Der Workshop des Arbeitskreises „Sozialdaten und Zeitgeschichte“ richtete in diesem Jahr seinen Blick auf die Ungleichheitsforschung und die Potenziale und Herausforderungen bei der Nutzung von Sozialdaten in diesem Forschungsfeld. Zu Beginn benannte LUTZ RAPHAEL (Trier) die thematischen Schwerpunkte des Workshops. Erstens stand eine Erweiterung der Perspektive auf dem Programm, indem sich die Teilnehmenden über britische und deutsche Herangehensweisen an Sozialdaten austauschten. Zweitens warf er die Frage auf, wie viel Wissen und in welchem Maße es eine Wissensgeschichte über die Entstehung, die Produktion und die Erheber:innen der zeitgenössischen Daten von Ungleichheit brauche, um im Anschluss mit jenen zu arbeiten. Drittens rückte in das Interesse des Arbeitskreises, wie qualitative und quantitative Daten in der geschichtswissenschaftlichen Forschung einbezogen und miteinander verbunden werden könnten. Ziel des Workshops war es, bisherige Praktiken und Methoden zu prüfen und weiterzuentwickeln. Dafür waren Historiker:innen und Sozialwissenschaftler:innen eingeladen, ihre Projekte vorzustellen und ihre Arbeiten mit Sozialdaten zu erläutern.
Das erste Panel begann mit einem deutsch-britischen Vergleich. FELIX RÖMER (Berlin) fragte, welche Akteur:innen und ihre jeweiligen Gesellschaftsbilder die Produktion von Sozialstatistiken und von Wissen über ökonomische Ungleichheit in Großbritannien und der Bundesrepublik seit 1945 beeinflussten. Ein zentraler Akteur in der Produktion und Verwaltung dieses Wissens sei laut Römer der Staat selbst gewesen. Bei ihren Forschungen zu Ungleichheit seien die Sozialwissenschaften auf die vom Staat produzierten Daten angewiesen gewesen. Der Staat habe zwar zahlreiche Daten erhoben, habe aber auch über die Veröffentlichung entschieden. Zugleich hätten nur jene staatlichen Akteure die jeweilige Qualität der Daten einschätzen können. Römer argumentierte, dass dieses Handeln einer politischen Agenda gefolgt und auch für eigene staatliche Kampagnen eingesetzt worden sei. Nicht-Wissen über die Datenerhebungen und Methoden führten dazu, dass fehlerhafte Zahlen über lange Zeiträume kursierten und reproduziert worden seien. Für Historiker:innen sei es deshalb wichtig, dieses statistische Metawissen in den Archiven zu recherchieren und bei Nutzung der Zahlen mitzudenken.
MARC BUGGELN (Flensburg) verknüpfte in seinem Vortrag soziale Ungleichheit und Steuerpolitiken in einer langen geschichtswissenschaftlichen Perspektive und beschrieb die Herausforderungen bei der Erforschung dieser Zusammenhänge. Ihm begegneten im Forschungsprozess Datenreihen mit je unterschiedlichen Ergebnissen zum Verhältnis von direkten zu indirekten Steuern. Auch der Vergleich zwischen staatlichen Steuerpolitiken sei aufgrund unterschiedlicher Erhebungsverfahren und mangelndem Wissen über die Erhebungen schwierig. Erst mit den OECD-Daten seien ab 1965 vergleichende Daten bereitgestellt worden. Es sei deshalb wichtig zu fragen, wie sich Menschen zeitgenössisch mit Daten beschäftigten, wie sie sie erhoben und im Anschluss auswerteten. Es brauche für die Beschäftigung mit Steuern und sozialer Ungleichheit insbesondere Wissen über zeitgenössische Statistiken, in denen quantitative Daten aufbereitet wurden. Mit den Daten und einer dazugehörigen Wissensgeschichte sei es im Anschluss möglich eine internationale Vergleichbarkeit herzustellen.
Auch JENNY PLEINEN (Hagen) skizzierte in ihrem geplanten Forschungsprojekt einer Kollektivbiografie den Staat als einen wichtigen Akteur, der mithilfe staatlicher Kontrolle individuelles Wissen über soziale Ungleichheit beeinflussen könne. Ihre Idee sei es, individuelle Lebensläufe zu Clustern zu verbinden und anhand serieller Quellen zu untersuchen, wie sich staatliche Entscheidungen auf die Einzelnen auswirkten und wie Lebensverläufe sich an gesellschaftlichen Strukturen und sich verändernden Rahmenbedingungen ausrichteten. Verschiedenste Kategorien wie Gender, Lebensläufe, Vermögen aber auch die Staatsbürgerschaft könnten einbezogen werden. Themen wie das Scheidungsrecht oder das Ehegattensplitting seien beispielsweise für eine geeignete Alterskohorte oder aus der Perspektive von Frauen interessant. Herausforderungen sah Pleinen in der Bereitstellung und Zusammenstellung von Daten, die nützlich für das Projekt seien könnten.
Der britische Historiker JON LAWRENCE (Exeter) gab im zweiten Panel Einblicke in seine Arbeit mit Interviews, die in den Nachkriegsjahren in England erhoben wurden und die er für eine Studie über die Bedeutung der „Gemeinschaft“ in dieser Zeit erneut auswertete und quellenkritisch historisierte. Er veranschaulichte anhand von Interview-Transkripten Herausforderungen, wie lückenhafte Auslassungen in Transkripten, und sah es als einen Gewinn an, wenn neben den zeitgenössischen Transkripten Gedächtnis-Protokolle der früheren Forscher:innen oder Original-Audioaufnahmen vorlägen. Der Erhebungsprozess könne genauer rekonstruiert, Einflüsse der Forscher:innen auf das Interview ausfindig gemacht und neue Fragen an die Sozialdaten gestellt werden. Ein Vorteil gegenüber Oral-History-Interviews sei, dass kein retrospektiver „Filter“ vorzufinden sei, sondern eine zeitgenössische Momentaufnahme vorliege. Bei der Nutzung von bereits erhobenen Daten sei es dennoch wichtig, das jeweilige Interview-Setting zu beachten und Deutungen und Forschungsergebnisse der Studien nicht zu wiederholen. Forscher:innen müssten eigene Fragen stellen.
Der Soziologe CHRISTOPH WEISCHER (Münster) erläuterte den anwesenden Historiker:innen im dritten Panel des Workshops, einerseits wie mithilfe einer Sozialstrukturanalyse soziale Ungleichheiten erfasst werden können und andererseits wie im Wandel der Zeit Mikrodaten in den Sozialwissenschaften generiert worden seien. Nach der Erhebung von Querschnittsdaten ab den 1950er Jahren folgten Längsschnittuntersuchungen und Trenddaten ab den 1980er Jahren und prozessproduzierte Daten in den 1990er Jahren. In diesem Zeitraum habe auch das Interesse an qualitativen Mikrodaten zugenommen, um Rückschlüsse auf soziale Ungleichheiten zu ziehen. Die von ihm vorgestellte praxeologische Protheorie sozialer Differenzierung beinhalte die Zusammenführung qualitativer und quantitativer Daten auf Mikro-, Meso- und Makroebene und die Verknüpfung geeigneter empirischer Methoden. Es könne ein mehrdimensionales Verständnis von sozialen Ungleichheiten entwickelt werden, in das sich neben grundlegenden Voraussetzungen wie Gesundheit auch ökonomische auch rechtliche Ungleichheiten einbeziehen ließen. Diese Theorien bezögen sich dabei nicht nur auf eine Momentaufnahme in der Geschichte, sondern historischer Wandel sei beobachtbar.
Das letzte Panel beinhaltete aktuelle zeithistorische Forschungen zu sozialer Ungleichheit. HELENA SCHWINGHAMMER (München) legte ihren räumlichen Fokus auf das sächsisch-bayerische Vogtland und die besondere Lage der Grenzregion während der deutschen Teilung. Sie untersuchte die Geschichte der Arbeit und des Lebens von Textilarbeiterinnen in der Region und fragte über das Ende der DDR hinaus, welche Auswirkungen der historische Wandel und die Transformation der 1990er Jahre für die vogtländischen Textilarbeiterinnen und für die nachfolgenden Generationen in Sachsen und Bayern bedeutete. Für die Annäherung an die Arbeiterinnen recherchierte Schwinghammer im Sozio-oekonomischen Panel (SOEP) nach geeigneten Fällen, um im Anschluss in geplanten Oral-History-Interviews zu fragen, wie die Deindustrialisierung der Region sich strukturell auf soziale Ungleichheiten im Vogtland und vergleichend auf die Frauen auswirkte. Auf Erwerbstätigkeiten seien in der Müttergeneration häufig Arbeitslosigkeit und berufliche Umorientierungen gefolgt. Die Frauen arbeiteten seltener in der Industrie und seien vermehrt in typische Berufe für Frauen im Sozialwesen oder im Verkauf gedrängt worden. Die Bedingungen hätten sich für jene Frauen verschlechtert und erst wieder für die Töchtergeneration gebessert.
Die Auswirkungen der Deindustrialisierung seit den 1970er Jahren auf die bundesrepublikanische Erwachsenenbildung mit seinem bekanntesten Anbieter, der Volkshochschule betrachtete JONAS FEY (Bonn). Er beschrieb ein lineares Anwachsen von Anforderungen in der Beschäftigtenwelt, in der Qualifizierung als Kernaufgabe wahrgenommen worden sei. Erwachsenenbildung habe unter anderem die Arbeitsmarktmobilität und das Einkommen und somit den Abbau von Ungleichheit befördert. Zugleich müsse aber beachtet werden, dass nicht alle Menschen die Erwachsenenbildung in Anspruch nehmen würden. Für den Workshop führte Frey zwei rechnerische Modelle mit den Namen „Difference in Difference“ und „Two-way-fixed“ durch, um zu prüfen, welche Auswirkungen die sukzessive Deindustrialisierung auf Weiterbildungsangebote gehabt habe. Er nutzte eine Datenreihe der Europäischen Kommission (ARDECO-Reihe) und Statistiken der Volkshochschulen, betonte aber auch, dass die Daten der jeweiligen Volkshochschulen sehr unterschiedlich seien. Der Gewinn liege in der Vielzahl von Datensätzen, die regionale Differenzierungen, quasi-experimentelle Ansätze ermöglichten und auch für Historiker:innen interessant sein könnten.
JÜRGEN DINKEL (Duisburg-Essen) widmete sich mit dem Erben und Vererben einem klassischen Thema der Ungleichheitsforschung und richtete den Blick auf sein amerikanisches Fallbeispiel Baltimore in Maryland um die Jahrhundertwende. Mit einer Wissensgeschichte über die Produktion von Sozialdaten auf lokaler Ebene hinterfragte er landesweit regelmäßig rezipierte Statistiken zur Ungleichverteilung von Erbe in den USA. Dinkels Recherchen offenbarten blinde Flecken in regionalen Daten, wofür er folgende Gründe ausfindig machte: Die meisten Erbübertragungen seien nicht erfasst worden, Frauen und People of Colour hätten ihren Nachlass selten registrieren lassen und seien deshalb in zeitgenössischen Statistiken unterrepräsentiert. Dinkel beobachtete zudem, dass bei der wiederholten Nutzung der erhobenen Zahlen in vielen Studien nicht beachtet worden sei, dass um 1900 lediglich in reichen Stadtteilen Erbverteilungen registriert wurden. Mit dem Wissen um diese Lücken vermutete Dinkel, dass die Ungleichverteilung erheblich größer gewesen sei. Gerichte seien bei der Erfassung überfordert gewesen, was zusätzlich zu zahlreichen Fehlern geführt habe. Diese Fehler seien oftmals sehr viel wirkmächtiger in größeren Statistiken gewesen. Sein Vortrag veranschaulichte einmal mehr die Bedeutung der Wissensgeschichte bei der Nutzung von historisch erhobenen Daten.
Der letzte Beitrag des Workshops legte die Potenziale, die qualitative Daten und Interviews für die Erforschung von Ungleichheitsvorstellungen boten, dar. TILL HILMAR (Wien) führte für sein Projekt Interviews mit Pfleger:innen und Ingenieur:innen aus der ehemaligen DDR und der Tschechoslowakei. Er wählte Personen aus, die 1989 in ihren frühen zwanziger Jahren waren. In der Analyse der Interviews fand Hilmar Muster, wie Menschen über Ungleichheit und eigene Ungleichheitserfahrungen berichteten, und konnte vergleichend analysieren, wie sie jene im Rahmen des gesellschaftlichen Transformationsprozesses der Jahrzehnte bewerteten. Die Jahre 1989 und 1990 seien in den Interviews als Beginn von langfristigen Ungleichheiten herausgestellt worden. Die interviewten Personen erörterten in diesem zeitlichen Kontext ihre eigene Handlungsmacht (economic agency) und den Umgang mit Brüchen. Hilmar zeigte anhand der Interviews, dass Erklärungen von Arbeitslosigkeit und anderen Ungleichheitserfahrungen tendenziell und verstärkt von der Gruppe der Ingenieur:innen in individualisierten statt strukturellen Deutungsmustern gesucht worden seien. Wichtig sei den Einzelnen zudem gewesen, dass ihre Erfahrung keine singuläre gewesen sei, sondern dass viele Menschen diese teilten und ähnlich bewerteten.
Abschließend resümierten KERSTIN BRÜCKWEH (Erkner) und PASCAL SIEGERS (Köln) die vergangenen beiden Workshoptage und die Eindrücke aus den Vorträgen und Diskussionen, indem sie hervorhoben, dass es weiterhin viele Unterschiede zwischen Historiker:innen und Soziolog:innen bezüglich des Sprechens über Methoden und Daten gebe. In der Zeitgeschichte müsse überlegt werden, wie qualitative Sozialforschung umgesetzt werden könne, und ob es sinnvoll sei, einen eigenen Methodenkanon und einen „Best-Practice“-Katalog zu entwickeln, um schließlich gemeinsam mit Soziolog:innen auszuloten, in welchen Kontexten beide Seiten gut zusammenarbeiten könnten. Deutlich sei geworden, wie wichtig Wissen über die Datengenerierung und den Entstehungsprozess sei und auffällig sei bisher, dass Historiker:innen meist entweder mit qualitativen oder quantitativen Datensätzen arbeiteten. Es könnte zukünftig verstärkt die Frage gestellt werden, wie qualitative und quantitative Daten sinnvoll miteinander verbunden und für die Zeitgeschichte genutzt werden könnten?
Konferenzübersicht:
Panel 1: Sozialdaten in der historischen Ungleichheitsforschung
Felix Römer (Berlin): Wissen über ökonomische Ungleichheit in UK und BRD seit 1945: Statistische Politiken und Datenqualität
Marc Buggeln (Flensburg): Daten zu 150 Jahren Steuerpolitik und soziale Ungleichheit. Möglichkeiten und Grenzen für die Geschichtswissenschaften.
Jenny Pleinen (Hagen): Der Staat in der Kollektivbiografie. Chancen und Grenzen einer Rekonstruktion gruppenspezifischer Problemlagen anhand von Sozialdaten
Panel 2: Historical and Social Research on Inequality in Britain: Approaches and Problems of Cooperation
Jon Lawrence (Exeter): Historians' re-use of qualitative social-science data to reconstruct vernacular politics in post-war Britain
Panel 3: Sozialdaten in soziologischer und sozialhistorischer Perspektive: Sozialstrukturanalyse der Bundesrepublik
Christoph Weischer (Münster), Sozialdaten in soziologischer und sozialhistorischer Perspektive. Sozialstrukturanalyse der Bundesrepublik
Panel 4: Aktuelle zeithistorische Forschungen zu sozialer Ungleichheit
Helena Schwinghammer (München): Deindustrialisierung und Geschlecht. Erwerbsbiographien vogtländischer Textilarbeiterinnen in den Daten des SOEP
Jonas Fey (Bonn): Deindustrialisierung und Erwachsenenbildung in der Bundesrepublik (1970-2000)
Jürgen Dinkel (Duisburg-Essen): Erbpraktiken, Sozialdaten und soziale Ungleichheit
Till Hilmar (Wien): Qualitative Interviews zur Wahrnehmung sozialer Mobilität und Ungleichheit - eine relationale Perspektive am Beispiel ostdeutscher und tschechischer Transformationserfahrungen