Anlässlich der bevorstehenden Eröffnung einer auf vier Jahre angelegten Containerausstellung zu den Außenlagern des KZ Neuengamme an der Porta Westfalica sowie zur Rüstungsindustrie und Zwangsarbeit vor Ort sollte die interdisziplinär angelegte Tagung Entwicklung und Zukunft der Erinnerungskultur zur Gedenkstätte Dachs I vorstellen und historische, technische, archäologische und erinnerungskulturelle Perspektiven zusammenführen.
Die Tagung gliederte sich in drei inhaltlich aufeinander aufbauende Sektionen. Sektion 1 legte mit einem Überblick über die historische Forschung zur Rüstungsindustrie und NS-Zwangsarbeit allgemein die Grundlage für die in Sektion 2 folgende konkrete Beschäftigung mit der Situation in Porta Westfalica und anderen Nebenlagern des KZ Neuengamme. Sektion 3 lenkte den Fokus auf konkrete Projekte der Erinnerungskultur und hier besonders in Porta Westfalica. In einem Round-Table-Gespräch wurde das zuvor Besprochene zusammengeführt. Abgerundet wurde das Programm durch drei Exkursionen.
In seinem Grußwort erinnerte STEFAN MOHME (Porta Westfalica) an die Geschichte des Erinnerns von der Verdrängung der NS-Verbrechen aus dem kulturellen Gedächtnis über erste Initiativen, sich dieses Themas anzunehmen und den Untertagebau, der Schauplatz des Verbrechens der NS-Zwangsarbeit war, zu sichern, zu reinigen und zu öffnen bis hin zur Gründung des Vereins KZ-Gedenk- und Dokumentationsstätte Porta Westfalica e.V. und schließlich einer finanziellen Unterstützung der Erinnerungsarbeit durch die Stadt Porta Westfalica. Anschließend betonte BARBARA RÜSCHOFF-PARZINGER (Minden) die Notwendigkeit der Auseinandersetzung und Vermittlung dieses wichtigen, aber belasteten Themas, benannte aber auch die Herausforderungen. Ehrenamtliche Vereine bewahrten durch das Aufschreiben von Zeitzeugenberichten deren Erlebnisse vor dem Vergessen, und auch die Archäologie könne neue Erkenntnisse und eine größere Öffentlichkeit generieren. Gerade den realen Orten komme in Zeiten, in denen Wahrheiten in Frage gestellt würden, eine besondere Bedeutung beim Erhalt demokratischer Grundsätze zu. Es brauche dazu das Ehrenamt wie auch eine gesicherte Finanzierung hauptamtlicher Tätigkeiten.
MARCUS WEIDNER (Münster) führte in das Thema ein. Die multiperspektivisch und interdisziplinär angelegte Veranstaltung thematisiere historische, technische, archäologische und erinnerungskulturelle Perspektiven. Im Fokus stünden die Netzwerkstruktur vergangener Ereignisse wie auch deren lokale Umsetzung und Auswirkungen. Die Verlagerung von Rüstungsindustrie habe bereits ab den 1930er-Jahren in Vorbereitung auf einen Bombenkrieg begonnen, zunächst in Form horizontaler Verlagerung, also dezentral, etwa in Wälder, ab dem Beginn des Zweiten Weltkrieges dann auch vertikal, also unter die Erde. Sektion 1 lege den Blick auf die Makroebene dieses Prozesses und behandle das System der Rüstungsindustrie und KZ-Zwangsarbeit, um mit Sektion 2 in der Betrachtung der Mikroebene an konkreten Beispielen die lokalen Voraussetzungen für die Umsetzung dieses Systems darzustellen. Diese lokale Betrachtungsebene ermögliche differenzierte Erkenntnisse, die exemplarisch wirken könnten. Dazu gehört ebenso die Betrachtung der Nachkriegsnutzung und administrativen Abwicklung der materiellen Überreste wie auch der Ereignisse aus der Bauzeit der Rüstungsanlagen, denn die Erinnerungskultur zur NS-Zeit sei ein unabdingbarer Pfeiler des staatlichen Selbstverständnisses. Sektion 3 widme sich daher der Erinnerungsarbeit und Erinnerungslandschaft.
THOMAS LANGE (Porta Westfalica) stellte einführend in Sektion 1 kurz das Lagersystem um das KZ Neuengamme vor.
WOLFGANG SCHROETER (Hüllhorst) sprach über die deutsche Rüstungswirtschaft. Der von Deutschland begonnene Krieg sei durch die alliierten Bombenangriffe 1943 nach Deutschland zurückgekehrt. Militärisch entschieden worden sei der Krieg jedoch im Osten. Hier seien auch die größten rassistischen „Projekte“ und Verbrechen verortet gewesen. Millionen Menschen wurden ermordet; weitere 30 Millionen Hungertote seien im neokolonialen Vernichtungskrieg eingeplant worden. Die Bedeutung der Kriegsvorbereitungen bemesse sich nicht zuletzt an den bereitgestellten Finanzen: Bei Kriegsbeginn war etwa ein Viertel des deutschen Staatsetats der Rüstungsindustrie zugewiesen. Das Rüstungsministerium sei von Beginn an mit Managern besetzt worden, um eine Erhöhung der Produktionszahlen zu gewährleisten. Die so geförderte „Großraubwirtschaft auf allen Ebenen“ speiste sich aus der Eroberung von Kriegsgerät und Rohstoffen ebenso wie aus der teilweisen Verlagerung der Produktion in besetzte Länder. Nach dem Tod des ersten Leiters des Rüstungsministeriums, Fritz Todt, habe mit Albert Speer ein technokratischer Aufsteiger die Leitung des Ministeriums übernommen. Er habe die Waffenproduktion signifikant erhöht, was den Ausdruck „Rüstungswunder“ prägte. Dies sei nicht zuletzt durch die Ausbeutung von Zwangsarbeitenden geschehen, derer sich Speer bereits in seiner vorherigen Tätigkeit als Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt bedient hatte. Infolge alliierter Luftangriffe auf die Rüstungsindustrie habe Speer neben der Dezentralisierung auch die Untertageverlegung von Betrieben der Rüstungsindustrie veranlasst, bis schließlich Dreiviertel der 53 Mio. Quadratmeter Industrie unter Tage der Rüstungsindustrie angehörten.
MARC BUGGELN (Berlin) verortete die Lager in und um Porta Westfalica im System der KZ-Zwangsarbeit. Bereits 1933 sei in der Lagerordnung Dachau Zwangsarbeit verankert gewesen – zunächst vor allem in Steinbrüchen und in der Ziegelproduktion für die Großprojekte von Albert Speer. Es folgten Ausbeutung für die IG Farben in Auschwitz und für zunächst noch nicht rüstungsrelevante Industrien in Norddeutschland. Die Reorganisation der Kriegswirtschaft, die Übernahme des Rüstungsministeriums durch Speer und Forderungen der SS nach Zwangsarbeitenden hätten 1942 zur Ausbildung eines Systems an KZ-Außenlagern und zum systematischen Einsatz von KZ-Häftlingen in der Rüstungsindustrie geführt. Gleichzeitig sei der Massenmord an der jüdischen Bevölkerung vorangetrieben worden, da nun andere – ausländische – Zwangsarbeitende in Aussicht gestellt worden seien. Ab Anfang 1944 sei jedoch der Nachschub an diesen zivilen Zwangsarbeitenden versiegt, und KZ-Häftlinge seien, organisiert vom neu gegründeten „Jägerstab“, zur letzten Reserve der deutschen Industrie geworden. In diesem Rahmen seien neue Außenlager des KZ Neuengamme rings um Porta Westfalica entstanden. Mit der Schaffung des Geilenberg-Stabes Ende Mai 1944 in Reaktion auf alliierte Bombenangriffe auf die deutsche Treibstoffindustrie sei ein „Führererlass“ ergangen, einen Teil der Ölindustrie unter Tage zu verlagern, und in einen alten Steinbruch in Porta Westfalica sollte unter dem Tarnnamen Dachs I eine Schmierölraffinerie einziehen. Eine Untersuchung der Todesraten im KZ Neuengamme und seinen Außenlagern habe verschiedene Tendenzen ergeben: Die Sterblichkeit beim Bau der Außenlager und der Produktionsanlagen war etwa gleich hoch; die meisten Toten forderten militärische Bau- und Schanzarbeiten, die zumeist im Wasser und zudem bei Kälte durchgeführt wurden. In der Tendenz zeigten größere Lager eine höhere Sterblichkeit als kleinere Lager; die Überlebenschancen hingen jedoch auch von der Herkunft der Häftlinge ab.
SYLVIA NECKER (Minden) bedauerte zu Beginn der Sektion 2, dass mit dem Ausfall des Vortrags von STEFAN HÖRDLER (Göttingen) die Täterforschung und somit die Betrachtung des gesellschaftlichen Umfeldes um die NS-Zwangsarbeit fehle. Sie betonte die Wichtigkeit einer interdisziplinären, multiperspektivischen Betrachtung verschiedener Forschungsfelder und verwies besonders auf die Rolle der Archäologie, die mit Manuel Zeiler vertreten sei. Gerade in Hinblick auf den Anspruch von Multiperspektivität merkte sie kritisch die nur sehr geringe Beteiligung von Forscherinnen im Vortragsprogramm an.
THOMAS LANGE (Porta Westfalica) stellte Zwangsarbeit und Rüstungsproduktion unter Tage in Porta Westfalica vor. Das Stollensystem, ursprünglich Teil eines Steinbruches für Porta-Sandstein und in Besitz der von den Nazis enteigneten und schließlich ermordeten Familie Michelsohn, sei aufgrund seiner ländlichen Lage bei gleichzeitiger guter Anbindung an überregionale Verkehrswege ausgewählt worden. Eine erste Transportliste vom März 1944 benenne 300 Häftlinge; Effektenkarten zeigten, dass bald weitere Menschen aus der Sowjetunion, dem deutschen Reich und aus Polen hinzugekommen seien. Die Überlebendenberichte hingegen seien westlich geprägt und stammten vor allem von Überlebenden aus Frankreich, Dänemark, den Niederlanden und Belgien. In der umfangreichen Quellenlage aus Briefwechseln, (Bau-)Rechnungen und Abwicklungsakten sieht Lange auch den Grund für ein schnelles und anhaltendes „Vergessen“ der Vorkommnisse in den KZ-Außenlagern und den Produktionsstätten nach Kriegsende: Alle hätten die NS-Verbrechen mitbekommen, viele auch direkt profitiert. Zudem berichteten Überlebende immer wieder von Übergriffen durch zivile Vorarbeiter.
JENS-CHRISTIAN HANSEN (Hjørring) beleuchtete das Leben und die Überlebenschancen dänischer Gefangener in den KZ-Außenlagern Barkhausen und Husum-Schwesing. Die untersuchten Quellen – Häftlingsportraits und Überlebendenberichte – wiesen eine Gewichtung auf, die nicht der Zusammensetzung der Häftlingsgesellschaft entsprach: Von den beiden großen Gruppen dänischer Häftlinge – politische und sogenannte Asoziale – hätten fast ausschließlich die politischen Gefangenen Berichte hinterlassen. Auch in der Erinnerungskultur und in der juristischen Aufarbeitung spielten diese dänischen Berichte eine wichtige Rolle; so hätten in nachkriegszeitlichen Prozessen zu den Zuständen im KZ Neuengamme weitaus mehr Dänen als beispielsweise Polen ausgesagt. Auch die Herkunft der Häftlinge habe ihr Leben im Lager beeinflusst. Waren in Dänemark zunächst Lager errichtet worden, um die Deportation dänischer Staatsbürger:innen nach Deutschland zu beenden, so habe die Zusammenfassung von Häftlingen unterschiedlicher Herkunft in Neuengamme eine deutliche Verschlechterung der Haftbedingungen für die dänischen Gefangenen bedeutet. Die nach dem NS-Rassenwahn theoretisch besser gestellten und durch den Zugang zu Hilfspaketen des Roten Kreuzes auch besser ernährten Dänen seien Neid und Gewalt anderer Häftlingsgruppen ausgesetzt gewesen. Die gezielte Teilung und Mischung von Gefangenengruppen habe diese Probleme verstärkt. Beispielhaft stellte Hansen den Arzt Paul Thygesen vor, der den dänischen Häftlingen als Held galt und den französischen als „faul“. Nach dem Krieg erforschte Thygesen die medizinischen Folgen der KZ-Haft.
THORSTEN FISCHER (Porta Westfalica) präsentierte die Schmierölraffinerie Dachs I bei Porta Westfalica in Aufbau und (geplanter) Funktionsweise. Er verwies darauf, dass ein wichtiger Teil der Erinnerungsarbeit darin bestünde, Mythen und Legenden zur NS-Zeit wie auch zu konkreten Orten von NS-Verbrechen aufzulösen. Im Zuge der geplanten Dezentralisierung der Mineralölherstellung auf 40 kleinere Destillieranlagen im gesamten Reichsgebiet sollten im Stollen Dachs I Rückstände von drei Kleindestillerien zu hochwertigen Produkten verarbeitet werden. Dazu seien sukzessive Maschinen und Maschinenteile aus einer durch Bombenangriffe beschädigten Raffinerie bei Hannover in den Stollen verbracht worden. Fischer stellte den Aufbau der von KZ-Häftlingen in Zwangsarbeit errichteten Produktionsanlage und die zugehörigen Bestandteile vor. Heute befänden sich nur noch Teile der alten Anlagen vor Ort: Große Anlagenteile seien nach dem Krieg demontiert und für den Einsatz in Betrieben verkauft worden. Nach wechselnden Eigentumsverhältnissen befände sich ein Teil des Stollens heute in Privatbesitz, könne jedoch von der KZ-Gedenk- und Dokumentationsstätte Porta Westfalica e.V. für die Erinnerungsarbeit genutzt werden.
MANUEL ZEILER (Olpe) sprach über die Archäologie und Bodendenkmalpflege zu Untertageverlagerungen in Westfalen – von der Zuständigkeit der Archäologie gemäß Denkmalschutzgesetz über die archäologische Methode der Erforschung von „Objektbiographien“, also der Veränderung von Objekten und Strukturen durch ihren Gebrauch oder Verfall durch Nicht-Gebrauch, bis hin zu Problemen mit der illegalen Nutzung und Mythenbildung an denkmalgeschützten Orten. Anschließend erläuterte er das konkrete Vorgehen der Archäolog:innen bei der Untersuchung von Untertageanlagen. Hier müssten Belange des Naturschutzes – viele Stollenanlagen dienten als Fledermausquartier – wie auch geologische Verschiebungen, die die Denkmalsubstanz verändern und die Sicherheit der Anlagen beeinträchtigen können, bedacht werden. Eine wichtige Aufgabe der Archäologie sei die Vermessung und fotografische Dokumentation von Anlagen, anhand derer die Bodendenkmale mit eventuell überlieferten Planzeichnungen abgeglichen und sicher räumlich verortet und abgegrenzt werden können. Diese fotografische Dokumentation beinhalte auch hochwertige Bildaufnahmen sowie, wo möglich, die Erstellung einer digitalen 3D-Rekonstruktion, die in Forschung und Erinnerungsarbeit gleichermaßen eingesetzt werden können. Anhand einiger Beispiele aus seiner aktuellen Forschung verdeutlichte Zeiler das Erkenntnispotenzial der archäologischen Methode für die Erforschung von NS-Verbrechen.
Sektion 3 widmete sich der Entwicklung und dem Betrieb von Gedenkstätten an Orten von NS-Terror. In seiner Anmoderation beschrieb OLIVER VON WROCHEM (Hamburg), dass Gedenkstätten häufig aus zivilgesellschaftlichem Engagement heraus entstünden und über längere Zeit eine Professionalisierung erlebten, bevor einige von ihnen in staatliche oder kommunale Verwaltung übergingen.
STEFAN MÜHLHOFER (Dortmund) behandelte die Gedenkstättenlandschaft in Nordrhein-Westfalen, das im Gegensatz zu anderen Bundesländern nicht über eine zentrale Gedenkstätte in kommunaler Trägerschaft verfügt. Die Gedenkstättenlandschaft setzt sich vielmehr aus dezentralen kleineren Einrichtungen zusammen, die von Bürgerinitiativen getragen sind. Stets sei die Gründung einer Gedenkstätte auf zivilgesellschaftlichen Druck hin erfolgt; der Aufwand sei dabei abhängig von den politischen Konstellationen vor Ort. Ein weiteres verbindendes Element ist die Suche nach einer gesicherten Finanzierung, die teilweise von Vereinen geleistet werde, teilweise kommunal bezuschusst sei oder in weniger Fällen von der Kommune übernommen werde. Erste Gedenkstätten seien in den frühen 1960er-Jahren entstanden, weitere kamen erst in den späten 1980er- und vermehrt in den 1990er-Jahren hinzu. Während die frühen Gedenkstätten vor allem die Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen zum Ziel hatten, rückten seit den 1990er-Jahren die Täter:innen in den Fokus. Vor allem seit 2010/15 sei eine Überarbeitung von Ausstellungen und Erinnerungstafeln zu beobachten: Die Einwanderungsgesellschaft erfordere eine Veränderung im Erinnern, gleichzeitig seien ihre heterogenen Erzählungen auch eine Chance. Beim Erinnern am originalen Ort könne die räumliche Nähe helfen, die zeitliche Distanz zu überbrücken. Dieses dezentrale, regionale Gedenken könne von Vorteil sein, wirke sich aber häufig negativ auf die finanzielle Situation der Gedenkstätten aus. Eine Professionalisierung und Vernetzung der Gedenkstättenarbeit könne und müsse durch kommunale Finanzierungsmodelle unterstützt werden.
JENS-CHRISTIAN WAGNER (Weimar) diskutierte aktuelle Herausforderungen an die Gedenkstättenarbeit. Deren Entwicklung der letzten 50 bis 60 Jahre werde oft als Erfolgsgeschichte beschrieben, doch müsse seit einem Peak um 2007/08 ein Abschwung konstatiert werden. Wagner benannte vier Transformationsprozesse: 1. das Ende der Zeitzeugenschaft bei Opfern und Täter:innen gleichermaßen, 2. das Erstarken rechtsextremer und rechtspopulistischer Positionen, 3. die durch schnelle Digitalisierung veränderte Wissensaneignung und Meinungsbildung, die in Echokammern des digitalen Raumes Radikalisierung befördere, und 4. die Realität einer Migrationsgesellschaft, deren Mitglieder oft keine familiäre Verbindung zur NS-Zeit, wohl aber eigene Erfahrungen mit Unterdrückung und Gewalt hätten. Aus diesen Transformationsprozessen ergäben sich drei Aufgaben der Gedenkstättenarbeit: 1. die Anpassung der Methoden und Inhalte der Bildungsarbeit an den gesellschaftlichen Wandel, deren Ziel „Erkenntnis [sei], nicht Bekenntnis“. Hierzu gehöre der Ausbau zeitintensiver Vermittlungsformate ebenso wie eine Erweiterung der Zielgruppen auf Erwachsene aus unterschiedlichsten gesellschaftlichen Zusammenhängen und ein Fokus auf das komplexe System der NS-„Volksgemeinschaft“. 2. sollten digitale Methoden in der Bestandssicherung der Sammlungen und baulicher Relikte ebenso Einsatz finden wie in der Vermittlung. 3. forderte Wagner ein klares Eintreten für eine humane, demokratische und weltoffene Gesellschaft und ein aktives Handeln der Gedenkstätten gegen antidemokratische Tendenzen. Eine enge Zusammenarbeit von Berufshistoriker:innen und Akteur:innen zivilgesellschaftlicher Initiativen sei bei all diesen Aufgaben unverzichtbar.
Im letzten Vortrag stellten HÉLÈNE BANGERT, THORSTEN FISCHER und THOMAS LANGE (Porta Westfalica) Geschichte, aktuelle Projekte und Planungen der Gedenkstätte Porta Westfalica vor. Erst in den 1990er-Jahren seien infolge andauernden zivilgesellschaftlichen Engagements seit den 1980er-Jahren, nicht zuletzt durch Schüler:innen des Städtischen Gymnasiums Porta Westfalica, erste Mahn- und Gedenktafeln aufgestellt worden. Der 2009 gegründete Verein KZ-Gedenk- und Dokumentationsstätte Porta Westfalica e.V. habe das Ziel, eine langfristige Erinnerung an die NS-Geschichte in Porta Westfalica sicherzustellen, wozu die Schaffung eines Erinnerungsortes und Projekte der Sichtbarmachung nötig seien. In enger Zusammenarbeit mit der kommunalen Verwaltung seien rechtliche und verfahrenstechnische Voraussetzungen für eine Dokumentation und Begehbarmachung des Stollens Dachs I geklärt worden, so dass nunmehr in drei Monaten im Jahr Führungen zur NS-Geschichte im ausgebauten Stollensystem angeboten werden könnten. Ein weiteres, in Planung befindliches Ausstellungsprojekt solle den ehemaligen Lagerstandort am Kaiserhof markieren. Weitere Informationsstelen an historischen Orten, die den komplexen Systemcharakter der NS-Verbrechen erkennbar machen sollen, seien ebenfalls in Planung. Ziel sei eine Erweiterung der Ausstellung zu einem Erinnerungsnetz, die Intensivierung der Bildungsarbeit und der Ausbau einer aktiven Gedenkstättenarbeit.
Oliver von Wrochem moderierte das abschließende Round-Table-Gespräch mit Jens-Christian Wagner, Stefan Mühlhofer, Thomas Lange, Hélène Bangert und Sylvia Necker. Die Referent:innen betonten, wie wichtig ein Miteinander von hauptberuflicher Tätigkeit in der Erinnerungsarbeit mit zivilgesellschaftlichem Engagement sei. Oft sei es besser, kleinere Projekte zeitnah umzusetzen als riesige, nicht finanzierbare Projekte zu planen. Zudem seien große Gedenkstätten oft überlaufen, während an kleineren Orten eine intensivere Auseinandersetzung möglich sei. Die Antwort auf die Frage nach Vernetzung von Themen der Erinnerungsarbeit, zum Beispiel mit dem Thema Kolonialismus, wurde pointiert wie folgt zusammengefasst: „Am stärksten sind wir, wenn wir als Netzwerk agieren.“ Eine Öffnung für andere Themen sei zu begrüßen, der Fokus auf die NS-Zeit an Gedenkstätten zur NS-Geschichte solle jedoch erhalten bleiben. Verschiedene Erinnerungsdiskurse stünden nicht in Konkurrenz, sondern könnten zusammenarbeiten. Ein weiterer Diskussionspunkt war die Rolle von Gedenkstätten als geschichtspolitische Akteurinnen. Gedenkstätten müssten sich zu aktuellen Entwicklungen äußern und würden hierzu auch angefragt. Der Fokus auf die Frühzeit des Nationalsozialismus und die Entwicklung der deutschen Gesellschaft dorthin müsse gestärkt werden, da dies auch Perspektiven auf das Heute eröffne. Gedenkstätten sollten dabei nicht indoktrinieren, sondern zum Nachdenken anregen. Abschließend wünschten sich alle Beteiligten eine stärkere Verknüpfung der Gedenkstättenarbeit mit der Bildungsarbeit und die Einbeziehung aktueller Themen wie Krieg und Vertreibung. Auch die lokale Vernetzung, nicht zuletzt mit der lokalen Verwaltung, sei ausbaufähig.
Der interdisziplinären Tagung gelang es, in einem intensiven Programm Wissenschaftler:innen wie interessierte Lai:innen gleichermaßen anzusprechen und zudem den Dialog zwischen verschiedenen Akteur:innen der Erinnerungsarbeit und Interessierten zu fördern. Dies lag nicht zuletzt am logischen, inhaltlich stringenten Aufbau des Tagungsprogrammes, in dem zunächst die historischen Grundlagen des NS-Systems und seiner Rüstungsindustrie behandelt wurden, um dann lokale Beispiele aus dem System um das KZ Neuengamme und schließlich konkrete Projekte der Erinnerungs- und Gedenkstättenarbeit vorzustellen. Die Exkursionen zum Kaiser-Wilhelm-Denkmal, zu Dachs I und zum Kaiserhof vervollständigten den bereits durch die Vorträge sehr fundiert angelegten Einblick in die Erinnerungskultur des Ortes Porta Westfalica, die exemplarisch für die Auseinandersetzung mit einer vielschichtigen Vergangenheit ist.
Referent:innen thematisierten wiederholt, dass eine aktive Erinnerungs- und Gedenkstättenarbeit nicht nur in der historischen Betrachtung verharren, sondern auf gesellschaftliche Entwicklungen reagieren und sich in den aktuellen Diskurs einbringe solle. Die Ausweitung der Forschungsschwerpunkte von Geschichten der Opfer des Nationalsozialismus hin zum NS-System und seinen Profiteur:innen wie auch die Untersuchung und Vermittlung der Entwicklung hin zur NS-Gesellschaft könnten hier wichtige Impulse setzen. Ebenso gelte es, die diversen Erzählungen der Gesellschaft stärker in die Gedenkstättenarbeit – und auch in das Vortragsprogramm – einzubeziehen und die Vernetzung mit anderen erinnerungskulturellen Diskursen zu stärken, ohne dabei den eigenen Fokus aufzugeben.
Konferenzübersicht:
Begrüßung/Einführung
Stefan Mohme (Technischer Beigeordneter der Stadt Porta Westfalica)
Barbara Rüschoff-Parzinger (Kulturdezernentin des LWL, Münster)
Marcus Weidner (LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte, Münster)
Sektion 1: Rüstungsproduktion, Zwangsarbeit, KZ
Einführung und Moderation: Thomas Lange (KZ-Gedenk- und Dokumentationsstätte Porta Westfalica e.V.)
Wolfgang Schroeter (freiberuflicher Historiker, Hüllhorst): Deutsche Rüstungswirtschaft zwischen "Wunder" und Zerstörung
Marc Buggeln (Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin): Die KZ-Außenlager in Porta Westfalica im System der Rüstungsproduktion durch KZ-Zwangsarbeit
Sektion 2: Untertageproduktion an der Porta
Einführung und Moderation: Sylvia Necker (LWL-Preußenmuseum Minden)
Thomas Lange (KZ-Gedenk- und Dokumentationsstätte Porta Westfalica e. V.): „Hölle 1“ – Zwangsarbeit und Rüstungsproduktion unter Tage in Porta Westfalica
Stefan Hördler (Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Georg-August-Universität Göttingen): Experten der Gewalt. Zur Bewachung am SS-Standort Porta Westfalica [ausgefallen]
Jens-Christian Hansen (Vendsyssel Historiske Museum, Hjørring): Extreme Gesellschaften: Die KZ-Außenlager Barkhausen und Husum-Schwesing aus der Häftlingsperspektive
Thorsten Fischer (KZ-Gedenk- und Dokumentationsstätte Porta Westfalica e. V.): Schmierölraffinerie „Dachs I“ – Versuch einer Rekonstruktion
Manuel Zeiler (LWL-Archäologie für Westfalen, Außenstelle Olpe): Archäologie und Bodendenkmalpflege zu Untertageverlagerungen in Westfalen
Exkursion und Führung
Das Kaiser-Wilhelm-Denkmal und die lokale Erinnerungslandschaft (Sylvia Necker)
Sektion 3: Auf dem Weg zur Gedenkstätte
Moderation und Einführung: Oliver von Wrochem (Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte, Leiter der KZ-Gedenkstätte Neuengamme)
Stefan Mühlhofer (Kulturbetriebe Dortmund / Arbeitskreis der NS-Gedenkstätten in Nordrhein-Westfalen): Die Gedenkstättenlandschaft in Nordrhein-Westfalen
Jens-Christian Wagner (Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, Weimar): Aktuelle Herausforderungen an die Gedenkstättenarbeit
Hélène Bangert / Thomas Lange (KZ-Gedenk- und Dokumentationsstätte Porta Westfalica e. V.): „Am Ende des Tunnels kein Licht“ – und dann? Die Entwicklung der Gedenkstätte Porta Westfalica
Round-Table-Gespräch mit Diskussion
Moderation: Oliver von Wrochem
Jens-Christian Wagner, Stefan Mühlhofer, Thomas Lange, Hélène Bangert, Sylvia Necker
Exkursion und Führung
„Dachs I“ und Hotel Kaiserhof (Hélène Bangert / Thomas Lange)