Dekolonialisierung – geschichtsdidaktische Perspektiven

Dekolonialisierung – geschichtsdidaktische Perspektiven

Organisatoren
Christoph Kühberger, Universität Salzburg; Christian Heuer, Universität Graz; Holger Thünemann, Universität Münster; Salzburg Museum
Veranstaltungsort
Universität Salzburg
PLZ
5020
Ort
Salzburg
Land
Austria
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
01.02.2024 - 02.02.2024
Von
Georg Marschnig, Institut für Geschichte, KF Universität Graz

Aus gegenwärtiger Sicht erscheint es als eine der zentralen Aufgaben der Geschichtsdidaktik als wissenschaftliche Disziplin vom historischen Lehren und Lernen, sich vor dem Hintergrund einer postmigrantischen Gesellschaft intensiv mit Fragen der Kolonialität, verstanden als koloniale Denk- und Handlungsmuster, die für kolonisierte wie kolonisierende Gesellschaft prägend sind, auseinanderzusetzen. Spätestens mit dem Anheben der Black-Lives-Matter-Bewegung hat die Thematik eine verstärkte Wahrnehmung erlangt, die sich in öffentlichen Debatten ebenso niederschlägt wie in aktivistischen Initiativen. Nicht zuletzt hat auch die geschichtsdidaktische Forschung den Impuls aufgenommen, sich endlich der „Herausforderung“1 Kolonialität zu stellen, was sich zuletzt in verschiedenen Vortragsreihen2 und am 1. und 2. Februar 2024 auch in der Tagung „Dekolonialisierung – geschichtsdidaktische Perspektiven“ manifestierte.

Die von den geschichtsdidaktischen Arbeitsbereichen der Universitäten Graz (Christian Heuer), Münster (Holger Thünemann) und Salzburg (Christoph Kühberger) ausgerichtete Tagung hatte sich laut Programm zum Ziel gesetzt, „einen Raum für intensive fachspezifische Diskussionen zum Umgang mit historischem Lehren und Lernen in Schule und Gesellschaft vor dem Hintergrund der Dekolonialisierung zu öffnen“ und „ein möglichst aktuelles Bild“ der geschichtsdidaktischen Auseinandersetzung mit Kolonialität liefern zu können. Zu diesem Zweck waren ausgewählte Vertreterinnen und Vertreter der scientifc community eingeladen, die sich in rezenten Forschungen mit „Dekolonialisierung“ aus geschichtsdidaktischer Perspektive beschäftigt hatten, einen „pädagogischen Weg der Dekolonialisierung“ zu beschreiten und „Position zu beziehen“, wie es CHRISTOPH KÜHBERGER (Salzburg) in seinen einleitenden Bemerkungen formulierte.

Im ersten Panel gab CHRISTINA BRÜNING (Marburg) Einblick in laufende Projekte, die im Themenfeld „Dekoloniale Geschichtsdidaktik“ angesiedelt sind. Dabei umkreiste sie die Herausforderungen, vor denen auch Universitäten als „Keimzellen des Übels“ (Natasha A. Kelly) stehen, wenn sie anstreben, Bewusstsein zu schaffen, ohne dabei Gefahr zu laufen, Kolonialität als „hippes Thema“ auszubeuten. Die Beschreibung der Projekte „Decolonize Teacher Education“, „Kontinuitäten von Anti-Schwarzen-Rassismus vor, während und nach dem Nationalsozialismus – eine partizipative Erinnerungsintervention“ und „Aus welchen Katastrophen lernen? Zum Zusammenhang von Holocaust- und Genocide Education“ nutze Brüning als Hintergrundfolie für ihre Forderung, den „weißen Denkrahmen“ zu verlassen sowie „schwarze Innenperspektiven“ bereitzustellen und Empfehlungen, etwa auch in der Einladungspolitik zu Tagungen eine dekoloniale Haltung einzunehmen, „Ally“ zu werden, um auf diese Weise die „Bringschuld der weißen Dominanz einzulösen“.

Anschließend untersuchte FRANZISKA REIN (Ludwigsburg/Hildesheim) in einem luziden Vortrag, wie sich die Förderung einer Ambiguitätstoleranz auf das historische Lernen im Kontext von Dekolonialisierung auswirken könnte. Denn – so ihre Ausgangsthese – dekoloniale Bildung impliziert eine Steigerung von Komplexität und Uneindeutigkeit, die es auszuhalten gelte, will man koloniale Diskurse überwinden, die sich durch Eindeutigkeiten, etwa Dichotomien, auszeichnen. Da Menschen aber nach Thomas Bauer Ambiguität zunächst meiden würden, müsse Ambiguitätstoleranz erst entwickelt werden, etwa durch „Suchbewegungen“ und „Aushandlungsprozesse“, wofür sich, so Rein, historische Bildungsbemühungen anbieten würden, die ohnehin die Entwicklung von verhandelbarem und komplexem historischen Sinn anstreben. Allerdings gab Rein abschließend zu bedenken, dass aufgrund einer ihr immer inhärenten Gefahr des Relativierens die „ambiguitätstoleranten Orientierungskompetenz“ zur Verhandlung von Kolonialität noch geprüft werden müsse.

Der öffentliche Abendvortrag von RIEM SPIELHAUS (Göttingen/Braunschweig), der den ersten Tag der Tagung beschloss, versprach laut Titel, sich den „blinden Stellen in deutschen Schulbüchern“ zu widmen. Spielhaus bot dabei zunächst eine launige Zusammenschau der hochkonjunkturellen Verwendung des Begriffs „decolonizing“, um anschließend ein Potpourri an Leerstellen in scheinbar beliebig zusammengetragenen Schulbüchern zu liefern, die sie dazu nutzte, um mäandernd über Repräsentanz und Nicht-Repräsentanz kolonialer Kontexte in der Schulbuchliteratur zu räsonieren.

Der zweite Tag der Tagung wurde von PHILIPP BERNHARD (Augsburg) eröffnet, der unter dem Titel „geschichtsdidaktische Herausforderungen im Umgang mit (post-)kolonialem Unrecht“ die Grundlinien seiner Dissertation erörterte. Ausgehend von vier zentralen Leitlinien für postkolonial perspektivierte Bildungsbemühungen (erweitertes Rassismusverständnis, Abkehr von eurozentrischem Denken, Erweiterung des Kolonialismusbegriffs sowie das Aufzeigen von kolonialen Kontinuitäten) diskutierte er im zweiten Teil des Beitrags postkoloniale Herausforderungen für die historische Urteilsbildung und schlug dabei den Fokus von geschichtskulturellen Debatten als gewinnbringende Möglichkeit vor.

Daran anschließend berichtete BERND-STEFAN GREWE (Tübingen) von den Herausforderungen, die sich im Zuge der öffentlichen Auseinandersetzung mit Kolonialität auftäten und sich zwischen der „Reproduktion von Eurozentrismus und rassistischen Denkmustern und deren kritischer Aufarbeitung“ entfalteten. Zudem problematisierte er die „Kolonialität des Wissens“ im Zusammenhang mit einer eurozentrisch aufgeladenen „Sprache des Mangels“, die im Sprechen über außereuropäische Kontexte Anwendung finde. Schließlich wies Grewe auch daraufhin, dass nach wie vor großer Handlungsbedarf in der postkolonialen Gestaltung von Bildungsplänen, der Entwicklung von kritischen Schulbüchern sowie einer entsprechend ausgerichteten Lehrer:innenbildung bestehe.

CHRISTOPH KÜHBERGER (Salzburg) schilderte in seinem Vortrag, den er in „selbstkritischer Absicht gegenüber geschichtswissenschaftlichen Positionen“ hielt, Erfahrungen aus einem Forschungsaufenthalt in Hawaii und kritisierte davon ausgehend die „Dominanzperspektive“, die im Umgang mit kolonialer Vergangenheit häufig eingenommen werde. Das eigene „Denksystem“ werde dadurch nicht ausreichend in Frage gestellt, was Kühberger anschließend anhand des hawaiianischen „mo’olelo mo’oku’auhau“ versuchte, das er als eigenständiges Wissensregime darstellte. Im Vergleich dieses indigenen Zeitkonzepts mit der Geschichtswissenschaft westlicher Prägung erörterte Kühberger Möglichkeiten, die Grenzen des „eigenen Wissen(schafts)systems“ zu erkunden und neue Erkenntnispotenziale zu erschließen.

Im abschließenden Panel eröffnete zunächst JULIA ALLERSTORFER-HERTEL (Linz) kunsthistorische Perspektiven für das historische Lehren und Lernen über Kolonialität. Dabei diskutierte sie zunächst die ambivalente Aneignung von Exotismen durch österreichische Künstler:innen der Moderne und dekonstruierte das „Unbescholtenheitsparadigma“, das in der österreichischen Kunstgeschichte lange vorherrschend war. Anhand von ausgewählten Fallstudien demonstrierte Allerstorfer-Hertel die Verwobenheit der künstlerischen Praktiken mit kolonialem Denken und fragte schließlich nach der Möglichkeit der Dekolonisierung der kunstgeschichtlichen Disziplin und den damit verbundenen emanzipatorischen Potenzialen.

MARTIN HOCHLEITNER (Salzburg) zeichnete im abschließenden Vortrag der Tagung mögliche Wege der Dekolonialisierung im Museum der Stadt Salzburg nach. Unter dem Titel „Mining the Museum“ berichtete er von einem Lernprozess, den das Museum in den vergangenen Jahren durchlaufen habe, indem man sich um „Innenschau“ bemüht habe – etwa in der Auseinandersetzung mit der eigenen Institutionsgeschichte und der Sichtbarmachung des NS-Systems, dessen Verdrängungsmechanismen das Museum bis heute prägen. Hochleitner setzte sich zudem gewinnbringend mit jener Frage auseinander, die für die Dekolonisierung des Museums und dessen „Haltungsorientierung“ wesentlich sei, nämlich wer, warum, was spreche. Diesen sensiblen Zugang demonstrierte er schließlich am Beispiel der Ausstellung „Café Salzburg“, im Zuge derer die Kolonialgeschichte des Kaffees verhandelt wurde.

Nicht nur in der Abschlussdiskussion der Tagung wurde deutlich, dass im Kontext Kolonialität – Postkolonialismus – Dekolonisierung nach wie vor viele Fragen bestehen, die es aus geschichtsdidaktischer Perspektive zu klären gilt. Die postkoloniale Prüfung der eigenen Wissensbestände steht dabei ebenso an, wie eine fundierte und evidenzbasierte Diskussion darüber, welche kolonialen Kontinuitäten in historisch-politischen Bildungskontexten bestehen und welche Perspektiven, Aufgaben und Möglichkeiten sich daraus für die geschichtsdidaktische Forschung ergeben.

Konferenzübersicht:

Panel 1
Moderation: Christian Heuer

Christina Brüning (Marburg), Dekoloniale Geschichtsdidaktik. Ein Einblick in laufende Forschungsprojekte

Franziska Rein (Ludwigsburg), Historisches Lernen im Zeichen von Dekolonialisierung und Ambiguität

Öffentlicher Abendvortag

Riem Spielhaus (Göttingen/Braunschweig), Blinde Stellen in deutschen Schulbüchern

Panel 2
Moderation: Tanja Bührer

Philipp Bernhard (Regensburg), Geschichtsdidaktische Herausforderungen im Umgang mit (post-)kolonialem Unrecht

Bernd-Stefan Grewe (Tübingen), Das Dilemma der Kolonialgeschichte im Unterricht: Zwischen Reproduktion von Eurozentrismus und rassistischen Denkmustern und kritischer Aufarbeitung

Panel 3
Moderation: Holger Thünemann

Christoph Kühberger (Salzburg), mo’olelo mo’oku’auhau und Geschichte. Zur Dekolonialisierung historischen Denkens am Beispiel von Hawai’i

Panel 4
Moderation: Christoph Kühberger

Julia Allerstofer-Hertel (Linz), Exotismus revisited. Formen der Aneignung und Inszenierung des kulturell „Fremden/Anderen“ in der Kunst der Moderne Österreichs

Martin Hochleitner (Salzburg), Mining the Museum – Dekolonisierung im Salzburg Museum

Anmerkungen:
1 Bernd-Stefan Grewe: Geschichtsdidaktik postkolonial – Eine Herausforderung. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 15 (2016), S. 5–30, hier S. 5.
2 Etwa an den Universitäten Dresden (Ringvorlesung „studium dekoloniale? – Forschung, Bildung und Vermittlung in postkolonialer Perspektive“), Wien (Vortragsreihe „Historisch-politische Bildung im Diskurs: Jahresthema Kolonialität“) oder Hildesheim (Ringvorlesung „Postkoloniale Perspektiven – koloniale Kontinuitäten“).