Demokratiegeschichte im Archiv. Frühjahrstagung 2023 der Fachgruppe 6 „Archive der Parlamente, politischen Parteien, Stiftungen und Verbände“ des Verbands der deutschen Archivarinnen und Archivare

Organisatoren
Ewald Grothe, Archiv des Liberalismus, Gummersbach; Peter Fauck, Landtag Sachsen-Anhalt, Magdeburg
Ort
Leipzig
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
25.04.2023 - 26.04.2023
Von
Anja Kruke, Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn

Archive verstehen sich selbst als wichtige Säulen der Demokratie, erhalten Sie doch die Unterlagen, um sie später als Grundlagen zur Erforschung einer umkämpften Vergangenheit zur Verfügung zu stellen und einen offenen demokratischen Diskurs zu fördern. Gerade die Archive der Parlamente, politischen Parteien, Stiftungen und Verbänden, die im Verband der Archivarinnen und Archivare organisiert sind, spiegeln dieses Interesse in besonderer Weise, bewahren gerade parlamentarische und Archive der politischen Parteien Kernüberlieferungen der repräsentativen Demokratie, als Orte der Auseinandersetzung, der politischen Willensbildung und der Mehrheitsgewinnung.

Der Vorsitzende der Fachgruppe EWALD GROTHE (Gummersbach) verwies in seiner Einführung auf die Absicht der Organisator:innen, Archivar:innen und Historiker:innen miteinander ins Gespräch zu bringen. Beide hätten natürliche Überschneidungen in ihrer Arbeit, die sich in der Realität aber nur selten in einem Austausch niederschlüge. Als Beleg für das Interesse verwies er auf die neue Sichtbarkeit der Demokratiegeschichte, die üblicherweise als Epochengeschichte verstanden würde. Demokratie ließe sich über vielfältige Perspektiven einer kulturwissenschaftlich informierten Politikgeschichte erforschen, die Biografien, Ereignisse und Institutionen, aber auch Praktiken und Routinen der Demokratie, auch in außerparlamentarischer Form, umfassen könne. In dieser Stoßrichtung wurden in drei Panels ganz unterschiedliche Perspektiven auf die Sicherung, Bearbeitung und Bereitstellung von Unterlagen geworfen.

Zunächst stellte CHRISTIAN WESTERHOFF (Stuttgart) eine besondere Sammlung der Bibliothek Zeitgeschichte in der württembergischen Landesbibliothek vor. Die 1915 als Kriegssammlung gegründete Einrichtung wuchs durch die Ausdehnung nach 1918 auf die Revolution, die Folgen des Ersten Weltkriegs und weitere Sammlungstätig zu einer der größten Spezialbibliothek zur Zeitgeschichte an. Diese auch nach 1945 fortgeführte Sammlung (zuletzt durch die Plakatsammlung von Peter Hill) bietet mit ihren Flugblättern und Plakaten eine wichtige visuelle Quelle für eine Demokratiegeschichte des 20. Jahrhunderts, die üblicherweise kaum in Bibliotheken vermutet wird. Danach wandte sich KERSTIN ALBERS (Mainz) einem besonderen Aspekt in Parlamentsreden zu, nämlich den parlamentarischen Stilblüten, die sie am Beispiel des Landtags Rheinland‐Pfalz als Aspekt der Demokratiegeschichte untersuchte. Das Parlamentsarchiv hat diese besondere Gattung eine eigene Sammlung gewidmet, die zum 75. Jubiläum des Landtags ausgewertet wurde und einen guten Einblick in die Wandlung des Umgangs der Abgeordneten untereinander z.B. durch Zwischenrufe und Bemerkungen erlaubt. Die seit den 1970er-Jahren via Karteikarten geführte Übersicht ist inzwischen als Gesamtdokumentation auch online zugänglich und recherchierbar. Im Anschluss präsentierte Matthias Buchholz (Berlin) das Gulag-Zeitzeugenarchiv, das 1989 mit einzelnen (leitfadengestützten) Interviews mit Augenzeugen auf Audiokassette begann und inzwischen 300 Gespräche mit mehr als 1.200 Stunden Material umfasst. Die Datenbank ist mit weiteren Informationen, auch visuellem Material unterfüttert und kann neben der Forschung auch für Bildungszwecke eingesetzt werden. Mit diesem oral history-Projekt werden die Erfahrungs- und Lebensberichte von Personen, die zwischen den 1930er- und 1950er-Jahren in der Sowjetunion interniert waren oder beispielsweise als Kinder in der Verbannung lebten, erstmals zentral zugänglich gemacht. Damit wurde im ersten Panel der Tagung die Bandbreite der Archivalien wie auch der forschenden Zugänge aufgezeigt. Sie wurden zwar mit Blick auf ihre materielle Unterschiedlichkeit getrennt diskutiert, doch es wurde in der Zusammenschau deutlich, dass die infrastrukturellen Herausforderungen von standardisierter Erschließung, Digitalisierung und Zurverfügungstellung den roten Faden der Diskussion darstellten.

Das zweite Panel war der Überlieferung einzelner Personen gewidmet. Mit dem Nachlass Eugen Kogons wurde im zweiten Vortrag von TOM HILLEBRAND (Bonn) ein besonderer Nachlass als einem der führenden Intellektuellen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts präsentiert. Dabei lässt sich Kogons politische Entwicklung von einem der Demokratie eher skeptisch gegenüberstehenden Intellektuellen zu einem ihrer Verteidiger insbesondere anhand der reichhaltigen Korrespondenz verfolgen. FRANZISKA ZOLLWEG (Hamburg) stellte diesem Beitrag ihr Projekt zur „Korrespondenz Helmut Schmidts als Objekt der Demokratiegeschichte“ zur Seite, das Schmidt als Akteur in den verschiedenen Arenen der Gesellschaft – in Politik, Wirtschaft, Internationales und Kultur – zeigt. Mit ca. 30.000 Korrespondenzen bietet sich eine Fülle inhaltlicher Anknüpfungspunkte, die in einer engmaschigen Verzeichnung Korrespondenzpartner:innen unter Nutzung der GND für Normdaten und zukünftig auch in digitalisierter Form auch zur Verfügung gestellt werden soll. Anhand dieser beiden Personenbestände wurden Möglichkeiten und Grenzen einer tiefen Verzeichnung diskutiert, die einer Digitalisierung mit Vollerfassung gegenübergestellt wurde. Hier offenbarten sich grundlegende Unterschiede im Selbstverständnis von Archivar:innen und Historiker:innen, betonten Erstere die Notwendigkeit von Richtigkeit und Präzision in den Angaben, während auf der anderen Seite die nicht geprüfte Vollverfügbarkeit von Texten als relevanter eingestuft wurde. Dass rechtliche Belange diese Vollverfügbarkeit insbesondere bei privaten Korrespondenzen erschweren, bildete ebenfalls einen Diskussionspunkt.

DIRK VAN LAAK (Leipzig) drehte am zweiten Tag die Perspektive in Richtung der Archive. Für ihn zeigte sich mit Blick auf die Forschung die Zugänglichkeit als zentrales Scharnier. Mit Blick auf die Erwartungshaltung, dass alles inzwischen digital zugänglich sein müsse, ergebe sich eine Art Sollbruchstelle in der Forschung, die diese selbst zu reflektieren habe. Die gesellschaftspolitische Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit seit den 1970er-Jahren habe dabei für eine besondere Hinwendung zur Überlieferung gesorgt. In diesem Sinne sei Archivgeschichte selbst als Teil der Demokratiegeschichte zu sehen, die er in einer institutionalisierten Form als problematisch bewertete, da sie durch ihre normative Setzung eine offene Auseinandersetzung erschwere. Van Laak verwies auf die ambivalenten Seiten der Geschichte der Demokratie, mit der auch die Diversität der Erzählungen zunehmen müsse, die paradigmatisch mit dem inzwischen vielseitig verwendeten Begriff der „multidirektionalen Erinnerung“ beschrieben werden könne. Es gäbe viele Themen, die auch Archive aufgreifen könnten, Politikverachtung und Fragen des ehrenamtlichen Engagements seien mögliche Perspektiven.

Der letzte Part der Tagung stand im Zeichen von Frauenarchiven bzw. Archiven, die sich in besonderer Weise den Frauenbewegungen widmen. Den Anfang machte KERSTIN WOLFF (Kassel), die das Archiv der deutschen Frauenbewegung in seiner Entwicklung hin zu einem „Demokratiearchiv“ kennzeichnete. Das im Kontext der zweiten Welle der Frauenbewegung 1984 entstandene Archiv lag quer zu den vorhandenen Archivstrukturen und diente dem Ziel, Quellen zu (be)schaffen und damit eine Grundlage für eine spätere Forschung bilden zu können. Anhand der Entwicklung konnte Wolff konkret aufzeigen, wie sich Sammlungsverhalten und Archive insgesamt und Bewegungen aufeinander beziehen lassen und zugleich die Institutionalisierung der Demokratiegeschichte verändern. Am Beispiel der Tagung der Orte der Demokratiegeschichte 2023 wurde deutlich, wie sich zentrale Aspekte durch die Bestände ziehen, da sie nun als selbstverständlicher Teil einer Demokratiegeschichte gesehen werden und nun Frauenaktivistinnen als Vorkämpferinnen der Demokratie gelten. Die Nutzung in der Veränderung von einem aktivistischen Zugang zu breiteren wissenschaftlichen Fragestellungen belege diese Sichtweise. An diesen Vortrag schloss JESSICA BOCK (Berlin) nahtlos an, zumal das Digitale Deutsche Frauenarchiv als institutionalisiertes Ergebnis im Rahmen eines digitalen Daches der Frauenarchive gelten kann. Sie perspektivierte ihren Vortrag von der Forschung aus und fragte, wie sich eine feministische Demokratiegeschichte anhand der neuen west-/ostdeutschen Frauenbewegung schreiben ließe. Dabei wurde deutlich, dass Frauen als Akteurinnen der Revolution und der Transformation zu beschreiben seien, sie aber als eigenständige politische Akteurinnen nur für kurze Zeit sichtbar waren. Es wurde allerdings dazu nur wenig gesammelt; nun zeigen sich große Forschungslücken, wie z.B. zu den in den freien Wahlen 1990 errungenen Mandaten auf kommunaler Ebene. Für Westdeutschland wies Bock auf die Lücken bzw. einigen lokalen Frauenarchive hin, die auch im Bereich in aktiver Exilant:innen gesammelt haben. In der Diskussion standen dann die Verbindungen zwischen Sammlung und Forschung im Mittelpunkt. So seien nicht nur die (kommunalen) Mandatsträger:innen der letzten und zugleich freien Wahlen der DDR unerforscht, sondern auch ihre Pendants im Westen, auch wenn die Forschung zu Frauen in Parlamenten insbesondere zur Gründung der Demokratie 1918/19 inzwischen zumindest begonnen habe.

Dass Archive sich der Herausforderung der Digitalität von Archiven in der Erwartung insbesondere einer jüngeren Historiker:innengeneration bewusst seien, zeigte sich in den Diskussionen, die sich um die Fragen von Zugänglichkeit, Nutzungsmöglichkeiten von Textkorpora und damit verbundenen rechtlichen Fragen sowie inhaltlichen Perspektiven der Digital Humanities drehten. Zugleich wurde deutlich, dass diese sich verändernden Erwartungen und auch Forschungsperspektiven auf die Arbeit in den Archiven und auch Bibliotheken zurückwirken. Damit bewegte sich die Diskussion im Rahmen der aktuellen Diskussionen in der Archivlandschaft nicht nur in Deutschland. Es wurde allerdings auch mit Blick auf die Frage zur Erforschung der Demokratie diskutiert, ob und wenn ja, welche Bestände von besonderem Interesse und mit einer verbesserten Zugänglichkeit auszustatten seien. Die zunächst banal anmutende Feststellung, dass Demokratie erst von Menschen gemacht und gesellschaftlich hergestellt werde, sei eine Perspektive, die politische und Parlamentsarchive mit ihrer Arbeit stärker hervorheben könnten und sollten. Auch die Geschichte der Akzeptanz der Demokratie und der Politikverachtung wurden als notwendige Perspektiven aufgegriffen unter der selbstkritischen Fragestellung, inwiefern Archive selbst durch bestimmte Angebote der Vermittlung zu starke normative Setzungen vornähmen bzw. wie die Offenheit und auch Ambivalenz (noch) besser abgebildet werden könne. Dabei wurden auch Fragen der aktuellen Sammlungstätigkeit angesprochen, die zum einen die vielfältigen Protestgruppen und als konkretes Beispiel Fridays for Future insbesondere betrafen, zum anderen aber auch Fragen nach der Materialität im digitalen Zeitalter stellten, die sich wiederum mit der Frage nach der Relevanz im Sinne der Wirksamkeit auseinandersetzten. Zugespitzt wurde danach gefragt, ob Programmatik oder Wirksamkeit im Sinne einer aufmerksamkeitserregenden Performanz letztlich wichtiger für die Überlieferung seien, um später die Geschichte der aktuellen Demokratie angemessen analysieren zu können. Damit stellte sich der Versuch, Archivar:innen und Historiker:innen miteinander über ihre jeweiligen Perspektiven und Aufgaben miteinander ins Gespräch zu bringen, als anregender Austausch über äußerst grundsätzliche wie sehr konkrete Fragen heraus.

Konferenzübersicht

Themenblock 1

Christian Westerhoff (Stuttgart): „Wählt die Republik!“ Flugblätter und Plakate zur Weimarer Republik und zu den Neuen Sozialen Bewegungen in der Bibliothek für Zeitgeschichte

Kerstin Albers (Mainz): Parlamentarische Stilblüten als Aspekt der Demokratiegeschichte

Matthias Buchholz (Berlin): Das Gulag‐Zeitzeugenarchiv

Themenblock 2

Tom Hillebrand (Bonn): Der Bestand Eugen Kogon im AdsD

Franziska Zollweg (Hamburg): Die Korrespondenz Helmut Schmidts als Objekt der Demokratiegeschichte

Dirk van Laak (Leipzig): Die Sicht der Geschichtswissenschaft auf die Demokratiegeschichte im Archiv

Kerstin Wolff (Kassel): Vom „Bewegungs“‐ zum „Demokratiearchiv“

Jessica Bock (Berlin): Feministische Demokratiegeschichte im Archiv