Geschichte als Kritik

Organisatoren
Philipp McLean, Universität zu Köln; Jörg van Norden, Universität Bielefeld (Universität Bielefeld)
Ausrichter
Universität Bielefeld
Förderer
Universität Bielefeld Abteilung Geschichte
PLZ
33615
Ort
Bielefeld
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
18.03.2024 - 19.03.2024
Von
Lisa Ernst, Historisches Institut, Universität zu Köln

„Inwieweit kann Geschichte als Kritik wirken?“ lautete die Leitfrage der Tagung, welche von den Teilnehmer:innen ausgehend von verschiedenen Vorschlägen zur kritischen Verwendung von Geschichte diskutiert wurde. Die definitorische Annäherung an einen (einvernehmlichen) Kritikbegriff wurde dabei in einigen Vorträgen und Plenumsdiskussionen angestoßen. Der Entstehungskontext der Tagung „Geschichte als Kritik“ scheint recht unüblich, da die Zusammenstellung des gleichnamigen, vor der Drucklegung stehenden Sammelbandes nicht aus der Konferenz resultierte, sondern diese vielmehr initiierte. Entsprechend lagen bereits ausgearbeitete schriftliche Beiträge vor, auf deren Grundlage die Vorträge gehalten wurden. Die Tagung entsprang dem gemeinsamen Anliegen der Autor:innen nach einer weiterführenden Diskussion der Frage, inwieweit historische Bildung als Kritik angewandt werden könne beziehungswiese zu dieser befähigen sollte.

Den Auftakt bildeten zwei Beiträge, welche das kritische Potential der Digitalisierung thematisierten. RÜDIGER BRANDIS (Göttingen) bekräftigte einen Mehrwert historischer digitaler Spiele als Medium der Gesellschafts- und Geschichtskritik. Verstünde man historische Spiele als Räume des Experimentierens statt lediglich der Repräsentation, eröffneten diese eine mediale Möglichkeit, die Konstruktion historischen Wissens als Beobachtungs- und Reflexionsgegenstand in den Fokus zu rücken. Im Einklang mit ihrem Vorredner plädierten MATHIAS HERRMANN (Dresden) und MARTIN REIMER (Dresden) für den Einsatz analoger und digitaler Spiele in der historischen Schulbildung. Schüler:innen hätten einen interessengeleiteten Zugang zu kommerziellen Spielen, wodurch letztere wiederum das Geschichtsbild der Lernenden maßgeblich prägen würden. Die Referenten regten daher zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der Simplifizierung historischer Ereignisse an, zu welcher Spiele tendieren würden. Eine gewinnbringende Auseinandersetzung mit vereinfachten Darstellungen problembehafteter historischer Dimensionen veranschaulichten Herrmann und Reimer am Beispiel der Kolonialgeschichte. Während die ersten beiden Beiträge vorschlugen, digitale Spiele mit historischem Bezug als Gegenstand kritischer Reflexion zu nutzen, hoben die folgenden Referent:innen bedenkliche Komponenten der Digitalisierung hervor. TILL NEUHAUS (Bielefeld) wies auf die fehlende kritische Rezeption von Digitalisierung als Optimierungstechnologie in der Schulbildung trotz ihrer nachweisbaren Misserfolge hin. Der Referent vermutete, dass der kritische Diskurs durch technokratisches Gedankengut ausgebremst werde und rehistorisierte diese Denkart mit dem Ziel, Kritik möglich zu machen. JESSICA KREUTZ (Frankfurt am Main) rückte mit der unreflektierten Informationsbeschaffung über Soziale Medien ebenfalls ein problematisches Resultat digitaler Vernetzung in den Blick. Die Referentin plädierte mit einem Bezug auf die historischen Grundwissenschaften für den Mehrwert historischer Bildung zur Befähigung kritischer Quellenrezeption, welche angesichts der zunehmenden Konfrontation mit kursierenden Fake News einen medienkompetenten Umgang mit eben jenen Desinformationen fördere.

Im Rahmen einer Podiumsdiskussion verhandelten THANUSHIYAH KORN (Basel), NINA REUSCH (Berlin) und MICHAEL BRUNNERT (Bielefeld) den gegenwärtigen Stellenwert von Kritik im Geschichtsunterricht. Die Diskutant:innen teilten die Grundannahme, dass die Befähigung zur Gesellschaftskritik ein notwendiges Desiderat im Geschichtsunterricht sei. Einerseits betonten sie die Grenzen des Geschichtsunterrichts als Raum der Kritik, hoben allerdings andererseits ausdrücklich das Potential von Geschichte als Kritik hervor. Ein weiterer Konsens bestand in dem Vorschlag, dass der Geschichtsunterricht durch einen stärkeren Gegenwartsbezug unmittelbar kritischer agieren könne. Im Zentrum der anschließenden Plenumsdiskussion stand der Versuch einer gemeinsamen Verständigung über das Konzept Kritik und dessen Anwendungsmöglichkeiten im Schulunterricht. Das Plenum erörterte, inwiefern Kritikkompetenz in der Schule gefördert und anschließend in den Alltag übertragen werden könnte. Zudem eröffnete sich ein perspektivreicher Diskurs über die Offenheit beziehungsweise Einschränkung des Geschichtsunterrichts bezüglich der Auswahl an Themen zur kritischen Betrachtung. Die Ausübung von Kritik sei problematisch, so schien Einigkeit zu herrschen, wenn sie nicht offen agieren könne. Trotz des immer wieder betonten Konsenses, dass der Geschichtsunterricht als Raum der Kritik nur begrenzt geeignet sei, schien die Diskussion zuversichtlich statt pessimistisch. Die Diskutant:innen teilten das Anliegen, ein kritisches Potential des Geschichtsunterrichts, so gering es auch sein mag, ausschöpfen zu wollen.

Das anschließende Themenfeld der Geschichtswissenschaft zeichnete sich durch die Polyphonie der Beiträge aus. FRANK SOBICH (Frankfurt am Main) vergegenwärtigte die Anfälligkeit der Geschichtswissenschaft für ideologisches Denken und betonte vor diesem Hintergrund die Notwendigkeit einer Neuaufwertung der Ideologiekritik, welche in den letzten Jahrzehnten Vernachlässigung erfahren hätte. Während Sobich eine Stärkung des kritischen Potentials der Geschichtswissenschaft befürwortete, übte MORITZ Y. MEIER (Bielefeld) konkrete immanente Kritik an der „Theorie der Geschichtswissenschaft“, welche Jörn Rüsen im Jahre 2013 publiziert hat. In seinem Beitrag problematisierte Meier die Darstellung der Geschichtswissenschaft als autonom forschende Disziplin. Der Referent betonte, dass sich die Wissenschaft aufgrund ihrer materiellen Abhängigkeit von der Verpflichtung zur Wissensproduktion nicht befreien könne. Meier kritisierte Rüsens Blindheit für die eigenen Produktionsbedingungen, welche unweigerlich in der Erzeugung unkritischen und unreflektierten Wissens resultieren müssten. JAN GRÄBER (Bielefeld) fokussierte sich erneut auf den kritischen Mehrwert der Geschichtswissenschaft und verortete diesen in der negativen Geschichtsschreibung statt ihrem positivistischen Äquivalent. Letzteres tendiere zu vereinheitlichenden Narrationen, weshalb es konträrer Geschichtsschreibungen bedürfe, die Widersprüche zuließen und somit lineare Darstellungen infrage stellen würden. SONJA DOLINSEK (Magdeburg) widmete sich – ähnlich wie Meier – ihrem Gegenstand aus der geschichtswissenschaftlichen Perspektive. Die Referentin regte eine kritische Betrachtung der Konstruktion des Menschenhandelsbegriffs und entsprechender Menschenhandelspolitik an. Dolinsek kritisierte die mediale Darstellung des Menschenhandels als migrationsgeschichtliches und geschlechterspezifisches Thema, wodurch Machtstrukturen – insbesondere sexistische und rassifizierte Normen – aufrechterhalten würden. SEBASTIAN ERNST (Potsdam) brachte abschließend eine praxisnahe Perspektive in die Diskussion ein, indem er eine Methodik vorstellte, welche Studierende zum kritischen Denken befähigen soll. Die bereits praxiserprobte Methode des „Historiographietheaters“ verfolge das selbstreflexive Ziel, historische Narrationen als Spiegel eigener Sichtweisen heranzuziehen. Durch den Vergleich verschiedener szenischer Darstellungen derselben Quelle könnten Vorannahmen bewusst gemacht werden, welche sich in der jeweiligen Darstellung widerspiegeln würden.

Aus geschichtsphilosophischer Perspektive widmete sich DIETER FRIEDRICHS (Duisburg-Essen) einer kritischen Betrachtung der Verwendung des Kritikbegriffs selbst. Der Referent beleuchtete zunächst die geisteswissenschaftliche Genese einer Kritik im Kantschen Sinne, um davon ausgehend einen zeitgenössischen Inhaltsverlust des Begriffs festzustellen. Friedrichs bedauerte die Loslösung der Kritik von ihrer methodischen Tradition und ihre Degradierung zur Leerformel. Lediglich Reinhart Koselleck habe Kants wissenschaftlichen Geschichtsbegriff kritisch wiederaufgenommen. Einen subjektorientierten Ansatz verfolgten THOMAS HELLMUTH (Wien) und LORENZ PRAGER (Wien), indem sie den Mehrwert des Müßiggangs im Prozess der Mündigwerdung herausstellten. Entgegen der unmittelbaren Funktionalisierung von Geschichte in der Schul- und Universitätsbildung könnten Lernende über eine anspruchslose Auseinandersetzung erst aufrichtiges Interesse an der Beschäftigung mit Geschichte entwickeln.

Die beiden folgenden Beiträge verband das Unbehagen an der Einseitigkeit in der bestehenden Erinnerungskultur. NINA RABUZA (Innsbruck) verdeutlichte ihre Kritik an einer ausschließlich positiv konnotierten Aufarbeitung der Vergangenheit seitens verschiedener KZ-Gedenkstätten. Anhand verschiedener Beispiele veranschaulichte und bemängelte die Referentin eine Darstellungsweise der Gegenwart als Überwindung der Gewalt der Vergangenheit. Rabuza warf die Frage auf, inwiefern Erinnerungskultur verschiedene Erinnerungsbezüge einbeziehen könne, anstatt rein normativ zu agieren. JAN SIEFERT (Duisburg-Essen) sprach sich für die Öffnung der Erinnerungskultur für Narrationen aus, welche außerhalb der eigenen Erzählgemeinschaft liegen. Der von ihm angedachte kritische Geschichtsunterricht würde von der Einbeziehung solcher Erzählungen profitieren, weil diese einen multiperspektiven Blick auf die Diversität von Narrationen und die „eigene“ Kultur schärfen könnten.

Vier abschließende Beiträge problematisierten den Mangel kritischer Aufarbeitung des Holocausts und Nationalsozialismus. ABRAHAM INGBER (Frankfurt am Main) stellte die These auf, dass die Holocaust-Edukation in Deutschland gescheitert sei und veranschaulichte diese anhand eines aktuellen verzerrten Darstellungsmusters in der Erinnerungskultur zur NS-Zeit. So würden Geschichten über den Rettungswiderstand – sprich Hilfeleistungen für Jüd:innen – verhältnismäßig überhöht, zu Ungunsten einer kontroversen Darstellung der NS-Zeit. Ingber appellierte an die Verantwortung von Historiker:innen, durch Faktenkorrektheit zur kritisch-historischen Bildung beizutragen. KARL SOMMER (Halle-Wittenberg) fokussierte sich insbesondere auf den Geschichtsunterricht und stellte dabei die These auf, dass die Schulbildung an einer kritischen Betrachtung der Thematik Antisemitismus scheitere. Sommer legte seinen Ausführungen dabei das Verständnis des Antisemitismus als rassistische Weltanschauung zugrunde. Der Referent beleuchtete Unzulänglichkeiten bisheriger methodischer Herangehensweisen an ebendiese Thematik und plädierte für eine Annäherung über eine analytische Einsicht in Herrschaftsbildung im Geschichtsunterricht. ARNE MEINICKE (Hamburg) und JOHANNES EDER (Frankfurt am Main) verorteten den Mangel kritischer Auseinandersetzung mit Antisemitismus in dem patriotischen Bedürfnis nach einer positiven Geschichtsschreibung. Die Referenten beleuchteten, wie selbst der Antisemitismus in ein positives Narrativ deutscher Nationalstaatlichkeit eingeordnet werden könne, nämlich durch den Stolz auf Anerkennung und Aufarbeitung statt einer Verdrängung der NS-Zeit.

Insgesamt hinterließ die Tagung den Eindruck, dass sich die Teilnehmer:innen durch ihre diversen Denkansätze gegenseitig befruchteten. Das reziproke Interesse am interdisziplinären Austausch über die Frage nach dem kritischen Potential historischen Denkens spiegelte sich unter anderem in einem wertschätzenden Umgang mit disziplinfremden Ansätzen wider. Zwar begegneten sich die Referent:innen auch in durchaus kontroverseren Diskussionen, diese fanden jedoch stets auf Augenhöhe statt. Das zahlreiche Erscheinen von jungen Historiker:innen sowie die Abbildung des gesamten Spektrums akademischer Qualifikationsstufen durch die Teilnehmer:innen wurde explizit erwähnt und als wünschenswert wahrgenommen. Die Diskussion über „Geschichte als Kritik“ scheint mit dieser Tagung keinesfalls abgeschlossen zu sein. So blieben die Fragen, was Kritik nun eigentlich auszeichne, welche (historischen) Gegenstände konkret zur Kritik taugen würden, was die Disziplin Geschichte davon abdecke, sowie die Frage nach den Grenzen von Kritik offen. In der Abschlussdiskussion wurde der Wunsch deutlich, über ein angedachtes Netzwerk in Kontakt zu bleiben sowie einen interdisziplinären Austausch aufrechtzuerhalten und möglicherweise auszuweiten.

Konferenzübersicht:

Kritik der Digitalisierung, Digitalisierung als Kritik?

Rüdiger Brandis (Göttingen) / Alexandra Petrus (Los Angeles): Geschichte als Prozess. Digitale Spiele und die Dekonstruktion von historischem Wissen

Mathias Herrmann (Dresden) / Martin Reimer (Dresden): „[…] to question the impact of this history […]“? Digitale und analoge Spiele mit (post)kolonialem Setting der Medien einer kritischen historischen Bildung

Marlene Pieper (Bielefeld) / Till Neuhaus (Bielefeld): Zur Geschichtsvergessenheit gegenwärtiger Digitalisierungsbemühungen – Eine Rahmung von Digitalisierungsvorhaben als Ausdruck technokratischen Denkens

Jessica Kreutz (Frankfurt am Main): Von der Quellenkritik zur Objektkritik. Über den Beitrag der Historischen Grundwissenschaften zur Medienbildung im digitalen Raum

Podiumsdiskussion: Geschichte als Kritik im (staatlichen) Geschichtsunterricht?

Thanushiyah Korn (Basel)
Nina Reusch (Berlin)
Michael Brunnert (Bielefeld)

Geschichtsforschung

Frank Sobich (Frankfurt am Main): Verkehrte Vergangenheit. Fragen eines lesenden Geschichtsdidaktikers – und ein paar Antwortvorschläge

Moritz Y. Meier (Bielefeld): Überlegungen zu einer kritisch-dialektischen Theorie der Geschichte und ihrer Wissenschaft

Jan Gräber (Bielefeld): Das Zuspätkommen der Geschichte. Eine Kritik an den Veränderungsvorstellungen in der Geschichtsschreibung

Sebastian Engelmann (Karlsruhe) / Katharina Vogel (Göttingen): Die Historie historisieren. Empirische Wissensgeschichte der Pädagogik als Element kritisch-historischer Bildung in der Erziehungswissenschaft (ausgefallen)

Sonja Dolinsek (Magdeburg): Die Geschichte von „Menschenhandel“ und das kritische Potential der Geschlechtergeschichte

Sebastian Ernst (Potsdam) / Ralf Pröve (Potsdam): Vollkornbrot statt Schokolade? Historiographietheater und die Kunst, selber denken zu lernen

Geschichtsdidaktik

Dieter Friedrichs (Duisburg-Essen): Politische Bildung durch die Bildung der Historiographie

Benjamin Reiter (Bamberg): Historische Gerechtigkeit. Werteorientierung in der historischen Bildung als Ressource zur Kritik des geschichtspolitischen Umgangs mit historischem Unrecht (ausgefallen)

Thomas Hellmuth (Wien) / Lorenz Prager (Wien): Neue kritische Geschichtsdidaktik. Lebensweltliche Sinnbildung und Gesellschaftskritik

Erinnerungskultur und die „Anderen“

Nina Rabuza (Innsbruck): Verdinglichte Erinnerung. Überlegungen zu einer kritischen Analyse von Denkmälern an KZ-Gedenkstätten

Katrin Antweiler (Bremen): Wider die Gewissheit, es lebe der Zweifel! (ausgefallen)

Jan Siefert (Duisburg-Essen): Unangenehme Narrative in der Erzählung der „Anderen“. Zum Potential von Narrationen aus Perspektive außereuropäischer Kulturräume für einen kritischen Geschichtsunterricht in einer globalisierten Geschichtskultur

Holocaust und Nationalsozialismus

Abraham Ingber (Frankfurt am Main): Jenseits des Bösen. Ein kritischer Blick auf die Grenzen des Rettungswiderstands in der historisch-politischen Bildung

Karl Sommer (Halle-Wittenberg): suum cuique Geschichtsunterricht? (K)eine Kritik des Geschichtsunterrichts?

Arne Meinicke (Hamburg) / Johannes Eder (Frankfurt am Main): „Aufarbeitungsstolz“. Der Nationalsozialismus im Lichte deutscher Geschichtspolitik – eine Kritik