HT 2023: Das Wissen der Anderen. Außereuropäische Akteure und Wissensspeicher im Europa der Frühen Neuzeit

HT 2023: Das Wissen der Anderen. Außereuropäische Akteure und Wissensspeicher im Europa der Frühen Neuzeit

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD) (Universität Leipzig)
Ausrichter
Universität Leipzig
PLZ
04107
Ort
Leipzig
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
19.09.2023 - 22.09.2023
Von
Kim Sandra Schulz, Universität Duisburg-Essen

Im Mittelpunkt der Sektion „Das Wissen der Anderen. Außereuropäische Akteure und Wissensspeicher im Europa der Frühen Neuzeit“ stand die Geschichte des Wissenstransfers während der europäischen Expansion und der Kontakt zwischen Europäern und Nicht-Europäern. Dabei nutzte die Sektion Fallbeispiele aus drei Jahrhunderten, vier Kontinenten und vier kolonialen Imperien um nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten sowohl zwischen den Fallbeispielen, aber auch Wissenstransfers zwischen Europäern und Indigenen insgesamt zu fragen.

In der Einführung stellte GAURI PARASHER (Trier) die Themenbereiche „Wissen“/“Knowledge“ und „Andere“/“Other“ vor, welche für die gesamte Sektion relevant waren. Für den ersten Begriff wurde von der klassischen Definition ausgegangen, dass Wissen das vorläufige Endprodukt der Informationsbeschaffung und -verarbeitung von Akteuren sei, die dieses Wissen in die kontextspezifischen Kategorien Wahrheit und Unwahrheit einordnen. Es sei zu bedenken, dass die Europäer die Nicht-Europäer, denen sie begegneten, sowohl als „anders“, als auch als „gleich“, je nach Situation und Gegebenheit, wahrgenommen haben. Ebenso finde sich auch noch in der heutigen Forschung die Praktik des „Othering“ und „Saming“. Deswegen habe man für die Sektion eine flexible Definition des „Anderen“ adaptiert.

Im ersten Beitrag betrachtete JAN SIMON KARSTENS (Trier), wie Akteure in England und Frankreich mit amerikanischen Indigenen umgingen, welche sie bis ca. 1620 als Wissensträger nach Europa brachten. Die indigenen-amerikanischen Akteure, die Umstände ihrer Reisen und der Umgang mit ihnen standen dabei im Mittelpunkt des Vortrages. Der Referent wählte England und Frankreich als Untersuchungsräume aus, da beide Länder im 16. Jahrhundert im Gegensatz zu den iberischen Monarchien weder koloniale Herrschaft noch Kommunikationswege in die Amerikas besaßen und sich auch durch ihre Selbstinszenierung von ihnen absetzten. Für den Vortrag wertete Karstens ca. 160 Fälle von nach Europa gebrachten Indigenen (meist Kinder von höherstehenden Persönlichkeiten oder lokalen Anführern) aus. Sofern Quellen über ihren Aufenthalt vorliegen, zeigt sich, dass sie über ihr Land befragt und zu Dolmetschern ausgebildet wurden. Die Bereitschaft der Indigenen zur Unterstützung der Europäer hing dabei stark davon ab, ob die Personen freiwillig nach Europa gelangten und welche Ziele sie selbst verfolgten. Karstens vermutet aufgrund des Kontextes der Reisen, dass laut den europäischen Quellen freiwillig nach Europa gereiste Indigene an Waffen und militärischer Unterstützung der Europäern interessiert waren, während die entführten sich einen Weg zurück in ihre Heimat erhofften. Die Indigenen wussten, das die Europäer von dem Austausch letztlich Missionierung und den Erwerb von materiellem Profit erwarteten, und versprachen ihnen fast immer Gold und Silber, Wasserwege zum Pazifik, fruchtbare Ländereien, angenehmes Klima und „wundersame Menschenwesen“. Weiterhin erklärten die Indigenen sich angeblich für ihre Gemeinschaften bereit, langfristige Handelsbeziehungen und Bündnisse einzugehen, Interesse am Christentum zu bekunden, und zur Lieferung von Nahrungsmitteln. Hierbei brachten die Europäer den Indigenen blindes Vertrauen entgegen, sofern ihre Erwartungen bestätigt wurden, und richteten weitere koloniale Projekte nach dem erworbenen Wissen aus. Die Quellen zeigen die indigenen Akteure dabei als Meister darin, mit den europäischen Erwartungen zu spielen. Die Wirkmacht des Wissens indigener Akteure entfaltete sich besonders bei der Werbung für weitere Expeditionen und koloniale Projekte, wo es mit tradiertem Wissen (speziell antiken Autoritäten oder mittelalterlichen Reisebeschreibungen) vermischt wurde, um die Glaubwürdigkeit zu verstärken. Karstens schloss seinen Vortrag damit, dass der Wissenstransfer zwar von europäischen Akteuren stets als erfolgreich und von erheblicher Bedeutung präsentiert worden war, jedoch objektiv wenig zum Erfolg kolonialer Projekte beitrug.

Welche entscheidende Rolle die indigene Bevölkerung bei der Politik gegenüber den „Mestizo“ und der Konstruktion einer entsprechenden Rechtskategorie gespielt haben, untersuchte ADRIEN MASTERS (Trier) im zweiten Vortrag anhand Spanisch-Mexiko im 16. Jahrhundert. Dabei wertete Masters Petitionen daraufhin aus, von welcher Gruppe der Gesellschaft Anträge gegen „Metizos“ gestellt wurden. Er fand heraus, dass diese vorwiegend von der indigenen Bevölkerung ausgingen und schloss daraus, dass es sich bei der Erschaffung dieser Rechtskategorie nicht um eine „top-down“ Bewegung handelte. Die Petitionen wandten sich gegen Landstreicherei der „Metizos“, für die Verbannung von Märkten und Städten (wodurch ihre Mobilität eingeschränkt wurde) und Ausweisung wegen angeblicher Ruhestörung durch Diebstahl, Vergewaltigung und Streitlust der „Mestizos“. Masters betonte, dass solche Vorwürfe oftmals gemacht wurden, um eine einzelne Person zu entfernen. Durch die Ausdifferenzierung des Begriffs und der Zuschreibung „Mestizos“ wurde zugleich auch die Gesellschaftsgruppe der Indigenen „erfunden“. Die „bottom-up“ Idee eröffnete Türen, die es ermöglichen im lateinamerikanischen Kasten-System auf- und abzusteigen. Durch die Strategie des „naming“ wurden Identitäten geschaffen. Die Erkenntnis, dass Indigene die Geschichte gestalten konnten, ändert die Sicht, welche vorher besagte, dass Indigene völlig unterworfen und Widerstand oder Revolte ihre einzigen Handlungsmöglichkeiten waren. Die tausenden, von Masters ausgewerteten, Petitionen stellen die Vorstellung des kolonialen Regimes als ein „top-down“ System in Frage und zeigen, dass Indigene die Hauptakteure bei der Konstruktion der lateinamerikanischen Kastenkategorien waren. Masters schlussfolgerte, dass die Kategorisierung nach „Race“ instabil war und Indigene und Europäer diesen Begriff auf unterschiedliche Weise konstruierten. Zum Schluss schlug Masters noch weitere Forschungsmöglichkeiten in diesem Bereich vor: Co-Kreation von weiteren Identitäten der Gesellschaften, regionale und politische Unterschiede.

Der Beitrag von GAURI PARASHER (Trier) widmete sich der Übersetzungen und Rezeption des indischen Textes mit dem Titel „Bhāgavatapurāṇa“, kurz „Bhagavatam“, welcher in den 1760er-Jahren nach Frankreich kam. Im Vortrag wurde das „Wissen der Anderen“ in den Fokus genommen; zum Ersten indem Parasher den Import von indigenem Wissen von außereuropäischen Akteuren am Beispiel der ersten Übersetzung des „Bhagavadam“ 1769 von Maridas Pillai herausstellte. Zum Zweiten in der Betrachtung, wie der „Bhagavatam“ in Frankreich aufgenommen wurde, anhand der verschiedenen Positionen französischer Gelehrter zu dem Text. Der „Bhagavatam“ wurde in Frankreich vor allem von einem biblischen Bezugsrahmen aus betrachtet, vor allem, weil die zeitgenössischen französischen Intellektuellen intensiv über den Wahrheitsgehalt der biblischen Chronologie diskutierten. Für einige Gelehrte wie Joseph de Guignes, Anquetil-Duperron und Jean Sylvain Bailly lag die Bedeutung des „Bhagavatam“ ausschließlich in dem Abschnitt der Genealogie und der Geschichte der Herrscher des indischen Subkontinents, welche sie – neben Großereignissen, wie die Große Flut, oder die islamische Eroberung des indischen Subkontinent – nutzen um die biblische Autorität zu bestätigen. Parasher kam zum Schluss, dass es viel weniger eine ausgewogene Auseinandersetzung mit dem gesamten Inhalt des „Bhagavatam“ gab, als mit dem biblischen Bezugsrahmen, welcher auf verschiedene Weise eine wichtige Rolle in der Rezeption des „Bhagavatam“ in Frankreich gespielt hatte. Gleichzeitig stellte sie fest, dass Maridas Übersetzung nicht nur die erste Version des „Bhagavatam“ war, die ins Französische übersetzt und daher von französischen Gelehrten studiert wurde, sondern dass die Bedeutung von Maridas Übersetzung darin bestand, einen französischen Text in die indische literarische Tradition eingeführt zu haben.

Im letzten Vortrag der Sektion veranschaulichte IRINA SALADIN (Koblenz) anhand eines Fallbeispiels, wie nonverbale Kommunikation als Form des Wissenstransfers genutzt werden konnte. Nicht immer waren Dolmetscher zur Hand, welche die Sprache der Indigenen verstanden, so dass die europäischen Akteure sich anderen Mitteln bedienen mussten. Das so erstandene Wissen (zum Beispiel Karten) war das Ergebnis von nonverbalen Übersetzungsprozessen und zeigt zugleich die Ambivalenz von Wissen bei solchen Kulturkontakten. Fragile Fakten entstanden, da die europäischen Geographen und Kartenmacher das übertragende Wissen mit gewissen Zweifeln betrachteten. Diese Zweifel bestand nicht ausschließlich an der Kenntnis der lokalen Bevölkerung, sondern auch an der Überlieferung der europäischen Reisenden. Saladin führte aus, dass sogenannte „catographic encounters“ beispielsweise in den Sand, die Erde oder auf Baumrinden gezeichnet worden waren, in den Quellen, wie Berichten und Reisetagebücher aus dem 16. und 17. Jahrhundert, nachgewiesen werden können und eine der wichtigsten Methode der Wissensproduktion in der Frühen Neuzeit waren. Sie verwies ebenso darauf, dass die indigene kartographische Tradition nicht mit der europäischen verglichen werden könne, da sie eigenen kulturellen Konventionen folgte. Ein kultureller Übersetzungsprozess musste nach der Visualisierung oder mündlichen Beschreibung folgen. Die Referentin verwies darauf, dass in der Forschung die „colonial encounters“ lange als Geschichte der Missstände und des Scheiterns betrachtet worden waren. Hierin sah sie jedoch zwei Probleme: zum einen werden dadurch die Details, welche sich nicht als kartographische Fehler herausstellten, verschwiegen und zum anderen entsteht eine unüberwindbare Dichotomie zwischen „indigenen“ und „europäischen“ kartographischen Tradition und eine Trennwand zwischen den Wissenssystemen. Karten seien jedoch eindeutig im Austausch zwischen verschiedenen Akteuren entstanden. Saladin stellte heraus, dass Indigene sehr gut wussten, wie sie Informationen für die Europäer aufbereiten mussten. Dies illustrierte Saladin am Fallbeispiel „Miguels Karte“: Die Karten wurde 1602 in Mexiko Stadt, Neuspanien, von einem indigenen Mann namens Miguel angefertigt und hierbei ist das Befragungsprotokoll, das während der Erstellung der Karte angefertigt wurde, erhalten, so dass die Übersetzungspraktiken genauer betrachtet werden können. Besonders erschwert wurde die Befragung dadurch, dass weder die anwesenden Spanier noch die indigenen Dolmetscher Miguels Sprache sprachen. Mit der Befragung Miguels sollte herausgefunden werden, ob es sich für die Spanier lohne in das Land der Quivira (Land aus dem Miguel stammte) vorzudringen, wo Goldreichtümer vermutet wurden. Die Karte entstand als Teil eines Dialogs und war ein Gemeinschaftswerk zwischen Miguel und dem königlichen Schreiber Hernando Estevan. Dabei war die Karte ein Hilfsmittel bei der Befragung und zugleich dokumentierte sie den Verlauf und das Ergebnis der Befragung für Personen, die nicht anwesend waren – wie beispielsweise die Entscheidungsträger in Spanien. Neben der Karte wurden weitere visuelle Hilfsmittel bei der Befragung angewandt. Saladin betonte, dass anhand des Aufwandes, der bei der Befragung von Miguel betrieben wurde, gesehen werden kann, welche Relevanz man den Aussagen indigener Informanten bei Entscheidungsfindungen zusprach, wobei zugleich nicht vergessen werden dürfe, wie ungleich das Machtverhältnis bei der Befragung war. Verbreitung von falschen Informationen war möglich und dies war den Spaniern auch bewusst; hieran wird die Agency der indigenen Informanten sichtbar. Zugleich war es wichtig, dass die spanischen Entscheidungsträger im Protokoll keine Interpretationsmöglichkeiten oder Unsicherheiten sahen, sondern reine Fakten. Saladin schloss ihren Vortrag damit, dass das Fallbeispiel von Miguels Karten tiefe Einblicke in die Kommunikationspraktiken und Übersetzungsprozesse bei fast nonverbaler Kommunikation bietet. Das Zusammenspiel von Körperlichkeit und Materialität werde bei der Erstellung von Karten und der Kommunikation zwischen Europäern und Indigen (auch weil die Quellen fehlen) oftmals übersehen.

In der gut besuchten und sehr interessanten Sektion blieb genug Zeit für eine ausführliche Diskussion, in welcher die Vorträge vertieft werden konnten. So wurden in der Diskussion Fragen bezüglich des von Masters benutzten Begriffs „race“ gestellt, weiter wurde nach der Differenz zwischen Information und Wissen in allen Vorträgen gefragt: die Referent:innen waren sich einig, dass Informationen eine Vorstufe des destillierten Wissens waren. Eine weitere Frage bezog sich auf die möglichen schriftlichen indigenen Quellen: während es in England und Frankreich keine Hinweise auf indigene Quellen gab, finden sich diese im spanischen und besonders im lateinamerikanischen Raum schon. Weiter wurde danach gefragt, wie Akteure und die Wissenschaft mit den Widersprüchen von Wissen und Erwartungshaltungen umgingen/umgehen und ob es einen Umbruch gab. Die Wissenschaft und auch die Akteure waren/sind sich den Widersprüchen bewusst, nahmen/nehmen sie auf und verarbeiteten sie in Wissen. Zuletzt wurden die Grenzen von Co-Produktionen zwischen Indigenen und Europäern erörtert.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Jan Simon Karstens (Trier) / Gauri Parasher (Trier)

Jan Simon Karstens (Trier): Das Wissen Indigener Amerikas im Kontext kolonialer Projekte in England und Frankreich (c. 1500-1620)

Adrian Masters (Trier): Fragile Categories, Useful Resources: The Indigenous Co-Creation of the 'Mestizo' in Spanish Mexico, 1542-1598

Gauri Parasher (Trier): Who Owns the Translation? The French Translation of the Bhagavatam and the Question of Ownership (1769-1795)

Irina Saladin (Koblenz): Ohne Worte. Nonverbale Kommunikation und die Produktion fragiler Fakten in Neuspanien (1602)

https://www.historikertag.de/Leipzig2023/
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