The Ukrainian Past and Present at German Universities: Teaching Experiences

The Ukrainian Past and Present at German Universities: Teaching Experiences

Organisatoren
Fakultät für Geschichtswissenschaft, ­Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld
PLZ
33602
Ort
Bielefeld
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
14.10.2023 -
Von
Halyna Leontiy, Institut für Methoden und methodologische Grundlagen der Sozialwissenschaften, Georg-August-Universität Göttingen

Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat im deutschsprachigen Raum viele Diskussionen um die eingeschränkten Kenntnisse über die Ukraine und die akademische Lehre mit Ukraine-Bezug entfacht. Zwar wird festgestellt, dass diese Kenntnisse bei deutschen Studierenden zugenommen haben, dennoch bleibt die Frage der curricularen Integration der Ukraine-bezogenen Lehrinhalte offen. Damit beschäftigten sich Wissenschaftler:innen im Rahmen eines internationalen und interdisziplinären Workshops am 14. Oktober 2023, organisiert von der Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie der Universität Bielefeld. Zum Workshop-Komitee gehörten Franziska Davies (München), Frank Grüner (Bielefeld), Kornelia Kończal (Bielefeld), Nataliia Sinkevych (Leipzig) und Yaroslav Zhuravlov (Kyiv / Bielefeld) in Kooperation mit Andrii Portnov (Frankfurt an der Oder) und finanziert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung.

In seinem Eröffnungsvortrag schilderte ANDRII PORTNOV die historische Entwicklung der Ukrainestudien und die dazu gehörigen Publikationen in Deutschland, wonach sich ein insgesamt trostloses Bild ergibt: Auf die „Ukrainische Geschichte“ von Johann Christian von Engel (1796) folgte 1906 die Übersetzung der „Geschichte der Ukraine-Rus“ von Hrushevsky. Am 1915 zur Popularisierung der Ukrainestudien im deutschsprachigen Raum gegründeten ukrainischen wissenschaftlichen Institut in Berlin sind einige Dissertationen entstanden. Die in den 1940er-Jahren erschienenen deutschsprachigen Bücher wurden später diskreditiert und nach der Übersiedlung von ukrainischen Wissenschaftler:innen nach Nordamerika wurde bis zu den 1990er-Jahren bzw. bis zum Ausbruch des totalen Kriegs kaum publiziert. Die Inhalte all dieser deutschsprachigen Publikationen ergeben eine thematische Wiederholung über den gesamten Zeitraum: Die Hauptnarrative sind der Nationalismus mit der Hauptfigur Banderas und der Opferstatus mit der Bloodland-Metapher. Die aktuelle Lage der akademischen Stellenbesetzung sei nicht weniger trostlos: eine (inzwischen aufgestockte) 50%-Professorenstelle in Frankfurt an der Oder, eine Junior-Professur in Greifswald, eine Deutsch-Ukrainische Historiker-Kommission, die 2023 gegründete „Virtual Ukraine Institute for Advanced Study“ in Berlin sowie das ebenfalls 2023 gegründete „Viadrina Center of Polish and Ukrainian Studies“. Es gebe zwar Bemühungen der Etablierung des Ukrainisch-Unterrichts in Deutschland, jedoch vermisste der Redner institutionelle Veränderungen.

Der Vortrag entfachte eine Diskussion zu den generellen Fragen nach den Inhalten von und der disziplinären Beteiligung an den Ukrainestudien sowie der Rolle von großen Fächern, die den Blick auf die Ukraine als eine unterbeforschte Nation prägen. Dazu gehören Zuschreibungen von Nationalismus in einer postnationalen Gesellschaft oder nicht existenten Nation. Nach FRANZISKA DAVIES bedarf es für die Entkolonialisierung der Osteuropastudien eines Kulturwandels sowie finanzieller Ressourcen. Einige sahen die Problematik der Abgrenzung zu anderen Fächern wie den Jewish Studies. NATALIA SINKEVYCH plädierte für einen in der internationalen Zusammenarbeit notwendigen interdisziplinären Forschungsansatz. Zudem stelle sich die Frage nach der Integration ukrainischer Forschenden in den deutschen Wissenschaftsdiskurs. Bei der Finanzierungssuche und der Institutionalisierung von ukrainischen Stipendiat:innen bedarf es einer vielseitigen Strategie, wie der aktiven Teilnahme an öffentlichen Debatten.

Im ersten Panel berichteten Historiker:innen im Rahmen eines offenen Forums über ihre Lehrerfahrungen mit Ukraine-Bezug an deutschen Universitäten seit 2022. Ungeachtet unterschiedlicher Lehraffiliationen – MARIIA KOVALCHUK (München) in der Ukrainischen Geschichte des 20.-21. Jahrhunderts, JARED WARREN (München) in den Polnischen Studien und BOZHENA KOZAKEVYCH (Frankfurt an der Oder) in der Kulturgeschichte Osteuropas und der Ukraine – wurde das Problem der fehlenden wissenschaftlichen Literatur zur Ukraine und deutschen Übersetzungen thematisiert. Zwar wurde ein gestiegenes Interesse für die Ukraine seit 2013 festgestellt, jedoch vermisste Kovalchuk umfassende Ukraine-Narrative in den deutschen Geschichtsschulbüchern. Das Fehlen der Ukraine auf der mentalen Karte der jungen Generation verhindere die Frage nach der moralischen Verantwortung Deutschlands gegenüber der Ukraine im Zweiten Weltkrieg. Lehrende seien mit einer Vielzahl von Stereotypen über die Ukraine konfrontiert, was sie auf fehlende Übersetzungen von Archivdokumenten und darauf basierende wissenschaftliche Arbeiten zurückführen. Die ukrainische Nationalbewegung soll in einem globalen Kontext betrachtet werden, wofür der Ansatz der „Entangled History of Ukraine“ an dem neugegründeten „Viadrina Center of Polish and Ukrainian Studies“ besonders produktiv sei. ANDREI DORONIN (Bonn) ging auf die Fragen der modernen nationalen Geschichtsschreibung und der Dekolonisierung der Ukraine ein. Solange der Krieg andauert, wird die Ukraine im Kontext der osteuropäischen Geschichte im Gegensatz zum imperialen sowjetischen Putin-Russland betrachtet. Jedoch bestehe die Aufgabe der heutigen ukrainischen Historiker:innen darin, die Geschichte der Ukraine in den europäischen Teil zu integrieren, wo ihre Wurzeln auch seien. KATERYNA TRYMA (Bayreuth) erläuterte ihr Selbstverständnis als Kommunikatorin zwischen den ukrainischen und deutschen Kolleg:innen auf dem Gebiet der „open universities“. Allerdings bestehe ein Kommunikationsproblem seitens der ukrainischen Wissenschaftler:innen aufgrund mangelnder Englisch-Kenntnisse. Die Sprachvermittlung des Ukrainischen wurde in der anschließenden Diskussion direkt aufgegriffen: Das Bachelor- und Master-System verstärke die Sprachprobleme. Zudem bestehe Bedarf an qualifizierten kontextsensitiven Übersetzer:innen sowie Übersetzungs-Forschungsprojekten. Im Kontext der curricularen Integration von Ukrainestudien endete die Diskussion mit der Sammlung von Informationen zu den universitären nicht institutionalisierten Ukraine-bezogenen Veranstaltungen, wie z.B. an der Universität Göttingen zu Diskursen zur Ukraine I und II.

Das zweite Panel war der ukrainischen Vergangenheit und Gegenwart an deutschen Universitäten gewidmet. Die Kritik an fehlenden Übersetzungen und Ausstattungen deutscher Universitätsbibliotheken – durch FABIAN BAUMANN (Heidelberg/Wien) und LILIYA BEREZHNAYA (Budapest) – wurde hier fortgesetzt. OKSANA MIKHEIEVA (Frankfurt an der Oder) kritisierte in Bezug auf fehlende Literaturquellen westliche Forschende, die im Bereich der Sowjetzeit oft das Moskauer Zentralarchiv, anstatt ukrainische, inzwischen digitalisierte, Archive aufsuchen. Handlungsbedarf bei der Institutionalisierung sahen KAI STRUVE (Halle-Wittenberg), Liliya Berezhnaya und Oksana Mikheieva. Die starke Russlandzentrierung in der deutschen Osteuropa-Forschung erklärte Struve u.a. mit der Normalisierung des imperialen politischen Modells, dem eine bessere Fähigkeit zur Integration kultureller Vielfalt zugeschrieben wurde, als dem Nationalismus. Die Ukraine stelle jedoch ein Exempel einer Nation dar, die sich von einem damals ethnisch geprägten Nationalismus zu einem bürgerlichen und demokratischen Nationalismus entwickelt habe. Diese Russlandzentrierung spiegele sich in Russland- oder Sowjet-orientierten Professurenbesetzungen, fehlenden außeruniversitären Forschungsinstituten zur Ukraine sowie – so Berezhnaya und Mikheieva – dem bis 2022 schwachen Einfluss des ukrainischen Staates sowie der ukrainischen Diaspora auf die Institutionalisierung wider und rege die Frage der weiteren Integration der Ukrainestudien an, die z.B. durch breitere Aufstellungen osteuropäischer Lehrstühle oder durch die Spezialisierung einzelner Lehrstühle erreicht werden könnte. Für Berezhnaja ist die Methode der transnationalen Verflechtungsgeschichte im Rahmen der Grenzland-, Geschichtsmythologie- und Kirchengeschichtsforschung ein fruchtbarer Ansatz für die Einordnung der ukrainischen Geschichte in den allgemeinen europäischen Kontext. Baumann sah zudem einen positiven Einfluss des Generationenwechsels; das Forschungsspektrum junger Wissenschaftler:innen sei inzwischen sehr breit und die Ukraine befände sich darin eher im Zentrum als in der Peripherie. Das Verstehen der ukrainischen Geschichte spiele eine große Rolle beim Verstehen der europäischen Geschichte im Kontext der Modernisierung, des Nationalismus, des sowjetischen Kommunismus, totalitärer Gewalt oder des Neoliberalismus. Die primär thematische und weniger geographische Integration der Ukraine in die europäische mentale Landkarte soll die Gefahr der Marginalisierung der Ukrainestudien abwenden. Mikheieva machte zudem auf die potenzielle Falle von Opfer und Objekt der Hilfe aufmerksam, in die ukrainische Wissenschaftler:innen nach der Großinvasion gefallen seien, was den Wert ihrer früheren Leistungen schmälere und eine hierarchische und asymmetrische Beziehung herstelle. Die Ukraine solle nicht nur als Quelle von Problemen oder Tragödien, sondern auch als Feld für erfolgreiche Selbstverwirklichung mit echten Interaktionen und rationalen Geschäftsinteressen betrachtet werden. In der anschließenden Diskussion wurde das Problem des historischen Erbes des deutschen Imperialismus und Kolonialismus thematisiert, gepaart mit der Resistenz Deutschlands für institutionelle Veränderungen. Russland würde die Studienprogramme nach wie vor dominieren. Berezhnaya war der Meinung, dass die Initiative für den Paradigmenwechsel von den Ukraine-Expert:innen ausgehen sollte.

In der dritten Panel gab jede:r Redner:in eine kurze länderspezifische Einführung in die Entstehung von Ukrainestudien. ALEXANDRA HNATIUK (Warschau) sah die Ukrainestudien in Polen historisch an der Wende zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert an den Fakultäten für Slawistik oder Geschichte und erst ab den 1970er-Jahren in den Russischen Studien und angewandter Linguistik situiert. Die Repressionen durch das kommunistische Regime senkte die Zahl von Ukraine-Expert:innen. Erst nach 1991 wurden Ukrainestudien an den meisten Universitäten Polens eingerichtet. Der Kriegsbeginn 2014 ergab eine paradoxe Krisen-Situation mit der Unterstützung der Ukraine auf der einen und der gleichzeitigen Schließung der ukrainischen Philologie oder ihre Fusion mit den Englischen Studien auf der anderen Seite; der veraltete Studienstil gehe einher mit Literaturübersetzungen aus dem Ukrainischen ins Polnische. NATALIA KHANENKO-FRIESEN (Alberta) gab einen Einblick in die Mitte der 1940er-Jahre eingerichteten und weltweit größten Ukrainestudien in Kanada. Waren Ukrainer:innen bei der kanadischen Multikulturalismus-Politik die treibende Kraft, so haben sie die politischen Prozesse der Versöhnung mit den indigenen Völkern, den damit verbundenen Widerstandsbewegungen und ihrem Einfluss auf die akademischen Strukturen nicht ausreichend aufgegriffen. Alberta gehöre zu den Provinzen mit der höchsten Konzentration von Diaspora-Organisationen mit der Gründung 1976 des Canadian Institute of Ukrainian Studies. Das Institut wird von 80 Stiftungen unterstützt, die fünf selbständige Forschungszentren und elf Studienprogramme finanzieren. OLENKA Z. PEVNY (Cambridge) schilderte die Gründung der Cambridge Ukrainian Studies durch die Stiftung von Dmytro Firtash 2010. Es handelt sich um ein Dauerstudienprogramm mit drei festen Stellen, u.a. für die Vermittlung des Ukrainischen, woran Studierende interessiert seien. Für die Institutionalisierung der Ukrainestudien in Cambridge konstatierte Pevny einen Reformbedarf, besser gesagt für die Dekolonisierung der Slawischen Studien; Russland müsse „provinzialisiert“ und als ein osteuropäisches Land unter allen anderen behandelt werden. Auch Pevny wies auf den Forschungs- und Publikationsbedarf sowohl zu der Gegenwart der Ukraine als auch zu den ukrainischen Gebieten im 14. bis 17. Jahrhundert hin. Die Notwendigkeit von Reformen ergebe sich nicht zuletzt durch den Einbruch von Studierendenzahlen in den Sprachen und Humanwissenschaften, vergleichbar zu Europa. SERHII PLOKHY (Harvard) berichtete von dem, auf die Initiative der studentischen Fundraising-Kampagne in den 1970er-Jahren gegründeten, Harvard Ukrainian Research Institute und heterogenen Vorstellungen von Ukrainestudien. Aus der Perspektive von Nordamerika solle das Wissen über die Ukraine über Europa hinaus global gedacht werden. Die totale russische Aggression gegen die Ukraine habe eine Reihe von Herausforderungen geschaffen und biete zugleich eine Reihe von Chancen beim Lehrangebot an: Das zuvor geringe und nun wachsende Interesse an der ukrainischen Sprache ziehe die Aufstockung der Stellen und die Planung der Sommerkurse nach sich. Die Frage nach der Ent- bzw. Dekolonisierung in den Ukrainestudien und ihr Verständnis bleibt offen. In der anschließenden Diskussion ging es um die Begriffe Dekolonisierung und Antikolonialismus, um die Frage, ob die Ukraineforschung in den Kontext der europäischen oder globalen Geschichte integriert und das Dekolonisierungsparadigma auch auf andere ex-sowjetische Länder angewendet werden sollte. Das Studium der Slawistik in Cambridge beginne mit einem Einführungskurs in die russische Kultur, was andere Sprachen und Kulturen marginalisiere. Indigene Studien in Kanada helfen den ukrainischen Anti-Kolonialisierungsdiskurs zu verstehen: Im Unterschied zu den indigenen Völkern war die Ukraine in der Zeit des Zweiten Weltkriegs mit zwei kolonialen Mächten – der Sowjetunion und dem nationalsozialistischen Deutschland – konfrontiert. Die Entkolonialisierung der Ukrainestudien in Polen bedeute nicht nur die Loslösung vom russischen Imperium, sondern auch von der polnischen Sichtweise. Aus Oxford wurde gefordert, sich von Begriffen wie Zentrum, Peripherie und Grenzland zu verabschieden und stattdessen Richtungen und Netzwerke aufzuzeigen.

Das Workshop bot eine hochwirksame Kommunikationsplattform für die Diskussion folgender Fragen mit dringlichem Lösungsbedarf wie die Definition der Ukrainestudien, ihre globale und fächerbezogene Kontextualisierung, Ent- bzw. Dekolonisierungsprozesse, verbunden mit den Institutionalisierungsprozessen und dem länderbezogenen Forschungs-, Sprachvermittlungs- und Strukturwandelbedarf, Forschung sowie die Rolle der Ukrainer:innen bei der Beschleunigung dieser Prozesse. Die heterogenen Perspektiven der Beteiligten zeugen davon, dass sich die Ukrainestudien im Prozess der Institutionalisierung befinden, wofür der Diskurs jetzt ansetzt.

Konferenzübersicht:

Opening by Frank Grüner (Bielefeld) and Yaroslav Zhuravlov (Kyiv / Bielefeld)

Keynote:

Andrii Portnov (Frankfurt an der Oder): Ukrainian Studies at German Universities: History, Current Tendencies, Perspectives
Chair: Nataliia Sinkevych (Leipzig)

Panel I: Open forum on teaching experiences gathered at German universities since 2022 consisting of short presentations by:
Chair: Alexander Wöll (Potsdam) and Yaroslav Zhuravlov (Kyiv / Bielefeld)

Andrey Doronin (Bonn)
Mariia Kovalchuk (Munich)
Bozhena Kozakevych (Frankfurt an der Oder)
Kateryna Tryma (Bayreuth)
Oksana Turkevych (Lviv / Berlin)
Jared Warren (Munich)

Panel II: Ukrainian Past and Present at German Universities: Lessons to be Learned
Chair: Franziska Davies (Munich)

Kai Struve (Halle-Wittenberg)
Fabian Baumann (Heidelberg)
Liliya Berezhnaya (Budapest) (online)
Oksana Mikheieva (Frankfurt Oder / Lviv)

Panel III: Ukrainian studies beyond Germany
Chair: Benjamin Schenk (Basel)

Natalia Khanenko-Friesen (Alberta)
Olenka Z. Pevny (Cambridge) (online)
Aleksandra Hnatiuk (Warsaw) (online)
Serhii Plokhy (University) (online)

Concluding remarks
Kornelia Kończal (Bielefeld), Annette Werberger (Frankfurt an der Oder) and Claudia Dathe (Frankfurt an der Oder)

Final discussion

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