"Der andere Sozialstaat": Jahrestagung der Gesellschaft für Historische Sozialpolitikforschung

"Der andere Sozialstaat": Jahrestagung der Gesellschaft für Historische Sozialpolitikforschung

Organisatoren
Winfried Süß / Cornelius Torp / Heike Wieters, Gesellschaft für Historische Sozialpolitikforschung; Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam
PLZ
14467
Ort
Potsdam
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
14.03.2024 - 15.03.2024
Von
Fritz Kusch, Sonderforschungsbereich 1342: Globale Entwicklungsdynamiken von Sozialpolitik, Universität Bremen

„Der andere Sozialstaat“ stand im Fokus der Jahrestagung der Gesellschaft für Historische Sozialpolitikforschung. Wie Winfried Süß (Potsdam) und Cornelius Torp (Bremen) in ihrer Einführung darlegten, nahm es sich die Tagung zum Ziel, das Mitwirken von Akteuren außerhalb der gesetzlichen Sozialversicherung an der Wohlfahrtsproduktion in Deutschland historisch zu untersuchen. Vor allem private Akteure im Wohlfahrtsstaat sowie die Rolle nichtstaatlicher gemeinnütziger Wohlfahrtsverbände sollten im Zentrum der Diskussion stehen.

Anhand von Fotografien, die Mitarbeiterinnen der Augsburger Fürsorge 1938 von fürsorgebedürftigen Familien und ihren Wohnbedingungen in sogenannten Elendsquartieren anfertigen ließen, zeigte JAN NEUBAUER (Köln) das Spannungsfeld auf, in dem sich lokalpolitische Wohlfahrtsakteure im Nationalsozialismus bewegten. Die mikrogeschichtliche Tiefenbohrung, welche die zu einem Album mit Begleittexten zusammengestellten Fotografien ermöglichen, verdeutlichte die Ambivalenz und Kontinuität älterer Fürsorgepraktiken auf lokaler Ebene während des Nationalsozialismus. Während sich in den Begleittexten und besonders in den Vorberichten Versatzstücke der nationalsozialistischen Weltanschauung fanden und biologistisch argumentiert wurde, deuteten die in der längeren Tradition der Sozialfotografie stehenden Aufnahmen eher einen Zusammenhang zwischen schlechten Wohnungsbedingungen und Fürsorgebedarf an. So nutzte die Stadt Augsburg die Aufnahmen dann auch vornehmlich, um mit dem Hinweis auf die schlechten und, so die Behauptung, abweichendes Verhalten fördernden Lebens- und Wohnbedingungen der Familien für die staatliche Unterstützung eines kommunalen Wohnungsbauprogramms zu werben.

UWE KAMINSKY (Berlin) untersuchte die Rolle konfessioneller Wohlfahrtsakteure in der bundesdeutschen Wohlfahrtsproduktion anhand der Inklusions- und Exklusionsdynamiken der konfessionellen Heimerziehung im 20. Jahrhundert. Er betonte, dass die Geschichte konfessioneller Sozialstaatsakteure jenseits einer klassischen Institutionengeschichte ein noch weitestgehend unbearbeitetes Feld darstellt, das gerade in der historischen Analyse einzelner konkreter Arbeitsfelder wie der Jugendfürsorge noch erhebliches Potential für weitere Forschung bietet. Kaminsky verdeutlichte, dass die konfessionelle Heimerziehung zwar mit Eingliederung in die bürgerliche Gesellschaft durchaus inklusive Zielstellungen verfolgte, Kinder und Jugendliche in der Praxis jedoch der Gesellschaft entzogen und der außerhalb der Gesellschaft stehenden „totalen Institution“ des Erziehungsheims unterstellt wurden. Dadurch entfaltete die konfessionelle Heimerziehung eine exkludierende Wirkung. In der Praxis der Heimerziehung dominierte zudem über die Systembrüche des 20. Jahrhunderts hinweg bis in die 1960er-Jahre hinein ein erstaunlich resilienter autoritärer Erziehungsansatz, der zum einen von einer heteronormativen Tabuisierung der Sexualität geprägt war und zum anderen um Werte wie Ordnung, Sauberkeit und Disziplin als erwünschte Verhaltensnormen kreiste, wobei beides jeweils religiös begründet wurde.

Ein Forschungsprojekt zur Geschichte der Kinderkuren in der Bundesrepublik stellte HELGE JONAS PÖSCHE (Berlin) vor. Der bisher nur geringen Aufmerksamkeit der professionellen historischen Forschung steht ein mehrheitlich aktivistisch geprägtes Interesse der breiteren Öffentlichkeit an der Geschichte der Kinderkuren gegenüber, das stark vom Engagement und den Erfahrungsberichten Betroffener von Missbrauch und Gewalt in Kinderkuren geprägt ist. Dieses Engagement Betroffener umschrieb Pösche gleichermaßen als Herausforderung und Chance für die historische Forschung. Kinderkuren dienten in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit zunächst der Gewichtszunahme und Erholung besonders von Stadtkindern, erlebten ihren Höhepunkt als allgemeine Heil- und Erholungskuren allerdings in den 1950er- und 1960er-Jahren, als die Rentenversicherung im Zuge der Rentenreform 1957 die Finanzierung übernahm. Pösche plädierte dafür, das System der Kinderkuren als komplexes institutionelles Gefüge zu betrachten, dessen Erforschung nicht auf die bloße Betrachtung der Kurheime selbst zu reduzieren sei, sondern auch die sozialstaatlichen Finanzierungsinstanzen und die in lokale Kontexte eingebetteten Entsendeinstitution umfassen müsse. Bezüglich der Persistenz stark gewaltsamer Erziehungsmethoden in den Kurheimen skizzierte Pösche ein Ineinandergreifen der autoritär geprägten zeitgenössischen Erziehungsideale, der kontinuierlichen Unterausstattung der Heime, der teils mangelnden pädagogischen Ausbildung des Personals sowie der Tatsache, dass die Kurheime einen abgeschlossenen und dadurch relativ unkontrollierten sozialen Raum bildeten, als möglichen Erklärungsansatz.

CARSTA LANGNER (Jena) untersuchte die Rolle der sechs großen bundesrepublikanischen Sozialverbände beim Aufbau sozialverbandlicher Strukturen in der DDR in der Umbruchsphase vor der Wiedervereinigung im Herbst 1990. Langner verdeutlichte, dass die zu Koordinierungszwecken in einem von ihr als „kartellförmige Schließung“ bezeichneten Zusammenschluss organisierten Dachverbände mit Blick auf die relativ abrupten Ereignisse in der DDR keine einheitliche Strategie verfolgten und zumeist eher reagierten, anstatt proaktiv tätig zu werden. In diesem Zusammenhang fragte Langner nach dem Zusammenhang zwischen strukturellen Erfordernissen und ideellen Zielsetzungen der Dachverbände. Insbesondere das Beispiel des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, der eine schlichte Übertragung bundesrepublikanischer Strukturen zunächst ablehnte und auf den Aufbau lokaler Organisationstrukturen von unten setzte, sich aber gerade wegen der enormen Konkurrenz doch genötigt sah, rasch einen Strukturtransfer einzuleiten, verdeutlichte, wie sehr auch die Sozialverbände in der Umbruchsphase des Jahres 1990 zu Getriebenen der sich rasant entfaltenden Wandlungsdynamik wurden. Langner stellte zudem die These auf, dass das Fehlen der für die Bundesrepublik so prägenden Ehrenamtsstruktur auf lokaler Ebene in der DDR dazu führte, dass die Sozialverbände sich strukturell zu einer stärkeren Kommerzialisierung ihrer Arbeit genötigt sahen, die viele Elemente der zu Beginn der 2000er-Jahre dann auch gesamtdeutsch unter dem Rubrum „Aktivierender Sozialstaat“ umgesetzten Reformen bereits vorwegnahm.

DAVID TEMPLIN (Osnabrück) stellte einen im Auftrag des Deutschen Instituts für Interdisziplinäre Sozialpolitikforschung (DIFIS) erarbeiteten Forschungsüberblick über das bisher relativ selten historisch untersuchte Zusammenwirken von Migration und Sozialstaat vor. Als wesentliche Verbindungspunkte der beiden Politikfelder unterstrich er die Inklusions- und Exklusionsdynamiken, die beispielsweise den Zugang von Migrant:innen zu sozialstaatlichen Leistungen oder auch den Versuch kennzeichneten, die Gewährung oder Verweigerung sozialpolitischer Maßnahmen zur Migrationskontrolle einzusetzen. Templin plädierte dafür, den in der historischen Migrationsforschung entwickelten Begriff des Migrationsregimes um den Aspekt der sozialpolitischen Einbindung von Migrant:innen, den Aufnahme- und Betreuungsregimen, zu erweitern und verschiedene Migrationsregime, die von der Forschung bisher zumeist als Einzelphänomene untersucht wurden, in einer langfristigen historischen Perspektive zu vergleichen. Auch eine genauere und vor allem langfristig angelegte historische Analyse der Entwicklung des medialen, wissenschaftlichen und politischen Problemdiskurses hinsichtlich der Inanspruchnahme sozialstaatlicher Leistungen durch Migrant:innen machte Templin als ein Forschungsdesiderat aus.

In ihrem anschließenden Kommentar zeigte JENNY PLEINEN (Hagen) auf, wie sich der von Templin angeführte Begriff des Migrationsregimes anhand der Analysekategorien Staatsbürgerschaft, Gender und Klasse weiter ausdifferenzieren lässt. Beispielhaft verdeutlichte sie, dass sich im bundesrepublikanischen Migrationsdiskurs eine langfristig auch realpolitisch wirksame Zweiteilung von Migrant:innen anhand ihrer Staatsbürgerschaft auftat. Während eine rassistisch grundierte Ablehnung vor allem asiatischer und afrikanischer Zuwanderung dazu führte, dass potentiellen Migrant:innen Zugangswege jenseits des Asylrechts größtenteils verschlossen blieben, wurde Zuwander:innen aus den Ländern der Europäischen Gemeinschaft (EG)/Europäischen Union (EU) zunehmend Zugang zum bundesdeutschen Sozialstaat gewährt, sodass diese langfristig zu „Wohnbürger:innen“ wurden, denen hinsichtlich sozialstaatlicher Leistungen die gleichen Rechte wie Staatsbürger:innen zustanden. Bezüglich der Analysekategorie Gender machte Pleinen deutlich, wie stark der Blick bundesdeutscher Behörden auf die im Zuge des Familiennachzuges eingewanderten Frauen männlicher Gastarbeiter von Zuschreibungen traditioneller Rollenbilder geprägt war, wodurch Migrant:innen der Zugang zu Erwerbsarbeit erheblich erschwert wurde.

MILENA GUTHÖRL (Zürich) fokussierte ihren Beitrag auf die Rolle von Versicherungsmathematikern, sogenannte Aktuare, als transnationale Akteure der Sozialstaatsentwickung. Zunächst verdeutlichte sie am Beispiel der seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert regelmäßig stattfindenden internationalen Konferenzen der Versicherungsmathematiker und Statistiker die zentrale Rolle der Aktuare bei der Internationalisierung, Standardisierung und Professionalisierung des Sozialversicherungswesens. Am Beispiel des tschechisch-jüdischen Sozialversicherungsexperten Emil Schönbaum, der mithilfe der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in den 1940er-Jahren nach Lateinamerika emigrieren konnte und dort am Aufbau der Sozialversicherungswesen in Ecuador, Mexiko und anderen Staaten beteiligt war, verdeutlichte sie, wie stark der Aufbau wohlfahrtsstaatlicher Strukturen in Lateinamerika in den 1940er- und 1950er-Jahren von internationalen Expertennetzwerken und dem so ermöglichten Wissenstransfer beeinflusst war. Gleichzeitig betonte Guthörl das Spannungsfeld, in dem sich Aktuare wie Schönbaum in ihrer Rolle als transnationale Sozialstaatsexperten bewegten, die formal als technische Fachleute entsandt wurden, sich allerdings zunehmend auch mit generellen Fragen des Wohlfahrtsstaatsaufbaus beschäftigten und sich als allgemeine Wohlfahrtsstaatsexperten präsentierten.

Das Wirken des Reichsverbandes der Privatversicherung und ihres Vorsitzenden Kurt Schmitt, in Personalunion Vorstandschef der Allianz-Versicherung, in der späten Weimarer Republik und in den ersten Jahren des Nationalsozialismus stand im Zentrum des Beitrags von DEREK HATTEMER (Basel). Er zeigte auf, wie die privaten Versicherungsanbieter in ihrem Versuch, private Lebensversicherungen zu popularisieren, regelmäßig in Konkurrenz zur staatlichen Sozialversicherung gerieten und in einer regen Öffentlichkeitsarbeit gegen diese polemisierten. Schmitt, der bereits früh Kontakte zu hochstehenden NS-Funktionären gesucht hatte, wurde im Sommer 1933 von Hitler zum Reichswirtschaftsminister ernannt und setzte in der Folge beispielsweise mit dem Gesetz zur Ordnung der Deutschen Arbeit von 1934 Maßnahmen um, die den Gewinn- und Geschäftsinteressen der deutschen Privatversicherer stark entgegenkamen. Dabei war, wie Hattemer aufzeigte, die Nähe zum NS-Regime nicht politischer Naivität geschuldet, sondern Ergebnis des zielbewussten Handelns von Branchenvertretern der Privatversicherer wie Kurt Schmitt. Eindrucksvoll demonstrierte Hattemer die bemerkenswerte Anpassungsfähigkeit der Privatversicherer, die ihr Geschäftsmodell vor allem hinsichtlich der Außendarstellung rasch in den nationalsozialistischen Volksgemeinschaftsdiskurs integrierten, ohne jedoch ihre Zielstellung, den möglichst flächendeckenden Verkauf privatwirtschaftlich angebotener Lebensversicherungspolicen, aufzugeben.

WINFRIED SÜSS (Potsdam) skizzierte die Geschichte des Kurwesens in der Bundesrepublik als staatlich regulierter Wohlfahrtsmarkt. In Abgrenzung zur längeren Geschichte des Kurwesens, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht, diagnostizierte Süß hinsichtlich der sozialen Zusammensetzung der Kurgäste eine Öffnung hin zu breiteren Schichten seit den 1950er-Jahren, die er wesentlich an der öffentlichen Finanzierung der Kuren durch die staatlichen Sozialversicherungen festmachte, die nach der Rentenreform 1957 zunehmend zur Norm wurde. Die Begründung der Kur als Maßnahme zur Wiederherstellung der Arbeitskraft blieb von diesem Wandel allerdings wenig berührt: Arbeit blieb über das gesamte 20. Jahrhundert und alle Systembrüche hinweg der normative wie soziale Bezugspunkt des Kurwesens. Vor allem betonte Süß, dass sich im Kurwesen gerade ob der spezifischen Konstellation von öffentlicher Finanzierung, breiter gesellschaftlicher Nachfrage und weitestgehend privatwirtschaftlichem Angebot ein Wohlfahrtsmarkt etablierte, auf dem eine privatwirtschaftlich geprägte Kurindustrie um die Kurgäste konkurrierte. Diese bildete die wirtschaftliche Grundlage vieler prosperierender Kurorte und prägte deren Erscheinungsbild. Auf dem von ihm skizzierten Wohlfahrtsmarkt wurde, so Süß, das Verhältnis zwischen privatwirtschaftlichen Gewinninteressen und wohlfahrtstaatlichen Aufgaben immer wieder neu ausgehandelt. Die spezifische Dynamik der Einbindung privatwirtschaftlich-gewinnorientierter Wohlfahrtsakteure in die Durchführung sozialpolitischer Maßnahmen weist zudem über das enge Feld des bundesrepublikanischen Kurwesens hinaus und eröffnet eine allgemeine Forschungsperspektive für die historische Sozialpolitikforschung.

Das Aufzeigen eben solcher neuen Forschungsperspektiven war ein verbindendes Element vieler Tagungsbeiträge: Das vergleichsweise geringe Interesse, das die historische Forschung bisher Akteuren außerhalb der gesetzlichen Sozialversicherung und ihrem Wirken im deutschen Wohlfahrtsstaat geschenkt hat, steht, so der vielfache Befund, in starkem Kontrast zu der oft erheblichen Breitenwirkung dieser sozialstaatlichen Maßnahmen. Der „andere Sozialstaat“ bietet somit zahlreiche Ansatzpunkte für weiterführende Forschungen. Insofern verdeutlichte die Tagung die noch unausgeschöpften Potentiale historischer Sozialstaatsforschung und lässt auf zukünftige Studien sowie die weitere Arbeit der Gesellschaft für Historische Sozialpolitikforschung hoffen.

Konferenzübersicht:

Winfried Süß (Potsdam) / Cornelius Torp (Bremen): Einführung

Ambivalenzen der Wohlfahrtsproduktion

Jan Neubauer (Köln): Armes Augsburg. Nationalsozialistische Sozialfotografie zwischen Dokumentation, Fürsorge und Verfolgung

Uwe Kaminsky (Berlin): Fürsorge und Gewalt als konfessionelle Wohlfahrtsproduktion

Helge Jonas Pösche (Berlin): Kinderkuren in der alten Bundesrepublik

Carsta Langner (Jena): Das ambivalente Agieren der Wohlfahrtsverbände im Umbruchjahr 1990

Migration und Sozialstaat

David Templin (Osnabrück): Migration und Sozialpolitik in historischer Perspektive. Forschungsbefunde und -perspektiven für die neuere deutsche Geschichte

Jenny Pleinen (Hagen): Kommentar

Private Akteure im Wohlfahrtsstaat

Milena Guthörl (Zürich): Soziale Sicherheit jenseits von Grenzen. Emil Schönbaum, Robert Myers und Antoine Zelenka als Akteure eines globalen Expertennetzwerks

Derek Hattemer (Basel): Gemeinsam in die Gefahrengemeinschaft. Kurt Schmitt, der Reichsverband der Privatversicherer und die Krise der Weimarer Sozialversicherung, 1929-1933

Winfried Süß (Potsdam): Die Kur als Wohlfahrtsmarkt. Eine andere Perspektive auf den deutschen Sozialstaat

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