Transformationen der gebauten Umgebung erfolgen in der Regel allmählich, sie können jedoch auch plötzlich durch Ereignisse wie Kriege oder Naturkatastrophen ausgelöst werden. Je nach Ursache führen die Eindrücke von (Teil-)Zerstörung und Verfall zu unterschiedlichen emotionalen Reaktionen, die entscheidend für die Aufarbeitung und den Umgang mit den Gebäuden bzw. Ruinen sind. Am Anfang des Aufarbeitungsprozesses müssen zahlreiche Fragen beantwortet werden, die BERND EULER-ROLLE (Wien) wie folgt zusammenfasste: Sollen die Überreste zur Quelle einer Erinnerungskultur werden oder sollen die Erinnerungen an das Ereignis verblassen und die Wunden geheilt werden? Kann es einen Mittelweg zwischen „Wunde“ und „Werk“ geben? Der Schock traumatischer Ereignisse führt, laut Euler-Rolle, oft dazu, dass keine adäquaten Antworten auf die oben gestellten Fragen gefunden werden. Stattdessen komme es zu übereilten Entscheidungen, die den Anforderungen des Denkmalschutzes nicht gerecht würden.
Der diesjährige Tagungsort Zagreb und seine Umgebung wurden 2020 von mehreren Erdbeben erschüttert, die schwere Schäden an Bauwerken verursachten. Bei Stadtrundgängen in Zagreb, Petrinja und Sisak, die von Marco Špikić (Zagreb), Hauptorganisator der Tagung, und mehreren der am Wiederaufbau beteiligten Akteuren begleitet wurden, konnten die Spuren der Katastrophe nachvollzogen und die unterschiedlichen Ansätze zum Wiederaufbau beobachten werden.
Erschütterungen wie diese bringen oft lange bestehende Probleme und Fehlentwicklungen ans Licht. So schilderte IRENA KRAŠEVAC (Zagreb) eindrücklich den oftmals bereits vor dem Erdbeben vorhandenen prekären Zustand der Gebäude in der Hauptstadt. Dieser Umstand resultiere aus der damaligen Wohnungspolitik, den mangelnden Anreizen zur Instandhaltung und der Überbelegung von Wohnungen. Daher sei der Gebäudebestand besonders anfällig für die Auswirkungen des Erdbebens gewesen. LANA KRIŽAJ, tätig für das kroatische Kulturministerium zum Schutz des kulturellen Erbes, präsentierte die derzeit verfolgten Wiederaufbaustrategien „reconstruction“ und „structural rehabilitation of buildings“, die mit intensiven Untersuchungen der Gebäude sowie einer ersten umfassenden Inventarisierung und Vermittlung des architektonischen Erbes einhergehen.
TOBIAS STRAHL (Frankfurt am Main/ Sarajevo) appellierte in seinem Vortrag an die Fachgemeinschaft, sich nicht nur nach Katalysatorereignissen mit dem architektonischen Erbe zu beschäftigen. Bislang gerate Kulturgut, wie beispielsweise das der Länder Ex-Jugoslawiens, nur im Kontext von bewaffneten Konflikten in den internationalen Fokus. Das habe zur Folge, dass der Wiederaufbau oft stark von außen geprägt sei. Eine Möglichkeit zur besseren Einbindung der Betroffenen zeigte CHRISTIAN RAABE (Aachen) mit der Vorstellung des Masterstudiengangs „Architectural Conservation“, welcher an der German Jordanian University in Amman eingerichtet wurde. Dieser ermögliche es Flüchtlingen, das notwendige Wissen zu erlangen, um den Wiederaufbau in ihren Heimatländern nach Kriegen und Krisen selbst mitzugestalten.
ZOYA MASOUD (Berlin) schloss sich Tobias Strahl an und berichtete, dass vor allem der Bürgerkrieg den Blick des Westens auf das Erbe Aleppos gelenkt und vorübergehend große Aufmerksamkeit erregt habe. Der Wiederaufbau gestalte sich aufgrund der politischen Situation jedoch schwierig und Entpolitisierungsversuche seitens der UNESCO seien gescheitert. Zu schwer wögen die Fragen nach Täter und Opfer: Wer hat das Recht den Verlust der Altstadt zu betrauern und darf den Wiederaufbau durchführen? Gleichzeitig wurde aber auch die Frage aufgeworfen, inwiefern Politisierung notwendig sei, um öffentliches Aufsehen zu erregen. Schließlich habe das Erdbeben in Aleppo Anfang 2023 deutlich weniger Aufmerksamkeit erhalten –trotz des großen Leids in der Bevölkerung. Ebenso diskutiert wurde, ob die mangelnde Anteilnahme nicht einer gewissen Ermüdung des Westens angesichts des jahrelangen Leids in Syrien geschuldet sei.
Denn dass neben Kriegen auch Naturkatastrophen weltweite Aufmerksamkeit erregen können, demonstrierte DANIELA SPIEGEL (Weimar) anhand der Erdbeben von Lissabon 1755 und Assisi 1997. Faktoren, welche die Anteilnahme von außen beeinflussen, seien die persönliche Betroffenheit oder Distanz, die Art der Berichterstattung, wie etwa wundersame Rettungen und tragische Einzelschicksale, sowie das Ausmaß der Zerstörung.
Die Ursachen von Erschütterungen haben jedoch nicht nur Einfluss auf die Reaktionen von außen, sondern sind auch entscheidend für das Verhalten der unmittelbar Betroffenen. Der Druck auf die Regierungen steigt und aus Angst zu wenig, zu langsam oder unangemessen zu handeln, werden mitunter weitreichende Entscheidungen ohne umfassende Konsultation von Experten getroffen. Ein aus denkmalpflegerischer Sicht bedauernswerter Fall ist zum Beispiel der im Sommer 2023 erfolgte Abriss der circa 300 Jahre alten Nepomukbrücke im Ahrtal, vorgestellt von YANNICK LEY (Aachen). Die Verbandsgemeinde Altenahr reichte laut Ley bereits knapp sechs Monate nach der Flutkatastrophe und ohne weitergehende Beratung hinsichtlich des Denkmalschutzes einen Antrag zum Abriss der nur teilweise beschädigten Brücke ein. Im Gegensatz zu einem Erdbeben, bei dem eine konkrete Bedrohung kaum erkennbar ist, hatte man an der Ahr die übermäßigen Regenfälle als Ursache der Katastrophe eindeutig identifizieren können. Die Nepomukbrücke sei dabei in der Außenwirkung als Verstärker der Katastrophe empfunden worden und die dramatischen Bilder der mit Treibgut verstopften Brückenbögen und des aufgestauten Wassers brannten sich ins Bewusstsein der Bevölkerung, wodurch die Reparatur und der Erhalt der Brücke offensichtlich als untragbar wahrgenommen wurden.
Aber auch in Italien gestaltet sich der Umgang mit Naturkatastrophen schwierig. So ist das Erdbeben von 1976 in der norditalienischen Region Friaul das einzige, bei dem der anschließende Wiederaufbau offiziell als abgeschlossen gilt. In allen anderen Erdbebengebieten sind die Zerstörungen auf dem Papier immer noch nicht vollständig beseitigt. Anschauliche Beispiele italienischer Städte mit ihren Erfahrungen und ihrem Umgang mit der Katastrophe lieferten ROBERTA FONTI (München) und THOMAS DANZL (München) in ihren beiden Vorträgen. Bei Ersterer standen unter anderem die sozialen und emotionalen Aspekte im Vordergrund: Gebäude fungieren als Referenzpunkte, die das Bekannte vom Unbekannten abgrenzen. Sie weisen „Wohlfühlzonen“ aus und „markieren“ das Zuhause. Diese Thesen untermalte sie anhand des Beispiels von Messina nach dem verheerenden Erdbeben von 1908. Obwohl aus sicherheitstechnischen Gründen nur die Fassade der zerstörten Kathedrale wieder aufgebaut werden konnte, drängten die Bewohner geschlossen darauf, diese an derselben Stelle zu rekonstruieren. Wie elementar dieses Gefühl von Zugehörigkeit sei, zeige auch die schnelle Rückkehr der Menschen in die gefährdete Region und das, obwohl die Regierung Gebiete der Stadt aufgrund der Einsturzgefahr lange Zeit abgeriegelt und zahlreiche Menschen umgesiedelt hat.
Warum sich Erdbeben emotional häufig als so problematisch erweisen, erklärte JULIAN SCHELLONG (Darmstadt) folgendermaßen: „They are special challenges, because sensual experiences of earthqakes are really hard to grasp.“ Im Gegensatz zu Kriegen, bei denen die Bedrohung meist vorher absehbar ist, seien Erdbeben kaum vorhersehbar. Darüber hinaus gestalte sich die mediale Dokumentation der Naturkatastrophe schwierig. Jahrhundertelang konnte nur der ursprüngliche und der postkatastrophale Zustand festgehalten werden und selbst mit den heutigen Live-Aufnahmen lässt sich das Ereignis nur begrenzt erfahrbar machen. Um diese Lücke zu schließen, lieferte SIGRID BRANDT (Salzburg) mit einem Zitat von Heinrich von Kleist zum Erdbeben in Chili 1807 zumindest ein Sprachbild: „Hier stürzte noch ein Haus zusammen, und jagte ihn, die Trümmer weit umherschleudernd, in eine Nebenstraße; hier leckte die Flamme schon, in Dampfwolken blitzend, aus allen Giebeln, und trieb ihn schreckenvoll in eine andere; hier wälzte sich, aus seinem Gestade gehoben, der Mapochofluß auf ihn heran…“.1
In Städten wie Amatrice, L’Aquila und Gibellina waren Schrecken und Zerstörung, wie sie Kleist beschreibt, noch Jahre nach dem Ereignis zu spüren, da die Wiederaufbauprozesse sich teilweise über Jahrzehnte hinzogen und der Verlust der Heimat für die Bewohner präsent blieb. Dagegen stellte Thomas Danzel zwei erfolgreiche Wiederaufbaustrategien aus der Region Friaul vor: Venzone und Gemona. Während man bei dem ersten Beispiel infolge eines Volksbegehrens die Wiederherstellung des Gesamtbildes angestrebt habe, seien in Gemona nur die wichtigsten Gebäude rekonstruiert worden. Die übrige Stadt habe man dagegen zeitgenössisch bebaut. Im Anschluss an die beiden Vorträge wurde angemerkt, dass nicht nur die Rekonstruktion von Schlüsselgebäuden, sondern auch die Parzellierung und Dimensionierung eine entscheidende Rolle für den Erfolg des Wiederaufbaus spiele. Zu starke Abweichungen könnten dazu führen, dass die Bewohner sich nicht mit den neuen Gebäuden identifizierten.
SOPHIE STACKMANN (Wien) setzte sich mit dem „Integrity“-Begriff, der ein Kriterium der UNESCO für den Weltkulturerbestatus ist, und seinem Einfluss auf den Wiederaufbau auseinander. Integrität sei ein umbrella-term unter dem vor allem das Streben nach Unversehrtheit und die vermeintliche Kontinuität eines geschlossenen Zustandes verstanden werde. Im Sinne dieses Ideals würde dem Gesamteindruck der baulichen Anlage eine hohe Wertschätzung beigemessen. Die daraus resultierende Konsequenz sei, dass historische Bausubstanz, wenn sie den gewünschten Gesamteindruck störe, oft abgerissen werde. Dies werfe die Frage auf, ob wir nicht eine höhere Wertschätzung für den tatsächlichen Zustand entwickeln sollten und das Ideal der kontinuierlichen Unversehrtheit überdenken müssten, was möglicherweise zu einem zurückhaltenderen Wiederaufbau führen könnte.
Einen konträren Ansatz aus der Vergangenheit lieferte LAURA DEMETER (Bamberg) mit dem Beispiel der rumänischen Kleinstadt Panciu, deren Wiederaufbau infolge der Zerstörung durch das Erdbeben 1940 instrumentalisiert worden ist, um staatspolitische Interessen umzusetzen. Die faschistische Regierung ergriff laut Demeter damals die Gelegenheit, die Stadt unter Betonung „traditioneller und christlicher“ Werte wieder aufzubauen. Besonders problematisch sei, dass der politische Hintergrund im Bewusstsein der Öffentlichkeit immer weiter zurückträte und lediglich das Werk von Cincinat I. Sfințescu, der auch als „Vater der rumänischen Urbanistik“ bezeichnet wird, im Gedächtnis bleibe.
Mit „unbequemem Erbe“ oder „dissonant Heritage“ beschäftigte sich auch MARIA KOUVARI (Zürich). Sie unterstrich den starken Einfluss der sozialen und politischen Geschichte auf die Bedeutung von Denkmälern, der oft über den materiellen Wert der physischen Überreste und die formal-gestalterische Bedeutung hinausgehe. Dies sei insbesondere dann problematisch, wenn es mehrere Erzählweisen über denselben Ort gäbe und diese sich überlagerten. Ihr Vortrag warf zudem die Frage auf, ob mehrere Erzählungen gleichwertig nebeneinanderstehen könnten und ggf. auch müssten oder ob es sich bei diesem Konzept um ein Relikt aus der Postmoderne handele.
Zum Abschluss der Tagung hob HANS-RUDOLF MEIER (Weimar) das Wort „Erschütterung“ auf eine andere Bedeutungsebene und reflektierte in grundsätzlicher Weise die Geschichte und das Selbstverständnis der Denkmalpflege. Diskutiert wurde vor allem die Frage, welche Herausforderung der Klimawandel für die Denkmalpflege mit sich bringe. Im Idealfall, so der Konsens der Anwesenden, sei das Bauen im Bestand in Zukunft Standardpraxis und ein angemessener Umgang mit vorhandener Bausubstanz etabliert.
Am Ende des sehr vielfältigen Tagungsprogramms fasste Sigrid Brandt zusammen: „Die Idee der Denkmalpflege ist also nicht zu erschüttern, aber erschütternd ist, wenn sie sich in Dogmen verfängt.“ Denn starre Leitlinien können der Vielschichtigkeit und Komplexität eines Wiederaufbauprozesses nach plötzlichen und gewaltsamen Veränderungen nicht gerecht werden. Dieser Prozess umfasst diverse soziale Aspekte, einschließlich der Kommunikation mit den Betroffenen während des Wiederaufbaus, die Berücksichtigung psychologischer und emotionaler Bedürfnisse, wie beispielsweise das Verlangen nach einem Zuhause, politische Interessen in Form von Sicherheitsbedenken oder Wahlkampfpropaganda, konstruktive Maßnahmen zur Risikominimierung sowie ethische Überlegungen in Bezug auf Täter und Opfer. Es ist also notwendig, die Wiederaufbaustrategien und den Umgang mit solchen Zerstörungen von Fall zu Fall zu bestimmen und dem Drang zu widerstehen, alles schnellstmöglich „in Ordnung“ zu bringen. Das Thema der Tagung gewinnt an Aktualität, wenn man berücksichtigt, dass die Häufigkeit von Naturkatastrophen aufgrund des voranschreitenden Klimawandels wohl signifikant zunehmen wird. Darum ist es besonders positiv zu bewerten, dass das Thema auf einer internationalen Ebene diskutiert werden konnte.
Konferenzübersicht:
Sektion 1: Historische Erfahrungen und aktuelle Herausforderungen I
Bernd Euler Rolle (Wien): Wunden zeigen, Wunden heilen, Wunden verstehen – Restaurieren nach Katastrophen
Irena Kraševac (Zagreb): The earthquakes 2020 and the conservation problems of Zagreb architectural heritage
Julian Schellong (Darmstadt): Temporal Tectonics. Earthquake Reconstructions and Professionalization of Heritage Conservation, c. 1960-1990
Tobias Strahl (Frankfurt am Main, Sarajevo): How do we measure the tide?
Sektion 2: Historische Erfahrungen und aktuelle Herausforderungen II
Roberta Fonti (München): Sites which are not places anymore
Laura Demeter (Bamberg): Earthquake damaged small cities under authoritarian regimes. The reconstruction of Panciu during the Second World War
Thomas Danzl (München): Bleiben. Wiederaufbauen. Erinnern. Venzone / Friaul vom 6. Mai 1976 bis heute
Lana Križaj (Zagreb): Challenges of Post-Earthquake Reconstruction of Heritage: Structural rehabilitation of Painted Buildings in Zagreb
Sektion 3: Veränderte gesellschaftspolitische Anforderungen
Zoya Masoud (Berlin): Von Detonationen zu Erschütterungen: Die Altstadt Aleppos zwischen Krieg und Erdbeben
Yannick Ley (Aachen): Baukulturelles Erbe im Ahrtal – Prozesse und Akteure des Wiederaufbaus und der Neuentwicklung
Christian Raabe (Aachen): Zum Aufbau von Qualifikationen für den Bestandsschutz in Krisengebieten
Sigrid Brandt (Salzburg): Versöhnung des Erhaltenen mit dem Neuen: Denkmalpflege als Aufgabe von Regeneration, Vermittlung und Gestaltung
Sektion 4: Räumliches und zeitliches Bewusstsein. Aufgaben
Maria Kouvari (Zürich): Dissonant Heritage of Care: Built Environments for War-affected Children in Civil War Greece
Sophie Stackmann (Wien): Der Aufstieg des Konzepts der Integrität als Reaktion auf Erschütterungen kulturellen Erbes
Daniela Spiegel (Weimar): Ebenen der Erschütterung
Hans-Rudolf Meier (Weimar): Was erschüttert die Denkmalpflege?
Anmerkung:
1 Heinrich von Kleist: Das Erdbeben in Chili, 1807, https://www.projekt-gutenberg.org/kleist/erdbeben/chili.html