Migration in der Moderne. Systeme – Wege - Erfahrungen – Konflikte

Migration in der Moderne. Systeme – Wege - Erfahrungen – Konflikte

Organisatoren
Archiv für Sozialgeschichte, Friedrich-Ebert-Stiftung
PLZ
-
Ort
Bonn
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
23.10.2023 - 24.10.2023
Von
Nikolai Wehrs, Archiv der sozialen Demokratie, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn

Das Thema Migration dominiert seit geraumer Zeit die politische Debatte. Ob die mit dem Thema verbundenen Problemfelder tatsächlich auch im Zentrum der gesellschaftlichen Konflikte stehen, darüber gehen die Meinungen auseinander. Während viele Politiker in der Migration „die Mutter aller Probleme“ erblicken und dabei wohl in erster Linie an die nachlassende Wählerbindung ihrer Parteien denken, sehen Wissenschaftler wie der Makrosoziologe Steffen Mau die gesellschaftlichen Konflikte eher „von oben erzeugt als von unten strukturiert.“ Die Tendenzen zur Polarisierung seien auch in der Migrationsdebatte „eher die Folge einer bestimmten politischen und diskursiven Dynamik“, während es im gesellschaftlichen Alltag letztlich um „Prozesse der Gewöhnung“ ginge.1 Auch die Autoren einer quantitativen Sozialstudie der Friedrich-Ebert-Stiftung kamen 2019 zu dem Schluss, Deutschland sei eigentlich ein „pragmatisches Einwanderungsland“. Die große Mehrheit der Deutschen ist, einen rechtsstaatlichen Rahmen vorausgesetzt, offen für Zuwanderung.2

Dem Thema Migration widmete sich in zeithistorischer Perspektive auch die Autorentagung 2023 des Archivs für Sozialgeschichte (AfS), die am 23. und 24. Oktober in den Räumen der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn stattfand. Denn auch in den Geschichts- und Sozialwissenschaften floriert die Migrationsdebatte und dies nicht allein deshalb, weil Migrationsgeschichte in besonderem Maße Schnittstellen für unterschiedlichste methodische und epochale Zugangsweisen bietet. Es war FRIEDRICH LENGER (Gießen), der im Namen der Veranstalter zu Tagungsbeginn hervorhob, dass das Forschungsfeld „Migration“ von jeher von politischen Konjunkturen mindestens ebenso stark geformt und normativ imprägniert worden sei wie von wissenschaftlichen Trends. Solange Deutschland noch vorwiegend Auswanderungsland gewesen sei, sei Migration auch in den Geschichtswissenschaften kaum problematisiert worden. Noch die Sozialgeschichtsschreibung der 1970er-Jahre interpretierte Migration mit modernisierungstheoretischer Stoßrichtung eher lösungsorientiert als „Chancenwanderung“ (etwa die Ost-West-Wanderung polnischer Arbeiter in westdeutsche Industriegebiete im Kaiserreich). Erst die Polarisierung der politischen Debatte um Zuwanderung in den 1980er-Jahren machte die Migrationsgeschichte zum festen Bestandteil einer Zeitgeschichtsschreibung als „Problemgeschichte der Gegenwart“ (Hans Günter Hockerts).3 War Migration lange Zeit vor allem unter dem Gesichtspunkt der „Wanderung“ betrachtet worden, mit der „Ankunft“ als logischem Abschluss, rückte mit dem Fokus auf Asylsuchende und Geflüchtete die Kategorie der „Integration“ in den Mittelpunkt eines neuen migrationsgeschichtlichen Paradigmas. Heute, so hatten die Veranstalter schon im Ankündigungstext proklamiert, hat sich die Migrationsforschung „von ihrem Ringen um Anerkennung emanzipiert, das anfangs noch stark davon geprägt war, mögliche ‚Leistungen‘ der aufnehmenden Länder oder der Migrierenden betonen zu müssen.“ Stattdessen stehen globale Migrationssysteme sowie staatliche und supranationale Steuerungsbemühungen im Fokus. Zugleich ist die Forschung vermehrt an der „agency“ und dem Erfahrungswissen von Migrierenden interessiert und thematisiert davon ausgehend ihre spezifischen Wege, Orte und Netzwerke.4

Man kann wohl sagen, dass von diesen aktuellen Großfeldern der Migrationsforschung das zweite die AfS-Autorentagung deutlich stärker beschäftigte als das erste. Um Migrationssysteme im Sinne systematischer Steuerungsbemühungen staatlicher oder anderer Institutionen ging es nur am Rande, wo bürokratische Akteure am ehesten in Form städtischer Verwaltungen oder kirchlicher Hilfswerke auftraten. Insgesamt aber dominierte eine vergleichsweise politik- und verwaltungsfreie sozial- und kulturgeschichtliche Betrachtung von Migrationsphänomenen.

Die Präsentation von OLGA SPARSCHUH (München) war eine der wenigen, die eine Behörde in den Fokus nahm, nämlich die preußische „Zentralstelle für ausländisches Bildungswesen“, die seit 1905 als Prüfstelle für die Zeugnisse und Bildungspatente ausländischer Bewerber:innen auf dem deutschen Arbeits- und Bildungsmarkt fungierte. Mangels verlässlichen Wissens über den Qualitätsgrad ausländischer Bildungsnachweise orientierte sich die Behörde primär am scheinbar Messbaren, vor allem an Ausbildungsdauer und Abschlussnoten. Dass aber überhaupt schon im frühen 20. Jahrhundert so viele Migrant:innen mit dokumentierten Bildungsabschlüssen nach Deutschland kamen, relativiert bereits allzu simple Vorstellungen vom Überwiegen der „Armutsmigration“. Auch in der Präsentation von AGNES GEHBALD (Bern) zur transatlantischen Remigration um 1900 ging es um bürokratische Steuerungsbemühungen bzw. um deren Ausbleiben. Denn die Behörden reagierten erst mit erheblicher Verspätung auf das unerwartete Phänomen, dass ein Großteil der europäischen Auswanderer in Richtung Amerika nach einiger Zeit wieder auf den Herkunftskontinent zurückstrebte. Anders als in den zentralen amerikanischen Migrationshäfen New York und Buenos Aires stand in den europäischen Häfen kaum Logistik für Ankommende zur Verfügung. In Deutschland wurde erst 1918 (nach dem Verlust der außereuropäischen Kolonien) eine „Reichsstelle für deutsche Rückwanderung und Auswanderung“ eingerichtet. Staatlich-institutionell gesteuert war zu einem gewissen Grade auch die von SEBASTIAN WILLERT (Leipzig) untersuchte Migration NS-verfolgter deutsch-jüdischer Akademiker in die Türkei in den 1930er-Jahren, die zentral von der „Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland“ organisiert und von der türkischen Regierung anfänglich auch gefördert wurde. Die türkische Seite erhoffte sich von den Geflüchteten Impulse für ihr noch weitgehend in den Strukturen des Osmanischen Reiches feststeckendes Hochschulwesen. Allerdings verhärtete sich die Haltung der Regierung im Laufe der 1930er-Jahre infolge massiver antisemitischer Kampagnen in den türkischen Medien. Ab 1938 verlangte die Türkei schließlich von Einreisenden aus dem Deutschen Reich einen „Ariernachweis“.

Von den im Tagungstitel markierten Kategorien „Systeme – Wege – Erfahrungen – Konflikte“ wurden die „Wege“ am häufigsten aufgerufen. Schon Gehbalds Präsentation zur transatlantischen Remigration machte klar, wie irreführend die Vorstellung von Migration als einseitiger Mobilitätsform ist, wobei Gehbald am Beispiel der transatlantischen Dampfschifffahrt auch aufzeigte, wie sehr zirkuläre Migration in der Moderne durch neue Verkehrsmittel erleichtert wurde. Bahnen, Busse und nicht zuletzt Kleinbusse sind diejenigen „modernen“ Verkehrsmittel, die auch heute noch maßgeblich die Pendelmigration von Arbeitsmigranten aus Südosteuropa prägen. LUMNIJE JUSUFI (Berlin) und JANA STÖXEN (Regensburg) bewegen sich in ihrer Forschung nicht nur metaphorisch auf dieser Infrastruktur aus Schienen und Straßen, denn ihr diachroner Vergleich der Pendelmigration mazedonisch-albanischer „Gastarbeiter“ im Ruhrgebiet in den 1970er-Jahren mit den Ausformungen desselben Lebensmodells bei heutigen Arbeitsmigrant:innen aus der Republik Moldau beinhaltet als „teilnehmende Beobachtung“ auch eigene Bus- und Bahnreisen nach und von Chișinău. Überwiegend auf Wegen hielt sich auch LUCKY IGOHOSA UGBURDIAN (Ebonyi/Bern) auf, der die Reisen von Arbeitsmigrant:innen aus Nigeria auf der Trans-Sahara-Route in den Blick nahm. Bereits seit dem Altertum eine der meistgenutzten Migrationsrouten auf dem afrikanischen Kontinent, hat die Wanderungsdynamik auf dieser Route eine neue Qualität erreicht, seit sie sich in den 1990er-Jahren als „cheapest way to Europe“ etablierte. Die allermeisten „Wandernden“ auf dieser Route bleiben allerdings in den nordafrikanischen Maghreb-Staaten stecken oder stranden schon auf dem Weg dahin in Niger.

Der Befund der Mobilitätsforschung, dass Migration mitnichten ein zielgerichteter Prozess „von A nach B“ ist, sondern im Regelfall eine längere Phase, in der die Betroffenen oft Jahre bis gar Jahrzehnte in „Transiträumen“ leben, stand als methodische Erkenntnis im Mittelpunkt der Präsentation von SWEN STEINBERG (Kingston/Washington). Am Beispiel europäischer Jüdinnen und Juden, die es in den 1930er-Jahren auf der Flucht vor der NS-Verfolgung auf die Philippinnen verschlug, zeigte Steinberg auf, wie das Leben in Transiträumen auf spezifische Weise von Kontingenz und geringer Planbarkeit geprägt ist, vor allem aber auch von extrem ungleichen Machtverhältnissen (man denke nur an den Ort des Transitlagers). Er zeigte aber auch (Stichwort „agency“), wie die Migrant:innen in diesen Räumen situationsadäquates Wissen entwickelten. Die Vielschichtigkeit des Transitraums als Begegnungsort wurde in seinem Fallbeispiel noch dadurch erweitert, dass die Einheimischen an den transitorischen Ankunftsorten im „globalen Süden“ die Geflüchteten aus Europa oftmals primär als Repräsentanten des „globalen Nordens“ und quasikoloniale Akteure wahrnahmen.

Damit war bereits der Bogen zu der Kategorie „Räume“ geschlagen, die insgesamt wohl noch häufiger aufgerufen wurde als die im Tagungstitel markierten Kategorien. Transiträume und Orte der Ankunft zugleich waren die Bahnhofsviertel westdeutscher Großstädte, deren Funktion für migrantische Lebenswelten DAVID TEMPLIN (Osnabrück) in den Blick nahm. Wie Templin an den Beispielen von Hamburg-St. Georg, der Ludwigsvorstadt in München und des Frankfurter Bahnhofsviertels entwickelte, bot sich hier vielen Migrant:innen nicht nur im urbanen Vergleich günstiger Wohnraum, die Bahnhofsquartiere und die Bahnhöfe selbst waren auch wichtige soziale Orte des Aufeinandertreffens, zum Beispiel in kirchlichen Beratungsstellen oder in den oft bahnhofsnah situierten Sprachschulen. Im Kontrast zum gängigen Bild des „Gastarbeiters“ als Industriearbeiter waren die Bahnhofsviertel aber auch wichtige Orte des Arbeitens, sei es im Lebensmittelhandel oder in den vielen migrantischen Reisebüros. Ebenso waren in Bahnhofsquartieren freilich auch viele Bordelle situiert und signalisierten so die Migrantisierung der Sexarbeit in der Bundesrepublik. Dennoch widersprach Templin der geläufigen Vorstellung, der „Verfall“ der Bahnhofsviertel hänge ursächlich mit der Entwicklung zum „Ausländerghetto“ zusammen. Tatsächlich habe der Wegzug der angestammten Bewohner deutlich früher begonnen, die „Gastarbeiter“ stießen also in freiwerdende Räume. Im Raum der westdeutschen Großstadt bewegten sich auch ANDREA ALTHAUS (Hamburg), LINDE APEL (Hamburg) und JANA MATTHIES (Hamburg), die ein Oral-History-Projekt der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH) vorstellten, welches kritisch die Selbstdarstellung der Freien und Hansestadt als besonders weltoffen („Tor zur Welt“) mit den Erfahrungen von Migrant:innen abgleichen will. Dem vorherrschenden ethnisch-nationalen Bezugsrahmen der Migrationsgeschichte setzt dieses Projekt einen dezidiert städtisch-lokalen Zugang entgegen, indem es bewusst darauf verzichtet, die Interviewten, allesamt Zugewanderte in Hamburg aus dem Zeitraum von 1970 bis 2008, nach Herkunftsländern oder Migrationsmotiven zu gruppieren. Neben erwartbaren Befunden wie der ubiquitären Isolations- und Differenzerfahrung durch den (anfänglichen) Ausschluss aus der Sprache des Exilortes zählte zu den auffälligeren Erkenntnissen die starke Identifikation migrantischer Bevölkerungskreise nicht so sehr mit der Stadt als vielmehr mit ihren jeweiligen Stadtvierteln.

Beschreibt sich Hamburg fast ostentativ als „schönste Stadt der Welt“, ist Brüssel offenbar ein Raum, der selbst von vielen Einheimischen als exzeptionell „lebensfeindlich“ wahrgenommen wird. Diesen Eindruck hinterließ jedenfalls die Präsentation von STIJN CARPENTIER (Leuven), der die Fürsorgetätigkeit der katholischen Kirche für Arbeitsmigrant:innen in der belgischen Hauptstadt in den Blick nahm. Zu den überraschendsten Erkenntnissen zählte sein Befund, dass das traditionell im wallonischen Teil Belgiens besonders konservative katholische Milieu paradoxerweise gerade aufgrund seiner antimodernistischen Orientierung die vornehmlich marokkanischen und türkischen Migrant:innen nicht so sehr durch die Linse der religiösen Differenz, sondern als besonders betroffene „Opfer“ der Urbanisierung betrachtete. Aus dieser Haltung heraus wurde die katholische Kirche zu einem wichtigen Kooperationspartner für den politischen Protest von Migrant:innen, bis hin zur Zurverfügungstellung von Kirchenräumen für Hungerstreiks. Eine interessante Perspektivenverschiebung nahmen JENS GRÜNDLER (Münster) und CHRISTOPH LORKE (Münster) vor. Ist die Migrationsforschung sonst stark auf die großstädtischen Zentren fixiert, wählten sie mit einer vergleichenden Untersuchung der Ortschaften Harsewinkel und Gütersloh die regionalgeschichtliche Perspektive, denn – so ihre Hypothese – im ländlichen Raum mit seinen „kurzen Wegen“ und einem großen Maß an Informalität sehe das Einwanderungsland Deutschland ganz anders aus. Genau dies wurde in der Diskussion allerdings infrage gestellt, denn vieles, was Gründler und Lorke zu Themen wie Arbeit, Wohnen, Schule und Ausbildung zutage förderten, ähnelte doch sehr den Befunden für den großstädtischen Raum – zumal andere Präsentationen verdeutlichten, wie wenig die Großstadt eine Entität darstellt, sind doch in Hamburg oder Berlin zumeist die Bezirksverwaltungen die erste Anlaufstelle für migrantische Anliegen.

Apropos Raum: Auffallend bildete der Großraum Europa in fast allen Präsentationen entweder den Ausgangspunkt oder den Zielpunkt der beschriebenen Migrationsprozesse. Mit rein außereuropäischer Migration befasste sich fast allein ANNE D. PEITER (Réunion) anhand der vielschichtigen Rolle von Migrationskonflikten beim Genozid in Ruanda 1994 (für den Peiter offensiv den Terminus „Tutsizid“ propagierte). Wie Peiter zeigte, beruhte bereits die artifizielle Ethnogenese Ruandas unter deutscher und belgischer Kolonialherrschaft auf dem fiktiven Narrativ, im Unterschied zu den „bäuerlichen“ Hutu seien die Tutsi als „Hirtenvolk“ in Ruanda bloß „eingewandert“. Die Massenflucht der Tutsi infolge der Hutu-Revolte von 1959 produzierte wiederum langanhaltende Verschwörungsphantasmen über eine drohende „Rache“ der Tutsi im Falle ihrer Remigration. Am Ende des Völkermords stand schließlich nach der Vertreibung der Hutu-Machthaber 1994 erneut eine Massenflucht, diesmal der Hutu, was nach Peiters Einschätzung bei europäischen Beobachtern zu Fehlinterpretationen „der realen Rollen von Opfern und Tätern“ führte.

Die Einbeziehung originär migrantischer Erfahrungen war allen Vortragenden und Diskutanten gleichermaßen wichtig, ließ sich aber in den einzelnen Präsentationen je nach Thema und Quellenlage leichter oder schwerer herstellen. Zentral ist die migrantische Perspektive natürlich in dem Oral-History-Projekt der FZH, das sehr gezielt die spezifischen Narrative analysiert, mit denen Migrant:innen ihre Erfahrungen des „Ankommens“ und „Bleibens“ in der neuen Stadt beschreiben. In der Diskussion wurde freilich auch problematisiert, ob durch solche Interviewforschung nicht Teile der Stadtbevölkerung artifiziell „migrantisiert“ würden. Beeindruckend war, wie viel SUSANNE QUITMANN (München) aus einer wahrlich schlechten Quellenlage herausholte, um die Erfahrungsgeschichte jener circa 150.000 sozial benachteiligten Kinder zu schreiben, die zwischen 1869 und 1970 im britischen „child migration scheme“ nach Kanada und Australien zwangsausgesiedelt wurden. Im Mutterland wollte man damit nicht nur ein soziales Problem transferieren, sondern hoffte zugleich auf „living links“ zu den überseeischen Siedlerkolonien, zumal Kinder aufgrund einer unterstellten erhöhten Assimilationsfähigkeit als vergleichsweise problemlose Migranten galten – zu Unrecht, wie Quitmann betont. Emotionale und rechtliche Identitätskämpfe beschäftigten viele Betroffene buchstäblich ein Leben lang, wobei nicht wenige eine neue Identität in der Rolle als lebenslänglicher „child migrant“, also im langfristigen Nicht-Ankommen, fanden.

Innovativ wirkte besonders der Ansatz von EVA MARIA GAJEK (Köln) und BETTINA SEVERIN-BARBOUTIE (Clermont Auvergne), die spezifischen Erfahrungswelten von Migrant:innen über einen objektgeschichtlichen Zugriff aufzuschlüsseln – und zwar konkret über das kulturwissenschaftlich bekannte Phänomen des „Automobilismus“, bei dem der (zumindest leihweise) Besitz bestimmter Automobile den Besitzern zur sozialen Neupositionierung dient. Im Fall der bundesrepublikanischen „Gastarbeiter“ galt vor allem der Kauf eines Mercedes-Benz sowohl als Symbol des „Ankommens“ in der neuen Heimat, als er zugleich als Ausweis des Erfolgs in der Fremde in die alte Heimat zurückkommuniziert werden konnte. Im Heimaturlaub wurde das deutsche Automobil stolz den früheren Nachbarn präsentiert, wobei sich der Sensationswert eines Mercedes-Benz (zumal bei älteren Modellen) rascher als gedacht auch in Anatolien abschwächte. Mit migrantischer „agency“ beschäftigte sich auch STEFAN ZEPPENFELD (Bochum) in seinen Fallsondierungen für eine Sozialgeschichte der Bundesrepublik als Einwanderungsland. So deutete Zeppenfeld etwa die Freizeitaktivität von Migrant:innen als eine Form des politischen Aktivismus. Wo Migrant:innen in lokalen Sportvereinen Fuß zu fassen suchten, oder aber für eigene migrantische Sportvereine bei lokalen Verwaltungsträgern den Zugang zu Trainingsgeländen aushandeln mussten, wurde „Freizeit“ als ein politischer Raum konstituiert, in dem Migrant:innen sehr konkret um gesellschaftliche Teilhabe kämpften. Auch dieser Befund steht konträr zur geläufigen Vorstellung migrantischer „Parallelgesellschaften“.

THOMAS KROLL (Jena) eröffnete die Abschlussdiskussion mit dem Hinweis auf das beachtliche methodische Spektrum der Tagung. In der Tat boten die Präsentationen von ethnologischen, linguistischen und literaturwissenschaftlichen Methoden bis hin zum Einsatz von Sozialstatistik bemerkenswert vielfältige Zugänge zu allerdings oft sehr ähnlichen Phänomenen. Selbstreflektierend wurde in der Abschlussdiskussion darauf hingewiesen, wie erstaunlich stark der zeitgeschichtliche Blick auf Migration noch immer von der Arbeitsmigration nach Westeuropa in den 1960er-Jahren bestimmt werde, allen Bemühungen um Verflüssigung des Bildes zum Trotz. Die globalen Dimensionen von Flucht und Migration, die sich doch anerkanntermaßen ganz überwiegend außerhalb Europas abbilden, wurden auch auf dieser Tagung letztlich nur ausschnitthaft erfasst. Im Zentrum stand vielmehr einmal mehr das Bemühen, das „Migrantische“ und konkret die migrantische „agency“ organischer als bisher in der sozialgeschichtlichen Historiografie (west-)europäischer Gesellschaften abzubilden. Stefan Zeppenfeld trieb das Plädoyer hierfür bis zur Forderung nach einer „Umkehr der Nachweispflicht“. Künftig müsse bei jeder neuen Forschungsfrage die angenommene Nichtrelevanz migrantischer Perspektiven begründungsbedürftig sein.

Konferenzübersicht:

Philipp Kufferath (Bonn): Begrüßung und Einführung in die Tagung

Thomas Kroll (Jena)/ Friedrich Lenger (Gießen): Migration in der Moderne – Systeme, Wege, Erfahrungen, Konflikte

Panel 1: Perspektiven. Moderation: Claudia Gatzka (Freiburg)

Stefan Zeppenfeld (Bochum): Jenseits von Ankunft und Arbeit. Forschungsperspektiven für eine Sozialgeschichte des Einwanderungslandes

Jens Gründler/Christoph Lorke (Münster): Ankommen und Bleiben im ländlichen Raum. Neue regionalgeschichtliche Perspektiven auf die Migrationsgeschichte

Swen Steinberg (Kingston/Washington): Angekommen? Transit als notwendige Perspektive einer modernen Migrationsgeschichte

Panel 2: Systeme. Moderation: Friedrich Lenger (Gießen)

Lucky Igohosa Ugbudian (Ebonyi/Bern): Dynamics of Migration in Africa: Nigerian Experiences

Agnes Gehbald (Bern): „Riesige Personenzahlen, die nach Europa zurückzukehren beabsichtigen“: Transatlantische Rückwanderungen von Buenos Aires und New York um 1900

Olga Sparschuh (München): Bildungsmigration im langen 20. Jahrhundert. Konflikte um ausländisches Wissen in der Zentralstelle für ausländisches Bildungswesen

Panel 3: Zugehörigkeiten. Moderation: Anja Kruke (Bonn)

Susanne Quitmann (München): Empire’s Children? Child Migrants Voicing Identity and Belonging, 1869–1970

Eva Maria Gajek (Köln)/ Bettina Severin-Barboutie (Clermont Auvergne): „Du bist, was du fährst“. Automobil, Arbeitsmigration und sozialer Status in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Panel 4: Wege. Moderation: Meik Woyke (Hamburg)

Lumnije Jusufi (Berlin)/ Jana Stöxen (Regensburg): Alle Wege führen nach Deutschland? Pendelrouten (süd)osteuropäischer Migrant:innen

David Templin (Osnabrück): Bahnhofsquartiere westdeutscher Großstädte als Räume des Ankommens und der Migration in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Panel 5: Konflikte. Moderation: Kirsten Heinsohn (Hamburg)

Sebastian Willert (Leipzig): Geflüchtet und (vor-)verurteilt. Die Migration jüdischer Wissenschaftler:innen in die Türkei in den 1930er und 1940er Jahren

Anne D. Peiter (Réunion): Migration – Krieg – Genozid. Zur Migrationserfahrung in autobiographischen Texten von Überlebenden des Tutsizids

Panel 6: Urbane Erfahrungen. Moderation: Philipp Kufferath (Bonn)

Andrea Althaus/ Linde Apel/Jana Matthies (Hamburg): Migration erzählen. (Post)migrantische Perspektiven auf die Stadtgeschichte

Stijn Carpentier (Leuven): Migrants and the Animosity of the Urban Metropole. Faith-based initiatives for Migrants in Brussels, 1970–1990

Abschlussdiskussion. Moderation: Thomas Kroll (Jena)

Anmerkungen:
1 Steffen Mau zit. nach Matthias Brodkorb, „Die Spaltung ist eine Chimäre“ – Wie zerrissen ist die Gesellschaft?, in: Cicero 11/2023, S. 96–102, hier S. 99 u. 102; vgl. Steffen Mau / Thomas Lux / Linus Westheuser, Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft, Berlin 2023; zum Zitat „Mutter aller Probleme“ vgl. Robert Roßmann, „Seehofer zeigt Verständnis für Demonstranten“, in: Süddeutsche Zeitung, 6.9.2018, S. 6.
2 Rainer Faus / Simon Storks, Das pragmatische Einwanderungsland. Was die Deutschen über Migration denken, Bonn 2019.
3 Hans Günter Hockerts, Zeitgeschichte in Deutschland. Begriff, Methoden, Themenfelder, in: Historisches Jahrbuch 113 (1993), S. 98–127, hier S. 124.
4 Zit. nach: Migration in der Moderne: Systeme – Wege – Erfahrungen – Konflikte, In: H-Soz-Kult, 11.10.2023, <www.hsozkult.de/event/id/event-139253>.

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