FUER-„Early Career Researchers"-Kolloquium

FUER-„Early Career Researchers"-Kolloquium

Organizer(s)
Arbeitsbereich Theorie und Didaktik der Geschichte, Universität Paderborn
ZIP
33098
Location
Paderborn
Country
Germany
Took place
In Attendance
From - Until
28.02.2024 - 01.03.2024
By
Clara Ödén / Lara Mehrwald, Didaktik der Geschichte, Universität Kassel

Das FUER-Kolloquium (Förderung und Entwicklung eines reflektierten und (selbst-)reflexiven Geschichtsbewusstseins) fand dieses Jahr an der Universität Paderborn statt und wurde von dem Arbeitsbereich Theorie und Didaktik der Geschichte organisiert. Im Rahmen des Kolloquiums stellten sechs Wissenschaftler:innen unterschiedlicher Qualifikationsstufen ihre aktuellen Forschungsprojekte vor und diskutierten diese. Für jede Präsentation standen 60 Minuten zur Verfügung. Zusätzlich gab es einen Abendvortrag von Andreas Körber sowie eine weiterführende Theoriediskussion mit Beiträgen von Heike Bormuth und Wolfgang Hasberg.

Die präsentierten Beiträge befanden sich dabei in unterschiedlichen Arbeitsphasen und zeichneten sich durch thematische Vielfalt aus. Zu den vorgestellten Projekten gehörten Arbeiten zum historischen Lernen im digitalen Raum, geschichtsphilosophische Arbeiten sowie empirische Studien zu historischen Lernprozessen.

Im ersten Vortrag präsentierte CAROLINE WERMKE (Hamburg) einige Ansätze ihres Masterarbeitsvorhabens. Ihre Abschlussarbeit wird sich mit Implikationen postkolonialer Theorie(n) sowie Perspektiven für den bilingualen Geschichtsunterricht befassen. Unter Berücksichtigung zentraler Merkmale des 21. Jahrhunderts erläuterte sie die Relevanz ihrer Arbeit im Kontext von Multiperspektivität und sprachlich-kulturellen Bedeutungsaushandlungen. Sie stellte ein Modell des multiperspektivischen bilingualen Geschichtsunterrichts vor und diskutierte grundlegende Fragen in Bezug auf den postkolonialen Begriff, die sie in ihrem weiteren Arbeitsprozess beachten wird. Eine zentrale Frage wird sein, wie die Bedeutungen des Englischen als Sprache der Kolonisierenden und als Ermächtigungsstrategie zur Verständigung im globalen Raum – als „Lingua Franca“ – im englischsprachigen bilingualen Geschichtsunterricht zu verstehen ist. Sie präsentierte mögliche methodische Herangehensweisen und diskutierte diese im Anschluss an ihre Präsentation. Die Diskussion umfasste neben Vorschlägen zum methodischen Vorgehen auch Ansätze zur weiteren Fokussierung des Vorhabens.

Im Anschluss hielt ANDREAS KÖRBER (Hamburg) einen Abendvortrag mit dem Titel „Kompetenzorientierung in Zeiten des digitalen Wandels“. In diesem Kontext ordnete er aktuelle technologische Entwicklungen und ihre Bedeutung für das Historische Lernen und Erzählen ein. Er vertrat die These, dass es sich dabei um eine Transformation der Gegenstände und Kompetenzen des Historischen Lernens, jedoch nicht um einen disruptiven Wandel handle. Basierend auf diesen Beobachtungen formulierte er die These, dass historische Kompetenzen für Individuen in einer digitalen Geschichtskultur immer essenzieller werden. Als zusätzliche Herausforderung betonte er den Lehrkräftemangel in Deutschland, der dazu führt, dass Personen ohne reguläre Qualifikationen als Lehrkräfte tätig sind.

Der zweite Kolloquiumstag begann mit einem Vortrag von KATINKA KALUSCHE (Tübingen) zu ihrer Masterarbeit. Sie arbeitet an einer disziplingeschichtlichen Untersuchung geschichtsdidaktischer Konzepte für die deutsche Migrationsgesellschaft. Zunächst legte sie ihren theoretischen Bezugsrahmen dar, indem sie auf die Begriffe „Migrationsgesellschaft“ und „Geschichtsdidaktik“ näher einging. Zudem präsentierte sie methodische Überlegungen. Im Anschluss daran skizzierte sie die Entwicklung verschiedener kulturgeschichtlicher Erweiterungen des historischen Lernkonzeptes, wobei sie Kernmerkmale der mono-, multi-, inter- und transkulturellen Perspektive nannte. Kalusche überlegte außerdem, inwiefern der FUER-Kompetenzbereich „Orientierung“ adaptiert wurde und welche Prinzipien historischer Denk- und Lernprozesse im geschichtsdidaktischen Diskurs zu migrationsgesellschaftlichen Veränderungen besondere Berücksichtigung fanden. Wesentliches Thema der anschließenden Diskussion war die Frage nach unterrichtspragmatischen Aspekten wie Curricula, Unterrichtskonzepten und -materialien, die möglicherweise in der Masterarbeit exploriert und in einem nächsten Schritt tiefgehender untersucht werden könnten.

Anschließend stellte PHILLIP PAULI (Köln) erste Konturierungen eines umfassenderen Dissertationsprojektes vor, welches sich mit „Nihilismus und Kontingenz im historischen Denken“ befasst. Ausgehend von Jörn Rüsens „Zeitdifferenzerfahrung“ diskutierte er die Frage nach der Kontingenz im historischen Denken. Dabei ging es mitnichten um Kontingenz als Überlieferungszufall, sondern um eine existenzielle Dimension menschlichen Lebens. Pauli wagte den Versuch, den Begriff der Kontingenz durch Friedrich Nietzsches „Die Geburt der Tragödie“ aufzuhellen und als Prämisse für historische Bildung zu postulieren. Dabei wurde im Anschluss an die Philosophie Martin Heideggers die These zugespitzt formuliert, dass Kontingenz historisch nicht denkbar ist, sondern lediglich als Ereignis erfahren werden kann. Solchermaßen lässt sich womöglich ein ästhetischer Rest im Geschichtsbewusstsein zur Sprache bringen, mit dem das bewusstseinsphilosophische Fundament des Geschichtsbewusstseins kritisch reflektiert werden kann.

IMKE SOFIE SELLE (Osnabrück) stellte in ihrem Vortrag erste Ideen für ihr Dissertationsvorhaben vor. Dieses ist an das Projekt „Die ‚Emslandlager‘ als Konfliktlandschaften in Transformation. Forschendes Lernen am Schnittpunkt von universitärer Lehrer⁎innenbildung, Gedenkstättenpädagogik und partizipativer digital public history“ angebunden. Es handelt sich dabei um ein durch das Programm Pro⁎Niedersachsen gefördertes Kooperationsprojekt zwischen den Professuren für Didaktik der Geschichte, Neueste Geschichte und historische Migrationsforschung an der Universität Osnabrück sowie der Gedenkstätte Esterwegen. In ihrem Vortrag formulierte Selle auf Basis eines Vorgängerprojektes die These, dass eine Gleichsetzung von digitalem und analogem historischem Lernen nicht ohne weiteres möglich sei und sich somit auch die Partizipation an Geschichtskultur im digitalen Raum im Gegensatz zum analogen Raum verändert habe. Dabei ist für sie insbesondere die Frage, welche Chancen und Herausforderungen Digitalität für eine aktive und kritische Partizipation an Geschichtskultur bieten kann, von Relevanz.

Am Nachmittag des zweiten Tages fand – eingerahmt von zwei Vorträgen – eine Theoriediskussion zur Weiterentwicklung des FUER-Modells statt. HEIKE BORMUTH (Hamburg) präsentierte Überlegungen zu einer Weiterentwicklung des Kompetenzmodells in Hinblick auf neue digitale Gegebenheiten. Diesen Überlegungen stellte sie die Erkenntnis voraus, dass Digitalität zu den Lebensbedingungen der Gegenwart gehört und damit nicht zuletzt als Ausgangspunkt von Fragen, Ziel für Orientierung, Art des Zugriffs auf beziehungsweise der Konstruktion von Geschichte in Bezug zu Historischem Denken steht. Für die Diskussion um Möglichkeiten zur Weiterentwicklung des FUER-Modells wurde deshalb ein Ansatz zum Einbezug der spezifischen Bedingungen, die Digitalität für Historisches Denken aufstellt, vorgestellt. Zu diesem Zweck wurden fünf entwickelte Kerndimensionen ausgeführt: Medialität von Materialien (Quellen und Darstellungen) in digitalen Erscheinungsformen; Erschließung von Informationen aus Materialien; Generierung – im Sinne re- und de-konstruierender Verarbeitung von Materialien zu historischen Aussagen; Auseinandersetzung mit Orientierungsappellen in Geschichtsaussagen; Wirkung von Produkten Historischen Denkens beziehungsweise Orientierungen in der (digitalen) Geschichtskultur. Als weitere Annahme wurde skizziert, inwiefern diese Kerndimensionen in wechselseitige Beziehung zu den Kompetenzbereichen des FUER-Modells gesetzt werden können, um über eine Förderung dieser Beziehungsebene letztlich das Sich-Verhalten-Können zu individueller und kollektiver historischer Sinnbildung in der digital geprägten Gesellschaft zu ermöglichen.

Im zweiten Vortrag widmete sich WOLFGANG HASBERG (Köln) eingehend den Herausforderungen und Widersprüchen im FUER-Modell. Wiederholt griff er die inkonsistenten Momente des Kompetenzmodells auf (beispielsweise Sachkompetenz). Zugleich zog er die Tragfähigkeit der Begriffe Erfahrung und Orientierung in Zweifel, die – von Jörn Rüsen übernommen – im dynamischen Modell des Geschichtsbewusstseins konstitutiv sind. Hasberg plädierte dafür, diese Aspekte als Anlass für weiterführende Diskussionen und notwendige Modifikationen des FUER-Modells zu nutzen. Seine Ausführungen basierten auf der These, dass seit 1989/1990 in der Geschichtsdidaktik kaum theoretische Innovationen zu verzeichnen seien. Es seien lediglich Bemühungen unternommen worden, neue inhaltliche Theorien zu etablieren. Hasberg betonte, dass es nicht opportun sei, die geschichtsdidaktische Theoriebildung immer wieder auf dieselben Grundlagen beziehen zu wollen. Vielmehr sei es notwendig, sie für Innovationen offenzuhalten, die durchaus in die Phase der Verwissenschaftlichung von Geschichte zurückgreifen könnten. Mit Bezug auf Friedrich Schiller und vor allem Arthur Schopenhauer schlug der Vortragende eine ästhetisch ausgerichtete Geschichtsdidaktik (nicht zu verwechseln mit der Ästhetik des Geschichtlichen bei Jörn Rüsen) vor. Dies könnte helfen, die Herausforderungen des historischen Denkens zu verstehen, das anders als die greifbare Welt nicht einmal sinnlich wahrnehmbar ist.

Im Anschluss an die beiden Vorträge wurden Fragen und Thesen zur theoretischen Weiterarbeit am FUER-Modell formuliert und diskutiert. Diese Diskussion markiert lediglich den Beginn eines fortlaufenden Prozesses, bei dem Ideen für die theoretische Weiterentwicklung gesammelt, hinter den Kulissen weiter erörtert und ausgearbeitet werden.

Im ersten Vortrag des dritten Tages stellten JAN SCHELLER (Greifswald), JONAS SCHOBINGER (Aarau) und MARTIN NITSCHE (Aarau) erste Ergebnisse aus der Hauptstudie des vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) geförderten Projektes "Research of Learning Processes in History" (2020–2024) vor. Darin wurde untersucht, welche Operationen narrativer Kompetenz fassbar werden, wenn Personen unterschiedlicher Expertisegruppen (zum Beispiel Historiker:innen, Lai:innen, Schüler:innen) laut denkend eine Aufgabe zur Schweizer Neutralität im Ersten Weltkrieg bearbeiten. Zudem interessierte, inwiefern sich Ausprägungsunterschiede zwischen den Gruppen erkennen lassen. Dazu erhielten die Teilnehmenden multiperspektivische und kontroverse Quellen sowie Darstellungen. Der Schwerpunkt des Vortrags lag auf der Vorstellung der identifizierten Operationen, wobei insbesondere der Bereich der historischen Orientierung vertieft wurde. Für diese zeigte sich jedoch bei allen Personengruppen, dass sie trotz des aktuellen Themas (Schweizer Neutralität) kaum beobachtet werden konnte. In der Diskussion wurden mögliche theoretische und empirische Implikationen erörtert.

ALEXANDRA KREBS (Zürich) präsentierte in ihrem Vortrag das Projekt „Geschichte(n) für die globale Gegenwart. Digitale Co-Creation in Schule und Museum“. In Zusammenarbeit der Züricher Hochschule der Künste, der Pädagogischen Hochschule Zürich sowie der Stiftung für Kunst, Kultur und Geschichte wird hierbei eine digitale Plattform entwickelt, in welcher Lernende globale Biografien von Sammlungsobjekten erforschen und mit diesen eigene (digitale) Ausstellungen kuratieren können. Auch im Sinne einer „kritischen Museologie“ sollen darin Räume für verschiedene Perspektiven, Wahrnehmungen und Interpretationen sowie für Ambivalenzen, Konflikte und Verhandlungsprozesse ermöglicht werden. Die Schüler:innen können so zum Beispiel lernen, dominante Sichtweisen zu hinterfragen, verschiedene Standpunkte einzunehmen und hierbei Verflechtungen der Schweiz durch Handel, Kolonialismus und Migration auf den Grund gehen. Im Vortrag wurde dies ebenso wie die Geschichte der Stiftung als auch ihres Gründers Bruno Stefanini und seiner „rätselhaften“ Sammlung zur Diskussion gestellt. Debattiert wurden danach vor allem mögliche Potenziale eines solchen Vorhabens für historische Lernprozesse und konzeptionelle Ideen hierfür.

Auch in diesem Jahr hat das Kolloquium den teilnehmenden Wissenschaftler:innen die Möglichkeit gegeben, sowohl empirische als auch theoretische Problemstellungen vorzustellen. In den anschließenden Diskussionen wurden die zugrunde liegenden (Begriffs-)Konzepte sowie auch die praktischen Aufbauten und Überlegungen reflektiert.

Konferenzübersicht:

Caroline Wermke (Hamburg): Bilingualer Geschichtsunterricht – postkolonial?! Skizze einer Masterarbeit an der Uni Hamburg

Andreas Körber (Hamburg): Kompetenzorientierung in Zeiten des digitalen Wandels

Katinka Kalusche (Tübingen): Geschichtsdidaktische Konzepte für die Migrationsgesellschaft (1997–2023). Skizze einer Masterarbeit an der Uni Tübingen

Phillip Pauli (Köln): Kontingenz historisch denken oder erfahren?

Imke Sofie Selle (Osnabrück): Partizipation und digital history an Gedenkstätten. Ansätze eines neuen Forschungsprojekts

Heike Bormuth (Hamburg): Theoriebeitrag zur Weiterentwicklung des FUER-Modells

Wolfgang Hasberg (Köln): Theoriebeitrag zur Weiterentwicklung des FUER-Modells

Martin Nitsche (Aarau) / Jan Scheller (Greifswald) / Jonas Schobinger (Aarau): Historische Lernprozesse erforschen. Theorie und bisherige Resultate der RicH-Studie

Alexandra Krebs (Zürich): Geschichte(n) für eine globale Gegenwart. „Kuratierendes-historisches“ Lernen im digitalen Raum

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