In der 19. Sitzung des Arbeitskreises Familienunternehmen beschäftigte sich die Gesellschaft für Unternehmensgeschichte (GUG) e.V. mit Familienunternehmen in der Zeit des Nationalsozialismus. Gastgeber war in diesem Jahr die 1502 gegründete Coatinc Company Holding GmbH in Kreuztal bei Siegen, die als ältestes Familienunternehmen Deutschlands gilt.
Nach einer kurzen Begrüßung von JULIA SABINE FALKE-IBACH (Düsseldorf), Vorstandsvorsitzende des GUG e.V., gab JÖRG LESCZENSKI (Frankfurt am Main), Vorsitzender des Arbeitskreises Familienunternehmen, eine kurze Einführung zu den spezifischen Besonderheiten von Familienunternehmen im Nationalsozialismus. Er machte deutlich, dass Familienunternehmen im Hinblick auf die Aufarbeitung und den Umgang mit ihrer eigenen Unternehmensgeschichte im Nationalsozialismus bis heute häufig mit einem emotionalen Erbe konfrontiert seien. Oftmals habe es über Generationen hinweg Schweigegelübde innerhalb der Familie gegeben. Auch seien tiefe Einblicke in die familiären Verstrickungen mit dem NS-Regime in der Forschung nur auf Grundlage von Familienarchiven möglich, die häufig nicht vorlägen oder nicht zugänglich seien.
Danach berichtete Gastgeber PAUL NIEDERSTEIN (Kreuztal/Siegen), Geschäftsführender Gesellschafter in der 17. Generation der Coatinc Company Holding GmbH, einem mittelständischen Unternehmen aus der Stahlindustrie, über die bisherigen Erkenntnisse zur Geschichte seines Familienunternehmens in der NS-Zeit. Für die Aufarbeitung der eigenen Unternehmensgeschichte und der Rolle des Unternehmens in der NS-Zeit habe er im Jahr 2020 einen Historiker beauftragt. Die Unternehmerfamilie sei während des Kaiserreichs grundsätzlich sehr konservativ, kaisertreu und militaristisch geprägt gewesen, sodass radikale Entwicklungen stets skeptisch gesehen worden seien, da diese mitunter langfriste Planungen und Strategien erschwert hätten. Gleichzeitig habe sich seine Familie, auch bedingt durch die Herkunft aus dem evangelisch geprägten Siegerland, stark am evangelischen Glauben orientiert. Auf Grundlage unterschiedlicher Aufzeichnungen und Quellen sei festgestellt worden, dass die Unternehmerfamilie ein ambivalentes Verhältnis zur NS-Führung gehabt habe: So gehe aus Tagebüchern seiner Urgroßmutter Luise Niederstein-Dresler einerseits hervor, dass sie sehr früh eine Ablehnung gegen die NS-Ideologie entwickelt habe und eine klare Gegnerin der Deutschen Christen (DC) gewesen sei. Dies hätten auch andere Quellen belegt. Andererseits sei ihr Sohn Werner Niederstein, Niedersteins Großvater, der in der NS-Zeit unternehmerisch im Familienunternehmen tätig war, 1939 der NSDAP beigetreten. Im Dritten Reich habe das Stahlunternehmen Aufträge für die Rüstungsindustrie ausgeführt, darunter U-Boot-Teile und Hangars für die Luftwaffe, und insgesamt 744 Zwangsarbeiter:innen beschäftigt. Der Bruder des Großvaters, Albrecht Niederstein, habe sich hingegen dem Widerstand gegen das NS-Regime angeschlossen, sei 1936 nach Frankreich geflohen und erst 1945 nach Deutschland zurückgekehrt, aber bis zu seinem Tod 1987 staatenlos geblieben. Die Diskrepanz in der Familie habe vermehrt zu Konflikten geführt, was auch die Tagebücher der Großmutter belegt hätten. Zudem sei der Kreis an potenziellen Nachfolgern durch persönliche Schicksalsschläge während des Zweiten Weltkriegs dezimiert worden, da drei Cousins von Werner Niederstein in Russland gefallen seien.
Erste Zwischenergebnisse seiner Forschungen zur Isabellenhütte Heusler in Dillenburg in der NS-Zeit präsentierte MICHAEL C. SCHNEIDER (Düsseldorf). Die Isabellenhütte, ein Hersteller u. a. von Legierungen wie Resistin, wurde nach einem Generationswechsel von 1937 bis 1939 zunächst gemeinsam von den Brüdern Ernst und Otto Heusler geführt. Nach dem Austritt Ottos führte Ernst Heusler das Familienunternehmen bis 1945 weiter. Schneider erläuterte im Rahmen seiner Fragestellung nach dem strategischen Verhalten des Unternehmens in der Aufrüstungs- und Kriegswirtschaft, dass der Erhalt von Aufträgen, etwa zur Lieferung von Legierungen für den Bau von U-Booten für die Marine, keinesfalls ein „Selbstläufer“ für das Unternehmen gewesen sei. Es habe sich stattdessen aktiv um Rüstungsaufträge bewerben müssen. Schneider stellte zudem heraus, dass die regionale Bindung, anders als bei Familienunternehmen oft üblich, im Hinblick auf Entscheidungen der Isabellenhütte keine Rolle gespielt habe.
SANDRA LIPNER (London) stellte ihr Dissertationsprojekt vor und referierte über Ihre Untersuchung der Handlungsspielräume ihres eigenen Urgroßvaters Heinrich Brenzinger als Freiburger Bauunternehmer eines 1872 gegründeten mittelständischen Familienunternehmens aus der Betonbauindustrie. Für die Analyse des Nachlasses von Brenzinger wählte sie einen kulturwissenschaftlichen Zugang, nutzte hierfür u. a. eine noch vorhandene Privatsammlung, einschließlich Privatkorrespondenzen, aber auch Quellen aus dem Firmenarchiv im Wirtschaftsarchiv Baden-Württemberg. Brenzinger trat 1933 in die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) ein und war bis 1937 „Förderndes Mitglied der SS“. Lipner, Urenkelin Brenzingers, hinterfragte das vorherrschende Narrativ innerhalb ihrer Familie, dass Brenzinger, dessen Ehefrau den NS-Rassegesetzen nach „Halbjüdin“ war, sich mit nationalsozialistischen Anfeindungen konfrontiert gesehen und sich als Unternehmer angeblich bewusst für öffentliche Aufträge beworben habe, um das Unternehmen in der Außendarstellung zu legitimieren. Des Weiteren habe er bis 1938 einen jüdischen Angestellten beschäftigt, für dessen Anstellung er 1937 in einer Anzeige im NS-Organ „Der Stürmer“ öffentlich angeprangert wurde. Lipner zeigte auf, dass Brenzinger sich 1942 aus unternehmerischen Gründen zum „Osteinsatz“ seiner Firma für Bauprojekte in Riga entschieden habe. Zudem habe das Unternehmen von 1939 bis 1945 auch Zwangsarbeiter:innen eingesetzt. Ausgehend von Brenzingers Rolle als Unternehmer und der Widersprüchlichkeit seiner Aussagen und Handlungen fragte Lipner abschließend nach den allgemeinen Handlungsspielräumen von Unternehmern im NS-Regime. Diskutiert wurde auch die Perspektivität ihrer Doppelrolle als Familienmitglied und Historikerin.
Anschließend gab MARGRIT SCHULTE BEERBÜHL (Düsseldorf) einen Einblick in die unternehmerische Entwicklung von Schokoladenunternehmen im Rheinland in der Zeit des Nationalsozialismus und die Auswirkungen der NS-Wirtschaftspolitik auf die Schokoladenindustrie. Hierzu stellte sie ihre Analysen zu sechs rheinischen Schokoladenunternehmen dar, darunter die eigentümergeführten Unternehmen Stollwerk aus Köln, Lohmann & Neugebaur und Novesia (Feldhaus) sowie die drei Unternehmen in niederländischem Besitz Bensdorp, Deutsche Kwatta und Van Houten & Zoon. Nachdem u. a. ein Preisverfall in der Weimarer Republik bereits zu Schließungen von Schokoladenunternehmen geführt hätte, habe sich die Schließungswelle nach der Machtübernahme Hitlers aufgrund der Reduzierung und Kontingentierung der Importe von Rohkakao weiter fortgesetzt. Im NS-Regime sei die Schokoladenindustrie dann durch die Zentralisierung der Rohkakaozuweisungen zur Reduzierung des Kakaogehalts in ihren Produkten, Änderungen an Rezepturen und zur Verwendung preiswerterer und heimischer Ersatzprodukte gezwungen worden. Um den Zugang zu Rohstoffen und den Erhalt von Betrieben und Arbeitsplätzen weiter zu sichern, sei zudem die Teilnahme am Leistungskampf der deutschen Betriebe der DAF notwendig gewesen. Zum Erhalt ihrer deutschen Betriebe hätten sich die niederländischen Firmen dem Zwang zur „Arisierung“ beugen müssen. Im Laufe des Zweiten Weltkriegs hätten die Unternehmen schließlich vor allem aus Rohstoffmangel die Produktion umgestellt; spätestens zwischen 1943 und 1945 sei die Produktion dann ganz eingestellt worden, auch infolge von Bombenangriffen.
Im Anschluss daran stellte STEPHAN H. LINDNER (München) seine Analysen zum Familienunternehmen Dierig Holding AG mit damaligem Hauptsitz im schlesischen Langenbielau vor, die heute weitgehend unbekannt ist, während der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus jedoch als größter deutscher Textilkonzern und größter kontinentaleuropäischer Baumwollkonzern galt. Vor allem auf Grundlage von Ego-Dokumenten Gottfried Dierigs, die dieser 1944 über die Weimarer Republik verfasst hatte, zeichnete Lindner die politischen Einstellungen und die Unternehmertätigkeit Dierigs nach, der das Familienunternehmen damals gemeinsam mit seinem Bruder Wolfgang Dierig in vierter Generation führte. So sei Gottfried Dierig nicht nur Gegner der Weimarer Republik, sondern auch antidemokratisch und antisemitisch gesinnt gewesen. Aufgrund der ihm nicht zusagenden Autarkiebestrebungen der Nationalsozialisten sei er aber erst 1940/41 in die NSDAP eingetreten. Während er von 1933 bis 1938 Leiter der Wirtschaftsgruppe Textil war, wurde er zudem 1933/34 unter Reichswirtschaftsminister Kurt Schmitt Leiter der Hauptgruppe VI der deutschen Wirtschaft für Textil, Bekleidung und Leder und 1936 Leiter der Reichsgruppe Industrie. 1941 trat er als Betriebsführer des Dierig-Konzerns zurück, blieb aber bis 1945 in der Geschäftsführung. Auf der Flucht nach Deutschland begingen die beiden Brüder Gottfried und Wolfang Dierig zusammen mit ihren Ehefrauen im Mai 1945 Suizid.
CHARLOTTE SORIA (Paris) präsentierte danach die Ergebnisse ihrer Untersuchung zur Bildung einer NS-Betriebsgemeinschaft der „Koch & te Kock Fa. von Oelsnitz“, ein 1880 gegründetes Textilunternehmen mit damaligem Sitz im sächsischen Vogtland. Für ihre Analyse bediente sie sich sowohl kultur- als auch sozialhistorischer Ansätze und ging der Frage nach dem Verhältnis zwischen Politik und Wirtschaft nach und inwiefern die Ressourcenverteilung im NS-Regime habe mitgestaltet werden können. Während Leonhard Kochs Verwandte als stille Gesellschafter beteiligt waren, sei er als Alleineigentümer des Familienunternehmens ein Verfechter der NS-Ideologie gewesen und habe mehrere politische Netzwerkfunktionen innegehabt. Für den Aufbau einer NS-Betriebsgemeinschaft seien laut Soria generell einerseits Inklusionsmechanismen wie die NS-Volksgemeinschaft oder die Mitgliedschaft in der DAF genutzt worden; andererseits seien politisch linke Gewerkschaftsführer entlassen worden. Im Rahmen des Leistungsprinzips und den Zielen einer NS-Betriebsgemeinschaft habe das Familienunternehmen u. a. sowohl eine Werkskapelle als auch Einrichtungen für den Betriebssport auf dem Werksgelände errichten lassen.
Daran anschließend ging MARK SPOERER (Regensburg) in seinem Vortrag über die weit verzweigte Unternehmerfamilie Brenninkmeyer (C&A) im Dritten Reich den Fragestellungen nach, ob der Familiencharakter des 1841 gegründeten Unternehmens bei der Frage nach dem Verhältnis der Unternehmerfamilie zum NS-Regime eine Rolle gespielt habe und ob sich eine anonyme Kapitalgesellschaft als Nicht-Familienunternehmen eventuell anders hätte verhalten können. Aufgrund ihrer niederländischen Staatsbürgerschaft seien die Brenninkmeyers Ausländer gewesen, sodass ihnen eine Mitgliedschaft in NS-Organisationen untersagt gewesen sei. Zudem habe sich die NS-Währungs- und Finanzpolitik als problematisch erwiesen, da etwa der Gewinntransfer ins Ausland infolge des Devisenzwangs kaum möglich gewesen sei. Als Ausweg habe die Familie daher Immobilien und Grundstücke aus „Arisierungen“ als Kapitalanlage genutzt und bei den Ankäufen sowohl von den stark gesunkenen Preisen als auch der Zwangslage jüdischer Vorbesitzer:innen profitiert. Während des Zweiten Weltkriegs habe C&A seine Produktionsstätten ab 1941 nicht nur in die Niederlande, sondern auch nach Prossnitz (Prostĕjov) im Protektorat Böhmen und Mähren sowie ab 1942 auch ins Ghetto Litzmannstadt (Łódź) verlagert. Als Familienunternehmen mit langer Kontinuität habe C&A im Vergleich zu Nicht-Familienunternehmen hinsichtlich innenpolitischer Risiken mit geringerer Flexibilität reagieren können, da ein Austausch der Führungsspitze aus Familienmitgliedern durch regimetreue NS-Anhänger nicht möglich gewesen wäre. Demnach habe auch die Zugehörigkeit zu einer internationalen Unternehmerfamilie mit Familienzweigen in Deutschland, den Niederlanden und Großbritannien die Handlungsspielräume beschränkt.
In der Abschlussdiskussion ließen sich anhand der vorgestellten Einzelbeispiele keine spezifisch übergreifenden Muster für Familienunternehmen in der NS-Zeit identifizieren. Demnach sei die Unternehmertätigkeit überwiegend von opportunistischem Verhalten, Patriotismus und Leistungsgedanken geprägt gewesen. Aufgrund ihrer schnellen Wandlungsfähigkeit hätten Familienunternehmen dennoch oft flexibler auf neue (Nischen-)Märkte reagieren können; auch der vermehrte Aufbau und die Nutzung von Netzwerken ließ sich beobachten. Als Besonderheiten von Familienunternehmen im Vergleich zu Nicht-Familienunternehmen habe sich aber insbesondere die Geschichte nach 1945 sowie der Umgang in der Unternehmerfamilie mit der NS-Geschichte herausgestellt. So hätten beispielsweise persönliche Schicksalsschläge und Verluste innerhalb der Unternehmerfamilie Auswirkungen auf den Generationswechsel und Nachfolgeentscheidungen gehabt. Auch zeige die Aufarbeitung der NS-Unternehmensgeschichte, dass tradierte Geschichten über Generationen hinweg nur durch die Analyse von Quellenmaterial in Familienarchiven verifiziert oder widerlegt werden könnten.
Konferenzübersicht:
Julia Sabine Falke-Ibach (Düsseldorf): Begrüßung
Jörg Lesczenski (Frankfurt am Main): Begrüßung und Einführung
Paul Niederstein (Kreuztal/Siegen): Begrüßung und Einführung
Michael C. Schneider (Düsseldorf): Die Isabellenhütte Heusler GmbH/KG in der NS-Zeit
Sandra Lipner (London): Heinrich Brenzinger, ein Freiburger Unternehmer zwischen Kollaboration und Eigensinn (1933–1945)
Margrit Schulte Beerbühl (Düsseldorf): Schokoladenunternehmen im Rheinland in der Zeit des Nationalsozialismus
Stephan H. Lindner (München): Der Textilkonzern Christian Dierig AG im Dritten Reich
Charlotte Soria (Paris): Die Koch & te Kock Fa. von Oelsnitz im Vogtland (Sachsen): eine neue „Betriebsgemeinschaft“?
Mark Spoerer (Regensburg): Ausländer, Katholiken und Kapitalisten: Die Brenninkmeyers (C&A) im Dritten Reich