Jahrestagung 2023: Deutsche Gesellschaft für Geschichte der Nervenheilkunde

Jahrestagung 2023: Deutsche Gesellschaft für Geschichte der Nervenheilkunde

Organisatoren
Deutsche Gesellschaft für Geschichte der Nervenheilkunde
Veranstaltungsort
Josephinum
PLZ
1090
Ort
Wien
Land
Austria
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
28.09.2023 - 30.09.2023
Von
Mareike Reichelt / Bernd Reichelt / Thomas Müller, Forschungsbereich Geschichte und Ethik in der Medizin, Zentrum für Psychiatrie (ZfP) Südwürttemberg / Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universität Ulm

Die Jahrestagung 2023 der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Nervenheilkunde (DGGN) fand im Josephinum in Wien statt. Die DGGN ist eine der renommierten deutschsprachigen wissenschaftshistorischen Gesellschaften, die der Medizingeschichte bzw. dem Gebiet der Nervenheilkunde zuzuordnen sind. Die DGGN mit Mitgliedern vor allem aus Deutschland, Österreich und der Schweiz richtet zum Gebiet der Nervenheilkunde und deren Nachbarwissenschaften Jahrestagungen aus, vergibt einen Nachwuchspreis und veröffentlicht umfassend zum Thema.

Die Tagung begann am 28. Oktober 2023 mit den Grußworten des Organisators vor Ort, Gustav Schäfer (Wien), und Thomas Müller (Ravensburg/Ulm) als Programmverantwortlichen. Es folgte die Eröffnungssektion zum Thema der Medizin- und Psychiatriegeschichte Wiens.

GEORG PSOTA (Wien) referierte über den historischen Verlauf der Wiener Psychiatriereform seit den 1960er-Jahren. Nach einer Einbettung in internationale Entwicklungsprozesse in der Psychiatrie in (West-)Europa und den USA beschrieb er unter Nennung der maßgeblichen Entwicklungsschritte und Akteure aus der Binnenperspektive die konkreten Reformanstöße in der österreichischen Metropole, bei denen es seit den 1970er-Jahren unter anderem darum ging, die Großkrankenhäuser zu verkleinern. Ebenso der Ausbau ambulanter Angebote sollte dies gewährleisten. Konkreter wurde dies ab 1979 umgesetzt, mit dem offiziellen Auftrag durch den Wiener Gemeinderat, einen psychosozialen Dienst in der Stadt aufzubauen.

HENRIETTE LÖFFLER-STASTKA (Wien) diskutierte in ihrem Beitrag die Sinnhaftigkeit einer Etablierung der Lehre der Geschichte der Medizin im Fächerkanon des Medizinstudiums am Tagungsort und darüber hinaus. Seit den Jahren 2000/01 gibt es in Österreich einen Modellstudiengang in der Medizin, welcher deutlich praxisorientierter als die bisherhigen Medizinstudiengänge sein will. Die Auszubildenden sollen hier neben somatischen Kenntnissen auch Verständis für Krankheitsverarbeitungsprozesse und den Einfluss des kulturellen Hintergrunds der Patient:innen auf deren Krankheiten entwickeln. Die Beschäftigung mit der Medizingeschichte setze hier Reflexionsprozesse in Gang, durch die sich der Blick auf die Patient:innen und deren Hintergrund vertiefen könne und die damit auch handlungsleitend sein könnten.

GUSTAV SCHÄFER (Wien) stellte in seinem institutionsgeschichtlichen Beitrag die Entstehung der Landes-Heil- und Pflegeanstalten für Geistes- und Nervenkranke „Mauer-Öhling“ und „Am Steinhof“ vor. Erstere galt 1902 als die modernste Einrichtung ihrer Art in Europa. Die Anlage war architektonisch innovativ und in vielerlei Hinsicht auch autonom, beispielsweise durch eine eigene Wasserleitung oder mit anstaltseigener Ziegelfabrik. Auch wurden hier seinerzeit neueste Erkenntnisse in der Reform des Irrenwesens verwirklicht: Demnach sollte etwa die Anstaltsmauer so in das Gelände eingelassen werden, dass die Patient:innen nicht das Gefühl des Eingesperrt-Seins entwickelten. Zudem bot man innovative Formen der Arbeitstherapie an. Die hier gesammelten Erfahrungen flossen später auch in den Bau der Anlage „Am Steinhof“ ein.

ANNA KATHARINA BÖHLER (Wien) analysierte die Wirkungsmechanismen, welche die Beschäftigung mit Büchern und Literatur seitens der Patient:innen in der Psychiatrie um 1900 mit sich brachte. Im Fokus standen dabei der Stellenwert und die alltägliche Praxis des Lesens in den psychiatrischen Anstalten. Mithilfe einer qualitativen Quellenanalyse hatte die Referentin Lehrbücher, Zeitschriften und Anstaltsberichte ausgewertet und dabei multiperspektivisch drei Ebenen untersucht: den institutionellen Raum, den ärztlichen Diskurs sowie die Alltagspraxis des Lesens. Die Referentin zog das Fazit, dass es um 1900 keine allgemein verbreitete strukturierte therapeutische Nutzung des Lesens gegeben habe. Allerdings, so aus einem Anstaltsbericht von 1893, sei das Lesen „therapeutisches Hilfsmittel von großem Werte“ gewesen.

UTA KANIS-SEYFRIED (Ravensburg/Ulm) stellte die Lebensgeschichte der jüdischen Habsburgerin Dr. Malvine Weiss/Rhoden (1885–1977) vor, die 1911 als erster „weiblicher Arzt“ an die württembergische Heil- und Pflegeanstalt Schussenried kam. Frauen waren in vielen mitteleuropäischen Ländern erst seit etwa 1900 zum Medizinstudium zugelassen. Am ehesten gelang der berufliche Einstieg in den bei vielen männlichen Kollegen eher unbeliebten Fächern wie der Frauen- und Kinderheilkunde oder auch der Nervenheilkunde. Auch in der Heilanstalt Schussenried wurde Weiss, so zeigt diese Studie, als fremd wahrgenommen. Nach nur anderthalb Jahren kündigte sie die Stelle und kehrte als Gemeindeärztin in ihre Heimat zurück. Der seinerzeitige Anstaltsleiter schrieb zu ihrem Ausscheiden: „So sehr sich die Ärztin bemüht habe, so wenig haben gerade die weiblichen Patienten davon profitiert.“

THOMAS REUSTER (Radebeul/Dresden) proträtierte in seinem Vortrag den gebürtigen österreichischen Arzt Otto Gross (1877–1920) und seinen Beitrag zur modernen Suizidassistenz. Gross bekannte sich klar zum „Recht auf den eigenen Tod“. Seine Argumentation war zwar einerseits ethisch folgenorientiert, jedoch fehlt es an methodischer Transparenz. Auch waren die von ihm in ihrem Suizid unterstützten Frauen emotional von ihm abhängig, er selbst nahm problematischer Weise für sich eine Definitionsmacht in Anspruch, wann Leben als lebenswert anzusehen sei und wann nicht.

Die Historikerin KATHRIN JANZEN (Wien) beleuchtete die Rolle der Verwaltung bei der Umsetzung der nationalsozialistischen „Aktion T4“. In direktem Arbeitsverhältnis zum Apparat der zentralen NS-„Euthanasie“, der etwa 70.000 Menschen zum Opfer fielen, standen etwa 550 Mitarbeiter:innen. Davon kamen 26 Prozent aus dem medizinischen Bereich (Gutachter, Pfleger, Ärzte), 33 Prozent aus anderen Bereichen (Transport, Versorgung, Handwerk) und 41 Prozent aus der Verwaltung (Büro, Kanzlei). Alle im Verwaltungsbereich Tätigen hatten eine kaufmännische Ausbildung. Auch auf der Leitungsebene der Aktion hatten 39 Prozent der Mitarbeitenden einen kaufmännischen Hintergrund. Die Referentin betonte die Rolle der Verwaltung bei der Aktion, ohne welche die „Aktion T4“ nicht in diesem Umfang möglich gewesen wäre.

STEFFEN DÖRRE (Berlin) stellte brandneue Funde aus dem Hessischen Staatsarchiv vor, indem er en détail zur Organisation und der Verschleierung der „Aktion T4“ anhand eines neu rekonstruierten Einzelschicksals berichtete. So fanden sich bei Archivrecherchen Dokumente über die Suche von Angehörigen eines in Hadamar ermordeten Patienten. In den Quellen war das vehemente Nachfragen seitens der Angehörigen bei der „Gemeinnützigen Krankentransportgesellschaft“ (GEKRAT) in Berlin zentraler Aspekt. Dabei zeigten sich neue Einblicke in die Funktionsweise dieser Teilorganisation der „Aktion T4“. Zudem wurde deutlich, dass es für derartige Anfragen nach dem Verbleib von Patient:innen bei der GEKRAT keine Richtlinien gab, wie hiermit umzugehen sei.

STEFANIE COCHÉ (Gießen) gab mit ihren Ausführungen zu psychiatrischen Krankenakten als „soundgeschichtlichen Quellen“ den Anstoß zu einem umfassenderen Forschungsprojekt. Die Einschätzung lautlicher Äußerungen war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein starker Hinweis auf eine psychische Erkrankung der beobachteten Person. Auch Angehörige wurden immer wieder nach ihren Höreindrücken befragt, Beschreibungen befinden sich in den Krankenakten, was die Referentin an beeindruckenden Fallbeispielen vorstellen konnte.

LARA RZESNITZEK (Berlin) schilderte die Einführung und Verbreitung der Insulinkomatherapie als „Wiener“ Schocktherapie aus der Perspektive der Berliner Charité bis 1942. Im Jahre 1927 vom Psychiater Manfred Sakel (1900–1957) in Berlin entwickelt, waren sogenannte Geisteskranke von der Behandlung zunächst explizit ausgeschlossen. Erst ab 1933 durfte die Methode bei Schizophrenie getestet werden. Allerdings tat man sich an der Charité mit der Therapieform schwer, da Heilung bei Schizophrenie a priori ausgeschlossen war. Die Methode wurde schließlich durch Emigration und Flucht infolge des Berufsverbots für jüdische Ärzt:innen in die Welt getragen und im Ausland weiterverfolgt. Dies ist ein beeindruckendes Beispiel wissenschaftlichen Wissenstransfers durch erzwungene Migration.

HANS FÖRSTL (München) sprach über Immanuel Kants Vorlesungen zur Geographie aus dem Jahre 1757. Förstl schilderte die gesundheitlichen Gefahren des Reisens und trug viele, teils skurril anmutende Geschichten über Reisekrankheiten und deren abenteuerliche Erklärungen zusammen. Der Beitrag verweist auf eine in Kürze erscheinende umfassende Buchpublikation zum Thema.

WERNER FELBER (Dresden) setzte sich in seinem Referat mit dem sächsischen Arzt und Namensgeber der Dresdner Medizin, Carl Gustav Carus (1789–1869) und dessen bekanntem Werk „Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele“ (1846) auseinander. Anlass seiner Ausführungen zu Carus, nach Ansicht des Referenten eines der letzten ‚Universalgelehrten‘ im klassischen Sinne, war der kürzliche Quellenfund eines Exemplars dieses psychologischen Werks. In diesem Exemplar hatte deren Besitzerin, Ida von Lüttichen (1798–1856), eine der zentralen Frauengestalten der Dresdner Romantik, handschriftliche Annotationen hinterlassen, in welchen sie sich inhaltlich mit Carus‘ Werk auseinandersetzte, und deren Transkriptionen vom Referenten kritisch diskutiert wurden.

UWE J. NEUBAUER (Bremen) beschäftigte sich in seinem Vortrag mit der Entwicklungsgeschichte der Behandlung der Trigeminusneuralgie, einer Form des Gesichtsschmerzes. Die Schmerzen, die dabei auftreten, gehören zu den stärksten für den Menschen vorstellbaren Schmerzen. Der Referent berichtete, wie sich die chirurgischen Methoden seit 1850 entwickelten und ab den 1880er-Jahren von perkutanen Therapiemethoden abgelöst wurden, da offene chirurgische Eingriffe zuvor eine hohe Mortalitätsrate aufwiesen.

MICHAEL SYNOWITZ (Kiel) warf in seinem Referat einen Blick zurück auf die Geschichte der Gesellschaft für Neurochirurgie der DDR und beschrieb deren Mitgliedschaft in der European Association of Neurosurgical Societies (EANS) sowie deren Rolle bei der 1971 in Prag erfolgten Gründung. Die Mitgliedschaft in der EANS war konform im Sinne der Ambitionen seitens der politischen Führung der DDR, da der Staat sich durch die Mitgliedschaft seiner Fachgesellschaften in internationalen Organisationen Anerkennung verschaffen wollte. Eine deutlicher zutage tretende politische Dimension gab es bei der Durchführung eines EANS-Kurses in der DDR, welcher im September 1989 erst nach mehrjährigen und zähen Verhandlungen durchgeführt werden konnte.

MONIKA ANKELE (Wien) stellte ihr Forschungsprojekt zu Patient:innen-Zeichnungen in psychiatrischen Patient:innen-Akten in Österreich von 1900–1950 vor. So wurden in Salzburg in rund 30.000 durchsuchten Akten 153 Werke gefunden, in der Pflegeanstalt Niederhart in rund 4.000 recherchierten Akten weitere 100 Werke, die die Basis des Quellenmaterials darstellen. Weiterhin wurden stichprobenhaft Akten der Anstalten Steinhof, Ybbs, Klagenfurt, Mauer-Oehling und Gugging untersucht; hier fand sich jedoch kaum Material. Ziel des Projekts sei es, die bisherigen Forschungen zu Psychiatrie und Kunst in anderen Regionen mit den österreichischen Funden – komparatistisch – zusammenzuführen.

THOMAS R. MÜLLER (Leipzig) stellte das 2001 in Leipzig eröffnete „Sächsische Psychiatriemuseum“ vor. Heute ist das Museum gut etabliert und zählt rund 50.000 Besucher jährlich. Vorgestellt werden im Rahmen der Dauerausstellung vier Themenbereiche in vier Räumen: Die Lebensgeschichten von Patient:innen, dargestellt an vier Einzelschicksalen, historische Behandlungsmethoden, das Themenfeld der „Euthanasie“ und die Geschichte der Psychiatrie in der DDR. Weiterhin fungiert das Museum als niedrigschwelliger Treffpunkt für und mit Psychiatriebetroffenen und bietet Räumlichkeiten für Gesprächsrunden und künstlerische Werkstätten. Wechselausstellungen ergänzen dieses Portfolio.

STEPHAN JASTER (Plau am See) sprach über die Biografie der US-amerikanischen Journalistin Nelly Bly (1864–1922). Bly simulierte in diesem frühen Beispiel von „Enthüllungsjournalismus“ eine psychische Erkrankung und ließ sich in die Psychiatrie einweisen. Die dortigen Zustände schilderte sie in ihrem in Europa heute wenig bekannten Bericht minutiös und publizierte sie zunächst in der Zeitung „New York World“, später auch in Buchform unter dem Titel „Ten Days in a Madhouse“. Dort schildert sie die Psychiatrie unter anderem als „menschliche Mausefalle“. Nach 1888 feierte Nelly Bly weitere Erfolge als investigative Journalistin.

KATHARINA RÖSE (Lübeck) schilderte im Rahmen ihres Vortrags Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Ausbildung von Arbeits- und Ergotherapeut:innen in BRD und DDR. So war die Ausbildung in der BRD sehr viel theoretischer ausgerichtet als in der DDR, wo die Frage, wie Menschen in Beschäftigung gehalten werden können, im Zentrum der Aufmerksamkeit stand. 1959 wurde in der DDR von Dr. Ursula Katzenstein (1916–1998) der erste Lehrgang für Pflegekräfte entwickelt. Ab 1965 entwickelte man im Unterschied zur BRD eine zweijährige Ausbildung und damit einen eigenen Berufszweig mit deutlicher Abgrenzung zur Beschäftigungstherapie. Ab 1980 wurde ein Direktstudium Arbeitstherapie angeboten. Bis zum Ende der DDR als Staat wurden rund 1.100 Arbeitstherapeut:innen ausgebildet. Deren Rolle in der Psychiatrie wurde bisher in der historischen Aufarbeitung kaum thematisiert.

BERND REICHELT (Ravensburg/Ulm) skizzierte in seinem Vortrag die Bemühungen um die Wiederaufnahme der Außenfürsorge in den staatlichen psychiatrischen Einrichtungen Württembergs ab Mitte der 1950er-Jahre. Diese sollte von den Landeskrankenhäusern ausgehen, ärztlich geleitet und dabei von eigenen Fürsorgerinnen ausgeführt werden. Geregelt wurde dies für das Land Baden-Württemberg 1956 durch einen Erlass. Zur engen Kooperation kam es bei der Ausweitung der Außenfürsorge mit den staatlichen Gesundheitsämtern, nachdem die Landeskrankenhäuser begannen, ihre Sprechstunden abzuhalten und die Amtsärzte zu beraten. Eine Auseinandersetzung mit der Rolle der Außenfürsorge und deren Missbrauch im Nationalsozialismus fand hingegen nicht statt.

HANNES STUBBE (Köln) analysierte historisch wie literarisch die Darstellung der Wiener Psychiatrie in dem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil (1880–1942). Deutlich wird eine ambivalente Einstellung des Autors zur Psychiatrie, welche einerseits als Metapher der Welt zu verstehen sei, als „totale Institution“, welche alle Lebensbereiche der Patient:innen kontrolliere. In zweiter Hinsicht verstand Musil psychiatrische Einrichtungen als Armenhäuser, in denen Bewahrung prioritär vor Heilung komme. Musil kannte die Psychiatrie aus Lehrbüchern, sowie aus einem Besuch einer psychiatrischen Anstalt in Rom im Jahr 1913. Sein Text sei als psychoanalytischer Roman zu deuten, schildere einen „Schwebezustand“ zwischen Wissen und Zweifel und fordere den Lesenden zur eigenen Reflexion auf.

HENRIK DÖBOLD (Leipzig/Marburg) sprach als aktueller Preisträger des „Nachwuchspreises“ der DGGN zur Arzneimittelpraxis im hessischen Hospitalwesen in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Als Fallbeispiel diente ihm das hessische Landeshospital Hofheim, in welchem Ende der 1850er-Jahre neben dem ärztlichen Direktor, Georg Ludwig, zwei Assistenzärzte, sowie 35 Wärter:innen angestellt waren. Als Quellenmaterial dienten zentral die vom Anstaltsarzt Ernst Vix (1834–1902) handschriftlich konnotierte Arzneimitteltaxe sowie der überlieferte Nachlass eines Assistenzarztes. Der Referent kam zu der Erkenntnis, dass entgegen häufiger Annahmen bereits für diese Zeit ein hoher Medikalisierungsgrad und damit einhergehend ein wissenschaftlich anspruchsvolles Arbeiten festzustellen ist. Trotz großer Vielfalt an Substanzen habe es gleichwohl vor 1860 wenige Präparate mit belegbaren Indikationen für psychische Erkrankungen gegeben.

Zwei Exkursionen bereicherten das wissenschaftliche Programm der Tagung: Ein Besuch des weithin bekannten Wiener Klinikstandorts „Am Steinhof“ als ehemalige Landes- Heil- und Pfleganstalt (heute: Klinik Penzing) erweiterte die erste Sektion der Referate passgenau, ebenso wie ein Besuch der architektonisch preisgekrönten „Klinik Landstraße“ und ihrer Psychiatrischen Abteilung – jüngstem Entwicklungsschritt in der des Referenten Psota dargelegten Geschichte der Wiener Psychiatriereformen. Die beeindruckend hohe Teilnehmerzahl und der hohe Anteil an wissenschaftlichen Fachvorträgen seitens Nachwuchswissenschaftler:innen in der akademischen Qualifikationsphase verdeutlichten die hohe Bedeutung, die dieses wissenschaftshistorische Forum inzwischen repräsentiert. Das in Erweiterung begriffene, zuletzt etwa um die Museologie oder die Geschichte des akademischen Unterrichts erweiterte Themenspektrum der Jahrestagungen dieser Fachgesellschaft hat seit vielen Jahren einen festen Platz in der deutschsprachigen Wissenschaftslandschaft.

Konferenzübersicht:

Eröffnungssektion

Georg Psota (Wien): Vorbedingungen und nachfolgende Entwicklungen einer großen Psychiatriereform in einer europäischen Metropole am Beispiel Wien, 1960–1990

Henriette Löffler-Stastka (Wien): Der Mensch - mehr als Haut, Knochen, biochemische Reaktionen... Medizingeschichte und Medical Humanities in der Lehre – Herausforderungen und Umsetzungen

Sektion II: Psychiatrie und Psychotherapie in Wien und Österreich

Gustav Schäfer (Wien): Die Landes-Heil- und Pflegeanstalten für Geistes- und Nervenkranke in „Mauer-Öhling“ und „Am Steinhof“ – Moderne Anstalten, innovative Lösungen und Standards

Anna Katharina Böhler (Wien): Lesen in der Psychiatrie um 1900. Eine Kulturtechnik auf dem Weg durch die Anstalt

Uta Kanis-Seyfried (Ravensburg / Ulm): Von der Habsburgermonarchie nach Oberschwaben: Dr. Malvine Weiss/Rhoden. Der erste „weibliche Arzt“ in der Heilanstalt Schussenried (1911–1912)

Thomas Reuster (Radebeul / Dresden): Otto Gross (1877–1920). (S)ein Beitrag zur modernen Suizidassistenz

Sektion III: Psychiatrie im Nationalsozialismus

Kathrin Janzen (Wien): Die berufliche Sozialisation der Tatbeteiligten der „Aktion T4“ – Verwaltung eines Medizinverbrechens

Steffen Dörre (Berlin): Neue Kenntnisse zur „T4“

Sektion IV: Methodologie der Historiographie

Stefanie Coché (Gießen): Die psychiatrische Krankenakte als soundgeschichtliche Quelle

Lara Rzesnitzek (Berlin): Die Insulinkomatherapie als „Wiener“ Schocktherapie aus der Perspektive der Charité bis 1942: eine kleine Verflechtungsgeschichte

Sektion V: Seelenheilkunde des 18. u. 19. Jahrhunderts

Hans Förstl (München): Wenn der Wurm reisst, so erfolgt gemeiniglich der Tod: Reisemedizin für junge Königsberger

Werner Felber (Dresden): Carl Gustav Carus und Ida von Lüttichau – eine kreative Partnerschaft bei der Erkenntnis der Seele

Sektion VI: Neurochirurgie

Uwe J. Neubauer (Bremen): Die Entwicklung der perkutanen Therapiemethoden der Trigeminusneuralgie bis 1914

Ulrike Eisenberg (Berlin) / Detlef Rosenow (Cham): Politisch missliebig? Vom Umgang der Tübinger Universität mit dem Neurologen, Neurochirurgen und Nazigegner Heinz Köbcke (1895–1969) in der Nachkriegszeit

Michael Synowitz (Kiel): Die „Gesellschaft für Neurochirurgie der DDR“ – ein Rückblick auf ihre EANS-Mitgliedschaft und den Trainingskurs 1989 in Rostock-Warnemünde

Sektion VII: Museologie der Nervenheilkunde

Monika Ankele (Wien): Psychiatrie und Kunst in Österreich, 1900–1950

Thomas R. Müller (Leipzig): Psychiatriegeschichte aus Betroffenenperspektive
Das Sächsische Psychiatriemuseum in Leipzig

Sektion VIII: Varia / Einzelthemen

Stefan Jaster (Plau am See): Nelly Bly (1864–1922) – investigativer Journalismus in der amerikanischen Psychiatrie des 19. Jahrhunderts

Katharina Röse (Lübeck): Vom Lehrgang zum Fachschulstudium – die Qualifizierung von Arbeitstherapeut∗innen in der DDR

Bernd Reichelt (Ravensburg / Ulm): „…konnte ihre Zweckmäßigkeit wiederholt beweisen.“ Psychiatrische Außenfürsorge in Württemberg, 1945 bis 1960

Hannes Stubbe (Köln): Ein Gang durch die Wiener Psychiatrie im Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil

Sektion IX: Psychopharmakologie

Henrik Döbold (Leipzig / Marburg): Die Arzneimitteltaxe des Ernst Vix: Arzneimittel im Landeshospital Hofheim um 1850 zwischen Tradition und Moderne (Vortrag des Preisträgers des Nachwuchspreises der DGGN)

Schlussworte