HT 2023: Promotion, Zweites Buch, Habilitation? Befristungen, Qualifizierungsziele und Berufswege in der Geschichtswissenschaft

HT 2023: Promotion, Zweites Buch, Habilitation? Befristungen, Qualifizierungsziele und Berufswege in der Geschichtswissenschaft

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD) (Universität Leipzig)
Ausrichter
Universität Leipzig
PLZ
04107
Ort
Leipzig
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
19.09.2023 - 22.09.2023
Von
Kevin Müller, Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands e. V.

Im Zuge der anhaltenden Debatten um faire Arbeitsbedingungen und klar kalkulierbare Berufs- und Karrierewege in der Geschichtswissenschaft sind viele Aspekte virulent. Die Ausgestaltung von Qualifizierungszielen, die Mindestdauer befristeter Arbeitsverträge sowie die akademischen Arbeitsbedingungen des wissenschaftlichen Nachwuchses sind nur einige der Themen, die in Fachgemeinschaft und Politik intensiv diskutiert werden. Auf dem 54. Deutschen Historikertag in Leipzig griff der Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD) das Thema unter dem Titel „Promotion, Zweites Buch, Habilitation? Befristungen, Qualifizierungsziele und Berufswege in der Geschichtswissenschaft“ auf. Bei der Sonderveranstaltung diskutierten auf dem Podium HARRIET RUDOLPH (Regensburg), TORSTEN HILTMANN (Berlin), SEBASTIAN KUBON (München) und FRANZISKA NEUMANN (Braunschweig) unter der Moderation von Lutz Raphael (Trier).

Der Titel der Veranstaltung greift die Frage auf, welche Karriereschritte „zum Ziel führen“: Wie geht es nach einer Promotion weiter? Gibt es andere Optionen neben dem Verfassen des klassischen „zweiten Buchs“? Unter dem Begriff „zweites Buch“ versteht man dabei eine zweite Forschungsmonografie oder die Habilitationsschrift, die nach der erfolgreich abgeschlossenen Dissertation angefertigt wird, um die Lehrbefähigung in einem Fach nachzuweisen. Mit dieser Schrift sollen Habilitierende nachweisen, dass sie dazu in der Lage sind, ihr Fach und dessen Teilbereiche angemessen zu vertreten. Aber braucht man diese heute wirklich noch, um eine (akademische) Karriere zu machen?

Lutz Raphael leitete die Veranstaltung ein mit einem kurzen Exkurs zur aktuellen Debatte rund um die Novellierung des Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG), das die Befristung von Arbeitsverträgen im akademischen Mittelbau neu regeln soll, zu den Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft im Allgemeinen sowie zur Ausgestaltung von Qualifikationszielen im Besonderen. Im Anschluss daran erhielten die Diskutant:innen Gelegenheit, sich selbst und ihren eigenen Karriereweg genauer vorzustellen sowie ihre Position bezüglich der Frage „Zweites Buch – Ja oder Nein?“ darzulegen. Franziska Neumann, Tenure-Track-Professorin an der TU Braunschweig, ist eine Befürworterin des „zweiten Buchs“ als Qualifizierungsziel, hält aber eine Zwischenevaluation durch universitätsinterne und externe Gutachter:innen für eine adäquate Alternative. Sie sieht allerdings ein Problem in den Habilitationsordnungen, welche nicht darauf ausgelegt sind, dass es Juniorprofessuren gibt. Torsten Hiltmann, Professor für Digital History an der Humboldt-Universität zu Berlin, verweist darauf, dass das Gros der Professor:innen in den Bereichen Digital History und Public History keine klassische Habilitationsphase durchlaufen hat. Laut Hiltmann habe sich die akademische Realität in den letzten Jahrzehnten massiv verändert, daher sollten Qualifizierungsziele an die neuen Umstände angepasst werden. So könne er sich zum Beispiel vorstellen, dass verstärkt akkumulativ gearbeitet wird, dass also mehrere kürzere Beiträge als Äquivalent zum „zweiten Buch“ angesehen werden. Diese wären aktueller und somit ergiebiger für die wissenschaftliche Teildisziplin. Zudem sollten neben der fachlichen Kompetenz auch Kenntnisse aus dem Managementbereich bei der Vergabe von Professuren berücksichtigt werden. Harriet Rudolph, Professorin für Neuere Geschichte (Frühe Neuzeit) an der Universität Regensburg und Mitglied des VHD-Vorstands, hat einen bis vor wenigen Jahren üblichen „klassischen“ Karriereweg beschritten. Nach ihrer Promotion folgte eine Assistenzzeit und im Anschluss daran die Habilitation. Sie spricht sich für vielfältige Karrierewege in der Wissenschaft aus, damit über unterschiedliche Methoden die Qualifikation beispielsweise für eine Professur erreicht werden könne. Außerdem müsse es mehr Möglichkeiten geben, auch zu späteren Zeitpunkten im Leben Karriere in der Wissenschaft zu machen. Sebastian Kubon, Mitbegründer der Initiative #IchBinHanna, sieht das „zweite Buch“ kritisch, da es nahezu ausschließlich für eine Professur qualifiziere. Seiner Meinung nach sollte es nur dann gefordert sein, wenn daran im Anschluss eine entfristete Stelle folgt. Alternativ könnte auf ein Portfolio an Arbeiten zurückgegriffen werden. Kubon plädiert für die Schaffung unbefristeter Stellen an den Universitäten außerhalb der Professuren, um sichere Karriereweg im akademischen Mittelbau zu ermöglichen.

In der anschließenden Diskussion erläutert Harriet Rudolph, dass ihrer Meinung nach zwar eine Professur in einzelnen Bereichen wie der Public History auch ohne „zweites Buch“ möglich sei. In den klassischen Teilgebieten der Geschichtswissenschaften stelle das Anfertigen einer Forschungsarbeit in Buchform für sie jedoch die historische Kernarbeit dar. Sie warnt davor, völlig auf die Habilitationsschrift zu verzichten, da dies auch einen Verlust an Forschungssubstanz bedeuten würde.

Franziska Neumann erläutert die Vorteile eines Buches gegenüber einem fachwissenschaftlichen Aufsatz und betont insbesondere die größere wissenschaftliche Freiheit bei ersterem. Allerdings habe sich, so Harriet Rudolph, in der Wissenschaft die Definition eines „guten“ Buches verändert. Heute wird ein „gutes“ Buch nicht mehr an seinem Umfang beziehungsweise daran bemessen, ob ein Problem von möglichst allen Seiten her untersucht wird, sondern es wird eine klare These bevorzugt, die anhand ausgewählter Aspekte analysiert wird, so Rudolph. Als Historiker:in und potenzielle:r Professor:in benötige man bestimmte Erfahrungen, die man durch die Arbeit an einem zweiten Buch erhält, jedoch wäre ein überschaubarerer Umfang als bisher üblich wünschenswert, da dies auch die Möglichkeit der häufigeren Rezeption mit sich bringen würde.

Torsten Hiltmann stellt sich insbesondere die Frage nach den Erwartungen an Professuranwärter:innen von Seiten der Berufungskommissionen. Speziell Führungs- und Verwaltungskompetenzen gelte es, angehenden Professor:innen frühzeitig zu vermitteln. Ein freiwilliges Mentoring, wie es Hiltmann beschreibt, befürworten alle Diskutant:innen.

Eine zentrale Frage ist die nach der Standardisierung von Karrierewegen. Harriet Rudolph rät von einer Standardisierung ab, auch wenn diese teilweise schon vorgenommen werde, da sich die Qualifizierungsphasen teils stark voneinander unterscheiden. Vielmehr sei es wichtig, dass Doktorand:innen und Habilitant:innen Hilfe dabei erhalten, sich selbst so zu organisieren, dass bei Stellen neben der Lehre noch genügend Zeit für die Qualifizierungsarbeit bleibe. Torsten Hiltmann hingegen befürwortet das Einführen bestimmter Standardisierungen. Sebastian Kubon ergänzt, dass die Abhängigkeit kleiner Fachbereiche von größeren ein Grund dafür sei, dass es zu Problemen bei der Schaffung alternativer Qualifizierungswege kommen kann. Rudolph betont die Wichtigkeit der Debatte, die in den Teilbereichen der Geschichtswissenschaft, aber auch darüber hinaus geführt werden müsse. Eine generelle Offenheit der Runde neuen Qualifizierungsformaten gegenüber beobachtet Lutz Raphael.

Der Fokus der Diskussion legte sich daraufhin auf die Unzufriedenheit – Raphael sprach von „Leidenskultur“ – während der Anfertigung der Qualifizierungsarbeiten. Sollte mit dem Begriff „Leidenskultur“ gemeint sein, dass die Promovierenden oder Habilitierenden Phasen durchleben, in denen sie realisieren, dass das Schreiben wissenschaftlicher Texte anstrengend und anspruchsvoll ist, so gehöre diese zum Prozess, erklärt Franziska Neumann. Allerdings sollte laut Neumann damit nicht ausbeuterisch umgegangen werden. Sebastian Kubon erklärt, dass weniger durch die Qualifikationsarbeit, sondern vor allem durch prekäre Arbeitssituationen an den Universitäten erst das Gefühl der „Leidenskultur“ entstehe. Als mögliche Lösung schlägt Kubon Neukonzeptionen bei den bisherigen Stellenprofilen vor, um gesundheitlich bedenkliche „Arbeitsexzesse“ beispielsweise von Promovierenden zu vermeiden. Zwar beobachte er, dass die Zustände weniger prekär werden, jedoch erschweren die aktuellen gesetzlichen Rahmenbedingungen in der Wissenschaft eine nachhaltige Verbesserung der Zustände. Harriet Rudolph betont den bereits stattgefundenen Wandel in der Wissenschaft. So sei es beispielsweise „normaler“ geworden, Urlaube als solche wahrzunehmen und temporär Abstand zum wissenschaftlichen Alltag zu nehmen.

Aus dem Publikum bringt Dorothea Weltecke (2. Vorsitzende des VHD) den Punkt ein, dass es mehrere Probleme während der Qualifizierungsphasen gebe: Immer wieder werde die Arbeitskapazität von Promovierenden und Habilitierenden durch zeitintensives Schreiben von Förderanträgen oder Lehrtätigkeit gebunden. Bei Promotionsstipendiat:innen hingegen ließe sich beobachten, dass diese „vereinsamen“ und besorgt sind, nicht präsent genug in der wissenschaftlichen Welt zu sein.

Auf die Frage, ob es sinnvoll wäre, die Karrierewege des US-amerikanischen Systems zu übernehmen, konstatiert Lutz Raphael, dass sich in den letzten Jahren das US-amerikanische System in den Geisteswissenschaften immer mehr dem deutschen System angenähert habe. Harriet Rudolph ergänzt, dass die Bildungslandschaft in den USA aufgrund ihrer Größe über mehr Spielraum verfüge. So sei beispielsweise selbst nach einem Scheitern im klassischen wissenschaftlichen Werdegang immer noch eine wissenschaftliche Karriere an einem der vielen Colleges möglich. Die deutsche Wissenschaftslandschaft hingegen lasse dies kaum zu.

In Folge wendet sich das Podium der Frage nach der Vereinbarkeit von wissenschaftlicher Karriere und Familie zu. Harriet Rudolph erklärt, dass sich die Situation für Frauen in der Wissenschaft verbessert habe und sich auch perspektivisch weiter spürbar verbessern würde. Mittlerweile sei es möglich, als Frau Familie und wissenschaftliche Karriere miteinander zu kombinieren. Auch Sebastian Kubon pflichtet bei, dass Karriere und Familie miteinander vereinbar seien. Dennoch bestehe weiterhin Verbesserungsbedarf, so sind sich die Diskutant:innen einig.

Während Lutz Raphael erläutert, dass es seiner Meinung nach durch die jeweiligen Fächer definierte Qualifizierungsziele geben müsse, wird aus dem Publikum die Frage gestellt, ob man das Thema der Diskussion wirklich isoliert vom Arbeitsethos an deutschen Universitäten diskutieren könne. Dass sich die angespannte Situation in der Geschichtswissenschaft dadurch löse, dass eine akademische Karriere für den Nachwuchs unattraktiv werde, so weit solle es, so Lutz Raphael, nicht kommen. Torsten Hiltmann ergänzt, dass insgesamt eine Entschleunigung, wenn nicht sogar eine Art Kulturwandel im deutschen Wissenschaftssystem von Nöten sei. Dass es aber auch positive Aspekte des deutschen Wissenschaftssystems gäbe, betont Franziska Neumann, sonst würde es nicht so viele junge Menschen geben, die eine wissenschaftliche Karriere anstreben. Außerdem gehöre, so Neumann, ein gewisses Maß an Unsicherheit während der Qualifizierungsphase dazu, was Sebastian Kubon dementiert, da für ihn Unsicherheit kein Teil der Qualifizierungsphase sein sollte.

Aus der Podiumsdiskussion lässt sich die Erkenntnis ziehen, dass es ein Bedürfnis gibt, innerhalb der deutschen Wissenschaftslandschaft über alternative Qualifikationsziele, Qualifikationsphasen, wissenschaftliche Arbeitsbedingungen und das Wissenschaftssystem an sich zu sprechen. Auch wenn sich in bestimmten Punkten Veränderungen bereits vollzogen haben, muss der Dialog in Zukunft intensiviert werden, um die Zustände in der Wissenschaft nachhaltig zu verändern. An dieser Stelle sind insbesondere auch Fachverbände wie der VHD gefordert, Stellung zu beziehen und mögliche Verbesserungen am Wissenschaftssystem vorzuschlagen, um so einen Veränderungsprozess anzustoßen.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Lutz Raphael (Trier)

Podiumsteilnehmer:innen: Harriet Rudolph (Regensburg), Torsten Hiltmann (Berlin), Sebastian Kubon (München), Franziska Neumann (Braunschweig)

https://www.historikertag.de/Leipzig2023/
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