Die Frage nach „falschen Sicherheiten“ bzw. „trügerischen Sicherheiten“ in Bezug auf Friedensordnungen stand im Mittelpunkt dieser epochenübergreifenden Sektion. Diese Frage resultierte, wie HEIDI HEIN-KIRCHER (Marburg) in ihrer Einführung erläuterte, aus gegenwartsbezogenen und zeitgenössischen Debatten, die seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine geführt werden und die sich, unter anderem, um die Vorstellung einer „falschen Sicherheit“ in Bezug auf die Friedensordnung in Europa nach dem Ende des Kalten Kriegs drehen – eine Vorstellung, die sich bis hinein in Reflexionen etwa seitens des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier erstreckt habe und die damit den Bedarf nach einer langfristigen historischen Verortung zeige. Eine solche langfristige, diachrone und geographisch übergreifende Beschäftigung mit dem Zerfall und der (Wieder-) Entstehung von Friedensordnungen bildete damit das Ziel dieser Sektion, wobei die methodische Perspektive hinter der Zuschreibung einer „falschen Sicherheit“ entscheidend sei: Es gehe gerade nicht um retrospektive Urteile und um die Frage nach „falscher Sicherheit“ aus der Perspektive der Historikerin bzw. des Historikers, sondern um die Fokussierung auf die jeweilige historische Eigenlogik und damit auf die Deutungen der historischen Akteurinnen und Akteure. Insbesondere zwei Frageperspektiven sollten dabei miteinander verschränkt werden: Erstens und in diskursiver Hinsicht nach Deutungsmustern und Denkhorizonten, die mit der Erosion und (Wieder-) Herstellung von Friedensordnungen verknüpft wurden und waren, zweitens und in praxeologischer Hinsicht nach den Praktiken und Instrumenten, mit denen diese Erosions- und (Wieder-) Herstellungsprozesse verknüpft waren.
In seinem eröffnenden Vortrag zum Thema „Frieden als Neubeginn? Perspektiven auf Friedens und Sicherheitsordnungen in der Frühen Neuzeit“ entwickelte CHRISTOPH KAMPMANN (Marburg) einige grundlegende Überlegungen zur Deutung von Friedens- und Sicherheitsordnungen und zeichnete dabei eine auf Friedensverträge fokussierte bzw. aus Friedensverträgen abgeleitete Entwicklung nach, die im 18. Jahrhundert verortet werden kann und in deren Zuge dem Westfälischen Frieden von 1648 eine besondere Bedeutung zugeschrieben wurde. Den Ausgangspunkt des Vortrags bildete die Beobachtung, dass im 1783 zwischen Großbritannien und Spanien geschlossenen Friedensvertrag von Paris der Westfälische Friede als Basis dieses neuen Vertrags genannt und explizit bestätigt worden war – obwohl weder Großbritannien noch Spanien 1648 zu den Vertragsparteien gehört hatten. Christoph Kampmann zu Folge verweist diese Bestätigung des Westfälischen exemplarisch auf eine grundlegende Neuinterpretation von Friedensverträgen und Friedensordnungen im Verlauf des 18. Jahrhunderts: Bis dahin sei – im Spannungsfeld zwischen der Bellizität der Praxis und der Friedensnorm der Theorie – ein Friedensvertrag vor allem als Wiederherstellung eines kurzzeitig unterbrochenen Friedenszustands verstanden worden, im Bewusstsein aller Beteiligten, dass auch dieser Friedensvertrag nicht von Dauer sein würde; eine Beobachtung, die auch für den Westfälischen Frieden selbst Geltung beanspruchen könne. Mit der Entstehung völkervertragsrechtlicher Vorstellungen eines Droit de gens contracté sei Friedensverträgen dann im 18. Jahrhundert eine zentrale Bedeutung als „Gesetzen“ des Völkerrechts zugeschrieben worden, mit einer einsetzenden Unterscheidung zwischen wichtigen und weniger wichtigen Verträgen und – etwa durch den Philosophen und Juristen Gabriel Bonnot de Mably – einem Bedeutungsaufstieg des Westfälischen Friedens zur „Grundkonstitution des Völkerrechts“ und zu einer symbolischen Größe, ja zu einer Chiffre für eine Friedensordnung auch in diplomatischer Hinsicht. Die Erklärung dafür könnten die Aushandlung des Westfälischen Friedens im Rahmen eines Universalfriedenskongresses, der Status als Lex Fundamentalis imperii, die aufgeklärte Diskussion über Friedensstiftung und Friedenswahrung im 18. Jahrhundert sowie – etwa mit Blick auf die Anti-Protestklausel – die Ansätze zu einer Entkirchlichung der Friedensordnung sein.
Der Vortrag von DOROTHÈE GOETZE (Sundsvall) verlagerte den Fokus vom zentral- bzw. mitteleuropäischen Raum auf den skandinavischen Bereich und thematisierte „Eine Pax Nordica? Das Ringen um Sicherheit und Friedensordnungen im Ostseeraum im Kontext des Großen Nordischen Krieges (1700-1721).“ Auch in diesem Vortrag spielten Friedensverträge eine entscheidende Rolle, hier allerdings mit Blick auf die Bemühungen bzw. auf die Versuche der historischen Akteurinnen und Akteure, eine Friedensordnung für den skandinavischen Raum zu implementieren, nachdem die bisherige Friedensordnung mit dem Beginn des Großen Nordischen Krieges im Februar 1700 zerbrochen war bzw. als zerbrochen angesehen wurde. Dorothée Goetze rekonstruierte die in diesem Konflikt und bis zu den 1720/1721 geschlossenen Friedensverträgen von Stockholm, Fredriksborg und Nystad diskutierten und immer wieder modifizierten Friedenskonzeptionen. Als besondere Herausforderung sahen dabei bereits die historischen Akteurinnen und Akteure die Vielzahl der involvierten Parteien, unter anderem Schweden, Dänemark, Polen-Litauen bzw. Polen-Litauen-Sachsen, Russland und später auch Braunschweig-Hannover und Brandenburg-Preußen – eine Aufzählung, die bereits auf die Multipolarität der Konfliktkonstellationen und damit auch auf die Grundproblematik bei der Suche nach einer möglichen „Pax Nordica“ verweist. Als Bedingung für die Schaffung einer solchen Friedensordnung für den skandinavischen Raum schien insbesondere die Einhegung einer möglichen schwedischen Hegemonie, die – so insbesondere die Perspektive der anti-schwedischen Bündniskonstellationen und Friedenskonzepte, auf die sich der Vortrag konzentrierte – verhindert werden müsse. Auffällig war dabei insbesondere die stetige Anpassung der Vorstellungen zur konkreten Umsetzung dieses Friedenskonzeptes im Angesicht des Konfliktverlaufs, sodass sich hier anschaulich die Ambivalenzen zwischen den übergeordneten Leitlinien eines Friedenskonzeptes und den konkreten Möglichkeiten und Grenzen seiner Umsetzung nachvollziehen ließen.
Der Vortrag von FRANK ROCHOW (Halle-Wittenberg/Cottbus-Senftenberg) zum Thema „Die Revolution von 1848 überwinden – Instrumente zur Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung im habsburgischen Galizien“ führte ins 19. Jahrhundert und zu einer anderen Relationierung bzw. Fokussierung von Friedensordnung – während in den beiden vorherigen Vorträgen zwischenstaatliche Friedensordnungen im völkerrechtlichen Bereich im Mittelpunkt standen, thematisierte Frank Rochow die innerstaatliche Friedensordnung der Habsburgermonarchie am galizischen Beispiel. Der Vortrag kontrastierte die Erosion der vorrevolutionäre Friedensordnung mit und nach 1848 – verstanden vor allem als öffentliche Ordnung und innere Sicherheit und damit sowohl als Herrschaftsbasis als auch -legitimation – von den nachrevolutionären Versuchen ihrer (Wieder-) Herstellung. Vor dem Hintergrund der revolutionären Ereignisse von 1848 und aus der Perspektive der habsburgischen Herrschaft hieß das vor allem, Möglichkeiten zur präventiven Erkennung und, falls notwendig, effektiven Niederschlagung von gegen die Obrigkeit gerichteten Aktivitäten zu schaffen. Dass diese Ebene der inneren Friedensordnung – insbesondere vor dem Hintergrund von Diskursen, die Gründe der Revolution mit ausländischen Akteuren und Prozessen in Verbindung zu bringen – nicht von der Ebene der äußeren Friedensordnung zu trennen ist, zeigte Frank Rochow anschaulich an der Praxis des Festungsbaus nach 1848: Die Festungen dienten einerseits zur Sicherung der innerstaatlichen Friedensordnung vor äußeren Bedrohungen, waren aber auch so angelegt, dass sich von ihnen aus prinzipiell auch das Zentrum der benachbarten Städte beschießen ließ. Die habsburgischen Festungen bildeten damit eine anschauliche Manifestierung der Versuche, die innerstaatliche Friedensordnung wiederherzustellen und zu befestigen und ein ganz konkretes Instrument zur Etablierung und Zementierung dieser Friedensordnung.
Der abschließende Vortrag von KARSTEN BRÜGGEMANN (Tallin) schließlich war im 20. Jahrhundert und im Baltikum angesiedelt und thematisierte „Das sowjetische Baltikum – ein Garant für den Frieden? Vil’jam V. Pochlëbkin (1923-2000) und die europäische Nachkriegsordnung.“ Ausgehend vom Wirken und Werk dieses sowjetischen Historikers, Skandinavisten und Spezialisten für internationale Politik verfolgte Karsten Brüggemann die Frage nach sowjetischen Konzeptionen für eine Nachkriegsfriedensordnung insbesondere mit Blick auf die Ostsee – eine Verortung unter anderem auch im skandinavischen Bereich also, was eine Brücke zum Vortrag von Dorothée Goetze schlug. Während dort, wie gesehen, eine schwedische Hegemonie als Bedrohung des Friedens erschien, konzipierten Pochlëbkin und andere eine sowjetische Hegemonie als Garantie für Frieden und Stabilität und als Möglichkeit zur Etablierung einer Friedensordnung in Kontrast zur als aggressiv stilisierten Politik westlicher Akteure bzw. Bündnisse. Entscheidende Bedeutung schrieben Pochlëbkin und andere dabei der vermeintlichen Überwindung nationaler Interessen und Gegensätze im sowjetischen System zu, die – so die Deutung bzw. Darstellung – einen zentralen Kriegsgrund eliminiert und damit eine elementare Basis für eine dauerhafte Friedensordnung etabliert hätte. Die Grundlage dieser Friedensordnung schien damit, in gewisser Hinsicht, eine kulturelle bzw. politisch-systembezogene zu sein, die das vermeintlich überlegene, weil friedensorientierte sowjetische Systeme dem vermeintlich unterlegenen, weil kriegsfokussierten westlichen System gegenüberstellte. Insofern stellte der Zerfall der Sowjetunion dieses Narrativ vor eine besondere Herausforderung, insbesondere vor dem Hintergrund der hier sichtbar werdenden, nationalen Strömungen und Bewegungen, die in deutlichem Kontrast, ja sogar in direktem Widerspruch zum sowjetischen, vermeintlich übernationalen Friedenskonzept standen.
Insgesamt zeichneten die Vorträge der Sektion damit ein zeitlich, geographisch und thematisch vielfältiges und übergreifendes Panorama, dass gegenwärtige Vorstellungen „falscher Sicherheiten“ in die vermeintliche Stabilität von Friedensordnungen anschaulich historisierte. Als übergreifender Befund lässt sich dabei – trotz der Vielschichtigkeit der thematisierten Fragilitäten – doch auch ein Moment der Stabilität und Kontinuität identifizieren: Die Erosion von Friedensordnungen ging doch auch mit übergreifenden Vorstellungen der prinzipiellen Möglichkeiten zur (Wieder-) Herstellung neuer Friedensordnungen einher – das Denkmuster einer „falschen Sicherheit“ in Bezug zu früheren Versuchen der dauerhaften Friedenswahrung spielte dabei die Rolle eines Stimulans zur Formulierung und Etablierung neuer Entwürfe und diente gleichzeitig als Maßstab der Evaluation zu ihrer Legitimierung.
Sektionsübersicht:
Sektionsleitung: Heidi Hein-Kircher (Marburg) / Christoph Kampmann (Marburg)
Heidi Hein-Kircher (Marburg) – Einführung
Christoph Kampmann (Marburg) – Frieden als Neubeginn? Perspektiven auf Friedens- und Sicherheitsordnungen in der Frühen Neuzeit
Dorothée Goetze (Mittuniversiteit Sundsvall) – Eine Pax Nordica? Das Ringen um Sicherheit und Friedensordnungen im Ostseeraum im Kontext des Großen Nordischen Krieges (1700–1721)
Frank Rochow (Brandenburgisch Technische Universität Cottbus-Senftenberg) – Die Revolution von 1848 überwinden - Instrumente zur Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung im habsburgischen Galizien
Karsten Brüggemann (Universität Tallinn) – Das sowjetische Baltikum – ein Garant für den Frieden? Vil’jam V. Pochlëbkin (1923-2000) und die europäische Nachkriegsordnung