass historisches Wissen durch Erzählen beobachtbar gemacht werden könne, waren Lernende aller Schulzweige dreier Bundesländer der Klassen 9-10 dazu eingeladen, „ihre“ Geschichte zu erzählen. Die 92 bisher ausgewerteten Texte stellen dabei nur einen Teil der ca. 1.000 eingegangenen Produkte dar. Das Material wurde auf gängige Erzähltypen und Sinnbildungsangebote geschichtsdidaktischer Theorien hin untersucht. Auffällig: 51 Prozent konnten nicht zugeordnet werden. Seidenfuß plädierte dennoch für ihre Charakterisierung als „historische Erzählung“ und erteilte den Theoretiker:innen den Auftrag, Klärung in den Begriff der Narrativität zu bringen. Die Notwendigkeit des Austauschs zwischen Theorie und Empirie wurde gerade anhand dieses Vortrags deutlich.

Als Einstieg in das Panel zu geschichtsdidaktischer Professionalisierung stellten MARIO RESCH (Heidelberg) und MANFRED SEIDENFUSS (Heidelberg) das FunEKOL-Projekt5 und empirische Befunde aus über zehn Jahren Professionalisierungsforschung vor. Sie stellten zentrale Ergebnisse aus der Längsschnittstudie vor, dessen theoretisches Modell die Analyse und Bewertung professioneller Handlungskompetenzen angehender Lehrkräfte im zweiten Studienabschnitt fokussierte: die Annahme, dass sich fachwissenschaftliche und geschichtsdidaktische Kompetenzen über die Ausbildung hinweg progressiv verändern würden, konnte nicht bestätigt werden. Insbesondere sei keine Korrelation zwischen Veränderungen im Fachwissen und geschichtsdidaktischem Können nachweisbar. Die dichotome Trennung von Theorie und Praxis scheint daher für das Forschungsdesign nicht sinnvoll. Diskutiert wurde daraufhin, ob die Praxisphase umgestaltet werden müsste, außerdem sei der Einbezug der Studierendenperspektive für dessen Gestaltung und die Interpretation der beobachteten Effekte notwendig.

Im Kontext ihrer Studie „Historische Lernprozesse erforschen“ verdeutlichten JAN SCHELLER (Greifswald) und MARTIN NITSCHE (Aarau) die Bedeutung des Zusammenwirkens von Theorie und Empirie in der Geschichtsdidaktik. Die Grundannahme, dass Empirie immer theoriebedürftig sei, stellten die Vortragenden voran. Unsicher waren sie, inwiefern Empirie zur Entwicklung von Theorien beitragen könne. Die Ergebnisse der Studie, in der Teilnehmende historische Fragen entwickeln sollten, zeigten, dass bei historischer Narration fachübergreifende sowie fachspezifische Prozesse ablaufen, die sich schwer voneinander trennen ließen. Insgesamt verdeutliche die Studie, dass sich Theorie und Empirie gegenseitig ergänzen und ihre Beziehung von den Zielen der Erkenntnis und dem Schritt im Forschungsprozess abhänge. Unklar schien erneut, was „historisches Denken“ überhaupt bedeute, und ob es fachspezifisch sei, oder sich in Form von Narrationen auch in anderen Disziplinen finde.

IMKE SELLE (Osnabrück) und LALE YILDIRIM (Osnabrück) eröffneten das Digitalitäts-Panel mit der Vorstellung der im Rahmen einer interdisziplinär angelegten Lehrveranstaltung mit Geschichts- und Informatik-Studierenden durchgeführten explorativen Erhebung. Ziel war die Konzeption und Umsetzung einer Mixed-Reality-Ausstellung Osnabrücker Denkmäler. Der theoretische Ansatz der Seminarkonzeption basierte auf einer Verknüpfung von Ressourcen der Studierenden (Capability-Ansatz) mit der Ausbildung ihrer Digital Literacy (Agency-Ansatz) über das Digital Story Telling im Ausstellungsformat. Positiv wurde neben den gewählten neuartigen Erzähl- und Interaktionsformaten sowohl der produktive, interdisziplinäre Austausch zwischen den Studierenden als auch eine deutliche Agency-Verschiebung hervorgehoben. Yildirim betonte jedoch, dass das Verhältnis zwischen Digital Story Telling und historischer Narrativität noch ungeklärt sei.

LENA LIEBERN (Duisburg-Essen) stellte Ergebnisse ihres Dissertationsprojektes zur Lernplattform für selbstgesteuert entwickelten Geschichtsunterricht (segu) vor. Diese basieren auf der quantitativen Auswertung konkreter Aufgabenmodule und der Beobachtung von Lernenden-Tandems, deren Lösungsstrategien sie analysierte. Theoretisch orientierte sich Liebern an den vier Modi des historischen Lernens im Digitalen6, mithilfe derer sie die bei segu vorhandenen Aufgabenformate klassifizierte. Liebern stellte fest, dass die unterschiedlich vorliegenden und von ihr benannten „Aggregatzustände“ der verwendeten Quellen und Darstellungen (digital born, digitalisiert, didaktisiert) eine Veränderung der kulturellen Praktiken hervorrufen würden, sodass die digitale Heuristik an Bedeutung gewinnen werde. Ritualisierte Handlungsabfolgen, bspw. die unkritische Übernahme von Informationen aus (Quellen-)Materialien, überwiegen auch im digitalen Setting.

95 Studierende der Universitäten Münster und Tübingen standen im Fokus der Erhebung von SABRINA SCHMITZ-ZERRES (Münster), die sie mittels Fragebogen über ihr Mediennutzungsverhalten im privaten und studienbezogenen Kontext befragte. Dabei konnten Ergebnisse aus anderen Untersuchungen bestätigt werden: Studierende arbeiten zwar mobiler und flexibler, tun dadurch aber nicht zwangsläufig mehr für ihr Studium, die Freizeitnutzung digitaler Medien überwiege. Vor allem für einen Einstieg ins Thema seien digitale Medien das Mittel der Wahl, im Kontext des Geschichtsstudiums würde dann vor allem auf gedruckte Bücher, eBooks und Dokumentationen zurückgegriffen. Schmitz-Zerres diagnostizierte bei den Befragten eine insgesamt wenig fachspezifisch ausgebildete Data Literacy, die es zu fördern gelte.

Entschriftlichung, Entlinearisierung, Entgrenzung und Enthierarchisierung – mit diesen vier Phänomenen brachte CHARLOTTE HUSEMANN (Potsdam) wesentliche Eigenschaften der stark visuell geprägten digitalen sozialen Medien auf den Punkt. Zentrale Fragen, bspw. wie die dominante Visualität historische Narrationen verändert, wie Nutzer:innen Geschichte in digitalen sozialen Medien (re-)konstruieren und wie Lernen mit und an digitalen sozialen Medien gestaltet werden könnte, seien ungeklärt. Dass es dringend einer Beschäftigung mit diesen bedarf, wurde besonders im Aspekt der Enthierarchisierung deutlich, denn hier verberge sich Potenzial für historisches Lernen: Geschichte sei weniger ein Privileg Einzelner, sondern vielmehr eine öffentliche Angelegenheit, was Einfluss darauf habe, wie und welche Geschichte(n) erzählt werden. Husemann veranschaulichte diese Befunde mithilfe von 20 Instagram- und TikTok-Posts zum #auschwitz. Aktuelle Fragen nach der Rolle von KI-Technologie wurde im Digitalitäts-Panel leider nicht diskutiert, sollten aber zukünftig in den Blick genommen werden.

JUDIT RAMB (Bielefeld) eröffnete das erste Panel zu Rassismus und Globalgeschichte mit der Vorstellung ihrer Forschung zur Vermittlung von Rassismuskritik als Teil der Professionskompetenz angehender Lehrkräfte. Um Veränderungen im rassismuskritischen historischen Erzählen messen zu können, entwickelte Ramb ein dreistufiges Modell (R-Reihe), um „rassistisches“, „distanziertes rassismuskritisches“ und „reflexiv rassismuskritisches“ Erzählen abzubilden. Erste Ergebnisse zeigten, dass Rassismuskritik vermittelt, jedoch die selbstreflexive dritte Kompetenzstufe empirisch nicht nachgewiesen werden konnte. Die Wahrnehmung von Rassismus als Teil der Gegenwart korreliere dabei signifikant mit rassismuskritischem Erzählen, Rassismus werde also als historisches sowie gegenwärtiges Problem wahrgenommen. Ob die erworbenen Kompetenzen später in der Schule angewendet werden könnten und nicht lediglich Sprachregeln, statt tatsächlicher rassismuskritischer Kompetenzen vermittelt würden, waren Gegenstand der Diskussion. Zudem sei der normative Rahmen für die Bewertung der erworbenen Kompetenzen und die Frage nach der Benchmark, anhand derer die Entwicklungen empirisch gemessen werden können, offen.

ANNE D. PEITER (Réunion) berichtete von ihren Forschungen zu historischen Sinnfragen im Kontext genozidaler Verbrechen, hier der Shoah und dem Tutsizid. Täter und Opfer gingen mit einem fehlenden Sinn hinter diesen Verbrechen unterschiedlich um: Während sich den Opfern jede Form von Sinnbildung durch die Auflösung aller Regeln des menschlichen Miteinanders entziehe, zeigten Interviews mit Tätern, dass diese ein „Warum“ nicht bräuchten, da sie dieses im Leiden der Opfer zu finden meinen. Wie positioniert man sich, insbesondere im didaktischen Kontext, zu einem Verständnis von „Verstehen“ dem man sich verweigern muss? Für einen Genozid gibt es letztlich keine sinnstiftende Begründung. In der Diskussion wurde gefragt, ob der Verstehensbegriff im Kontext der Geschichte nicht eigentlich vollständig verabschiedet werden müsse. Was dies für die didaktische Vermittlung genozidaler Geschichte bedeute, blieb ungeklärt. Klar wurde dagegen, dass koloniale Verbrechenskontexte, hier insbesondere der Tutsizid, in Deutschland zu wenig Aufmerksamkeit erhalten.

Der Vortrag von ANDREAS SOMMER (Passau) löste die kontroverseste Diskussion der Tagung aus. Sommer betonte die Bedeutung des historischen Lernens im Anthropozän und bezog sich dabei auf das Resonanz- und Weltgesellschaftskonzept von Hartmut Rosa.7 Diesbezüglich fragte Sommer, wie es im Geschichtsunterricht möglich wird, Schüler:innen in eine historische Beziehung (Resonanz) zur Welt und zur gegenwärtigen und historischen Menschheit zu setzen. Er plädierte dafür, historisches Lernen als individuellen Reflexionsprozess zu betrachten, der die eigene Einbindung in historische Prozesse offenlegt. Dabei solle die „Menschheit“ im anthropologischen Sinne stärker im Fokus des Geschichtsunterrichts stehen. Diese Forderung wurde in der Diskussion teilweise scharf zurückgewiesen, da im Konzept des „Anthropozäns“ sowie im Verweis auf allgemeine „Menschheitsinteressen“ Klassen- und Herrschaftsverhältnisse unsichtbar gemacht und eine Idee von Universalismus kolportiert würde, die von Verantwortlichkeit entbinde. Die Notwendigkeit, Begriffe wie „Anthropozän“ und „historisches Denken“ klar zu definieren wurde auch hier deutlich.

ALINA MARKTANNER (Aachen) und JOHANNES JANSEN (Münster) schlossen das fünfte Panel mit einem Werkstattbericht zum Verbundprojekt „Kolonialgeschichte, Geschichtskultur und historisch-politische Bildung in NRW“. Das Projekt untersucht Wissen und Einstellungen zur deutschen Kolonialgeschichte in Schulen, anderen Institutionen und Einzelpersonen und fragt nach Einschätzungen zur Präsenz des Kolonialismus in Deutschland. Die Marginalisierung des Themas im Lehrplan und seine Lebensweltrelevanz für Schüler:innen seien dabei zentrale Forschungsthemen. Das Projekt selbst bezeichnete Jansen als politisch mit einem hohen selbstreflexiven Anspruch, was in der Diskussion durchaus kritisch gesehen wurde, u. a. weil hier auch aktivistische Ansätze aufgegriffen würden.

Mit dem zweiten Panel zu Rassismus und Globalgeschichte lud JAN SIEFERT (Duisburg-Essen) auf die (digitale) Insel Tsushima des 13. Jahrhunderts – dort ist das digitale Spiel „Ghost of Tsushima“ (2020) zu verorten. Das Spiel vermittle mit folkloristischen und teils überdramatisierten Gestaltungselementen eine spieltechnisch überzeugende Narration, jedoch ohne historische Kontextualisierung. Wichtiger sei dem Spielestudio die Darstellung des „kulturellen und mentalen Konflikts“ des Spiel-Helden gewesen. Nicht ganz zu überzeugen vermochte Siefert mit seiner grundlegenden Fragestellung, welche Formen narrativer Spiele „gelungen“ seien; dieser Ansatz sei vorerst zu deskriptiv. Zudem gelte es, zentrale Begriffe nachzuschärfen, bspw. den Kultur- und Mentalitätsbegriff, sowie das den Narrativen innewohnende Identitätsangebot herauszuarbeiten.

ODILA SCHRÖDER (Heidelberg) stellte den amerikanischen Roman „Babel“ der Autorin Rebecca F. Kuang (2023)8 vor, um einen Blick auf dessen Didaktisierungstechniken und das Potenzial kontrafaktischen Fragens sowie fiktiver Geschichte auszuloten. Bei der Thematisierung globalgeschichtlicher Themen sei der Zugang über ein geschichtskulturelles Produkt wie „Babel“ hilfreich, weil der Roman zahlreiche Identifikationsangebote mit den intersektional angelegten Protagonist:innen böte. Die im Roman vorherrschenden Themen von Rassismus, Kolonialismus und Klassismus werden somit aus der Perspektive von Betroffenen erzählt. Kuang verarbeite zudem Auszüge chinesischer Originalquellen und habe den Text um zahlreiche Fußnoten zum historischen Kontext ergänzt. Gerade die Vorzüge des Romans, dessen Identifikationsangebot, sind für einen Unterrichtseinsatz allerdings nicht unproblematisch.

JONAS SCHMID (Heidelberg) stellte die Methode der „Simulation Globale“ sowie erste Ergebnisse einer Auswertung von neun Interviews, die er mit Lernenden führte, vor. Bei der aus der Fremdsprachendidaktik adaptierten Methode, in der fiktive Biografien von Lernenden entwickelt werden, stünden nicht große Player der (chinesischen) Geschichte, sondern ganz “normale” Akteure der Vergangenheit im Mittelpunkt. Simulationscharakter erhält die Methode dadurch, dass die Lernenden innerhalb ihrer erdachten Biografien agieren und gleichzeitig – so die Hoffnung Schmids – ein Wandel ihres Bildes von “den” Chinesen angeregt werde. In den Interviews würden bisher positive Resultate bezüglich der Motivation, der Umsetzung von Perspektivübernahme sowie der Einschätzung der Triftigkeit der entwickelten Erzählungen sichtbar werden.

Der tagungsbeschließende Vortrag von ANDREA BRAIT (Innsbruck) lenkte den Blick auf ein grundsätzliches geschichtsdidaktisches Erkenntnisinteresse: Der Frage nach den Ursachen dafür, dass sich Menschen außerhalb der Schule (gerne) mit Geschichtskultur beschäftigen, im Zusammenhang mit der beabsichtigten Anbahnung „mündiger Partizipationsfähigkeit“ der Lernenden. Brait konstatierte das Fehlen einer geschichtsdidaktischen Forschungstradition, die nach dem „Interesse“ frage; zwar trete das historische Interesse in den Blick, nicht aber ein diesem vorgelagertes, allgemeineres Interesse. Die Befragung österreichischer Schulabsolvent:innen zeige, dass (digitale) Geschichtskultur im Geschichtsunterricht keinen festen Platz hat, das persönliche Interesse der Befragten an Geschichte aber mit einer verstärkten Nutzung geschichtskultureller Produkte einhergehe – je mehr diese Eingang in den Geschichtsunterricht gefunden hatten, desto positiver wurde der Geschichtsunterricht bewertet. Diskutiert wurde, ob es normativ geboten sei, ein “echtes” Interesse an Geschichte bei Lernenden wecken zu wollen.

In der Abschlussdiskussion gab es unterschiedliche Ansichten darüber, ob der Dialog zwischen empirisch Forschenden und Theoretiker:innen wirklich stattgefunden habe. Einige Teilnehmende drückten ihre Enttäuschung darüber aus, dass es wenig neue Theorien oder Konzepte gegeben habe und dass der Austausch insgesamt wenig kontrovers geführt wurde, gleichzeitig sei die grundlegende Idee der Tagung gelungen und eine Vertiefung des Austauschs zwischen Empirie und Theorie wünschenswert. Insbesondere die Fülle an empirischen Projekten, die einen Einblick in die gegenwärtige geschichtsdidaktische Forschung boten, wurde positiv hervorgehoben. Mitgenommen werden sollte die Notwendigkeit stringenter theoretischer Überlegungen und klarer Begrifflichkeiten. Für eine Fortführung der Diskussion wurde angeregt, das Format zu überdenken und bspw. vermehrt in Kleingruppen zu arbeiten, um eine produktivere Diskussionsatmosphäre zu schaffen. Der Schritt zu einem Dialog zwischen Theorie und Empirie in der KGD wurde gemacht, jetzt gilt es, diesen produktiv zu gestalten.

Konferenzübersicht:

Begrüßung
Sebastian Barsch (Köln), Jörg van Norden (Bielefeld)

Panel I: Normativität als Falle in Empirie und Theorie
Moderation: Susan Krause (Bielefeld)

Philipp McLean (Köln): Ziele historischer Bildung messen? Zwischen intelligibler Eigenschaft und empirischer Statuszuschreibung.

Jessica Kreutz (Frankfurt am Main): Wie flexibel ist die geschichtsdidaktische (empirische) Forschung? Die Förderrichtlinien der Qualitätsoffensiven Lehrerbildung als normative Kraft.

Jörg van Norden (Bielefeld): Faszination Vergangenheit statt Interesse an Geschichten.

Panel II: Fokus Schule
Moderation: Elena Lewers (Bochum)

Daniel Brandau (Bielefeld): Technik im Sachunterricht – ahistorisch? Fortschrittsmythen in der Geschichtskultur als Herausforderung für das frühe historische Lernen.

Anabelle Thurn (Freiburg) / Miriam Sénécheau (Freiburg) / Eva-Kristina Franz (Trier): „Geschichtsbewusstsein“ erforschen: Zur Anwendung theoretisch-didaktischer Ansätze in der Empirie.

Heike Krösche (Innsbruck): Transitionsprozesse in Theorie und Empirie. Eine geschichtsdidaktische Annäherung.

Corinna Link (Heidelberg) /Manfred Seidenfuß (Heidelberg): „Erzählˈ Deine Geschichte …“ – Eine Strategie für die Theoretisierung der Empirie.

Panel III: Professionalisierung und Entwicklung
Moderation: Caroline Clormann (Gießen)

Christian Heuer (Graz) /Mario Resch (Heidelberg) /Manfred Seidenfuß (Heidelberg): Ein Blick zurück nach vorn. Über die Praxis der geschichtsdidaktischen Professionalisierungsforschung.

Jan Scheller (Greifswald) / Martin Nitsche (Aarau) /Jonas Schobinger (Aarau): Die Erforschung historischen Denkens zwischen theoretischer Fundierung und empirischer Evidenz.

Panel IV: Digitalität
Moderation: Jan-Christian Wilkening (Kiel/Köln)

Lena Liebern (Duisburg-Essen): „Wo ist denn jetzt die Maus hin?“ – Rekonstruktion von Schüler:innenpraktiken der Aufgabenbearbeitung in der digital geprägten Lernumgebung segu.

Sabrina Schmitz-Zerres (Münster): Natives oder Novizen? Empirische Erkundungen zur (fachspezifischen) Verwendung digitaler Medien durch Geschichtsstudierende.

Charlotte Husemann (Potsdam): Digitale Medien als Werkzeug für historisches Lernen: Chancen, Grenzen und Implikationen für die Praxis des Geschichtsunterrichts.

Imke Selle (Osnabrück) / Lale Yildirim (Osnabrück): Virtual Reality und digital literacy in Theorie, Lehre und empirischer Forschung.

Panel V: Rassismus und Globalgeschichte
Moderation: Nicole Schwabe (Aachen)

Judit Ramb (Bielefeld): Rassismuskritik als Professionskompetenz für angehende Geschichtslehrkräfte? – Empirische Befunde.

Anne D. Peiter (Réunion): „Hier ist kein Warum!“ Zum Verschwinden des historischen Sinns während der Shoah und des Tutsizids in Ruanda.

Andreas Sommer (Passau): Is There Anybody Out There? Überlegungen zum Resonanzpotential von Geschichtsunterricht in der Weltgesellschaft.

Alina Marktanner (Aachen) / Johannes Jansen (Münster): Kolonialgeschichte und Geschichtskultur(en) – Empirische Zugänge und theoretische Herausforderungen.

Panel VI: Rassismus und Globalgeschichte
Moderation: Meltem Bedorf (Köln)

Jan Siefert (Duisburg-Essen): Imagination, (Kontra-)Faktizität und Fiktion im narrativen Spiel Ghost of Tsushima – Kategorien wirksamer Narrationen zwischen Kultur und Unterricht.

Odila Schröder (Heidelberg): Die Notwendigkeit von Gewalt? Zeigefinger-Didaktik und kontrafaktisches Erzählen.

Jonas Schmid (Heidelberg): Geschichte(n) Chinas im 20. Jahrhundert erzählen: Chancen und Grenzen einer „simulation globale“ aus Sicht von Lernenden.

Andrea Brait (Innsbruck): Orientierungsbedürfnisse und/oder (historisches) Lernen. Empirische Befunde zur Theoriediskussion zu den Ausgangspunkten historischer Denkprozesse.

Abschlussdiskussion
Martin Nitsche (Aarau), Lale Yildirim (Osnabrück)

Anmerkungen:
1 Albert Scherr, Keine Empirie ohne Theorie. Warum empirische Forschung immer auch Arbeit mit und an Theorie ist, in: QUASUS. Qualitatives Methodenportal zur Qualitativen Sozial-, Unterrichts- und Schulforschung 2020, https://www.ph-freiburg.de/quasus/was-muss-ich-wissen/was-ist-qualitative-sozialforschung/verhaeltnis-von-theorie-und-empirie.html (10.10.2023).
2 Das Interesse zeigt sich auch am Tagungsmotto der Early Career Researchers der KGD vom 13. bis 14. Juli 2023 in Bielefeld: „Theorie und Empirie. Ein unzertrennliches Paar?“. Vgl. Caroline Clormann / Imke Selle, Tagungsbericht: Theorie und Empirie. Ein unzertrennliches Paar?, in: H-Soz-Kult 20.10.2023, https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-139176 (19.10.2023).
3 Philipp McLean, Mündigkeit in der historischen Bildung. Eine Untersuchung über Gründe, sich kritisch mit Geschichte zu befassen, Frankfurt am Main 2023 (=Geschichtsdidaktik theoretisch).
4 Vgl. Anabelle Thurn u. a., Historisches Denken von Kindern diagnostizieren – Entwicklung und Pilotierung eines materialgestützten Interviewleitfadens, in: GDSU-Journal 14 (2023), S. 58-70, hier: S. 58.
5 Vgl. Projektseite https://www.ph-heidelberg.de/fun-ekol/startseite/ (27.10.2023).
6 Daniel Bernsen / Alexander König / Thomas Spahn, Medien und historisches Lernen. Eine Verhältnisbestimmung und ein Plädoyer für eine digitale Geschichtsdidaktik, in: Zeitschrift für digitale Geschichtswissenschaften, 1 (2012).
7 Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2016.
8 Kuangs Roman trägt im Original den Titel „Babel. Or the Necessity of Violence: An Arcane History of the Oxford Translators´ Revolution” und erschien bereits im Jahr 2022.

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