Zwischen Idee und Zweckorientierung. Vorbilder und Motive von Hochschulreformen seit 1945

Zwischen Idee und Zweckorientierung. Vorbilder und Motive von Hochschulreformen seit 1945

Organisatoren
SFB/FK 435 „Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel“ an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Teilprojekte D3 (Soziologie) und E5 (Neuere Geschichte) , Dr. Barbara Wolbring und Dr. Andreas Franzmann
Ort
Frankfurt am Main
Land
Deutschland
Vom - Bis
02.03.2006 - 04.03.2006
Url der Konferenzwebsite
Von
Jennifer Stähle, Maintal

Was charakterisiert Universität? Welchen Leitbildern folgten – und folgen – Hochschulreformen? Unter diesen zentralen Fragestellungen den bundesrepublikanischen Diskurs im Spannungsfeld von universitärem Selbstverständnis und gesellschaftspolitischen Anforderungen näher zu beleuchten, seine Entwicklung zu dokumentieren und zu deuten, war Anliegen der Tagung „Zwischen Idee und Zweckorientierung. Vorbilder und Motive von Hochschulreformen seit 1945“.1 Die im Rahmen des Forschungskollegs „Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel“ von den Teilprojekten Soziologie und Neuere Geschichte an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt vom 2. bis zum 4. März 2006 ausgerichtete Veranstaltung wurde von der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung unterstützt.

Notker Hammerstein (Frankfurt am Main) entwickelte in seinem Referat über „die Ziele der Hochschulreformer an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt“ am Frankfurter Beispiel das Panorama des Wiederbeginns an den westdeutschen Hochschulen nach 1945. Anders als heute habe damals ein landesweiter Konsens darüber geherrscht, welche Ziele und Funktionen die Hochschulen zu erfüllen hätten. Neben der beruflichen Ausbildung sollte die Universität den Studenten auch Demokratiefähigkeit vermitteln. Die Trennung von allen durch den Nationalsozialismus belasteten Inhalten und Personen war hierfür Voraussetzung. An die Stelle der NS-Ideologie sollte allerdings keine neue „politische Wissenschaft“ treten. Vielmehr berief man sich auf die Humboldtsche Maxime, der Staat zöge den meisten Nutzen aus einer Universität, in die er sich nicht einmische. Unstrittig sei von Anfang an gewesen, dass der Zugang zu den Universitäten nicht länger vom sozialen Status der Studierenden abhängen dürfe. Probleme habe dagegen die Organisation der Selbstverwaltung der Hochschule bereitet. Entgegen der jüngeren These, dass hierfür ein aus der NS-Zeit stammender Reformunwille und eine bewusste Modernitätsfeindlichkeit der Professoren verantwortlich gewesen seien, wies Hammerstein auf die demokratische Unerfahrenheit der Ordinarien hin.

Corine Defrance (Paris) untersuchte die Hochschulreformbemühungen in der französischen Besatzungszone vergleichend zu denen der beiden anderen Westalliierten. Vorderstes und allen drei gemeinsames Anliegen sei die Entnazifizierung, Demokratisierung und Westbindung Deutschlands gewesen. Den Universitäten sei dabei die Rolle zugefallen, „gleichzeitig ein unentbehrliches Mittel und ein wichtiges Objekt dieser Politik zu sein“. Anders als Briten und Amerikaner waren die Franzosen nicht gewillt, diese Umerziehung in deutsche Hände zu legen. Die bestehenden Hochschulen erschienen ihnen nicht reformfähig, und so setzten sie in erster Linie auf Neugründungen. Sie seien damit aber letztlich ebenso gescheitert, bilanzierte Defrance, wie die angelsächsischen Reformer, die stärker auf den Reformwillen der deutschen Universitäten vertraut hätten. Der Erfolg der westalliierten Reformbemühungen sei demnach vor allem im Setzen liberaler Impulse und Zukunftsperspektiven für die deutschen Hochschulen zu sehen.

Christina Schwartz (Tübingen) ging dem „Selbstbildnis der Universität in Rektoratsreden“ von 1945-48 auf den Grund. Diese stellten sich der Referentin zufolge erstaunlich homogen dar und kreisten vorrangig um drei Themenfelder: Das Bekenntnis zum christlich-abendländischen Kulturkreis, das aus der Katastrophe der jüngsten Vergangenheit resultierende Krisenbewusstsein, sowie die Frage nach der zukünftigen Rolle der Hochschulen innerhalb der Gesellschaft. Wie Hammerstein und Defrance sah Schwartz die Unklarheiten nicht in der Theorie, sondern in deren praktischer Umsetzung: So sei die soziale Öffnung der Universitäten allgemein gewünscht und gefordert gewesen, sollten diese doch ihren Platz in der „Mitte der Gesellschaft“ finden, doch habe man sich schwer getan, geeignete Zulassungskriterien zu formulieren. Das Ziel, den Studenten eine umfassendere Bildung und vor allem auch politisch-moralische Integrität zu vermitteln, wurde vielerorts durch die Einführung eines Studium Generale umgehend in Angriff genommen.

Barbara Wolbring (Frankfurt am Main) fragte in ihrem Vortrag über „Öffentliche Universitätskritik in der unmittelbaren Nachkriegszeit“ nach der außeruniversitären Reformdebatte, die sie am Beispiel zweier sozialistisch orientierter Zeitschriften untersuchte. Im Zentrum der dort geäußerten Kritik habe die Forderung nach einem „wirklichen Neubeginn“ an den Universitäten gestanden, der einen Plan für grundlegende, strukturelle Reformen erfordere. Eine Rückbesinnung auf die Universitätstradition vor der NS-Zeit sei dabei kategorisch abgelehnt worden. Die Zeitschriften hätten ihre Universitätskritik mit einem Versagen des Bürgertums als Bildungselite begründet. Dieses sei an seinen eigenen Idealen gescheitert, was sich nicht zuletzt an seiner politischen Haltung dem Nationalsozialismus gegenüber gezeigt habe. Die in Ostdeutschland durchgeführten Reformen, die auf die rasche Bildung einer Arbeiterelite abzielten, seien hingegen positiv rezipiert worden; dabei seien allerdings die „totalitären Vorzeichen“, unter denen die SED die Reformen umsetzte, frühzeitig wahrgenommen und kritisiert worden.

Jan-Otmar Hesse (Frankfurt am Main) untersuchte am Beispiel der Wirtschaftswissenschaften „Universitätsgeschichte als Disziplinengeschichte“. Er stellte die anhand der Neuorganisation der Fakultäten und der Reform der Studieninhalte die Wandlung der Wirtschaftswissenschaften im Zeitraum von 1950-1975 dar und belegte zugleich deren Aufstieg zur allgemein anerkannten Leitwissenschaft. Hesse warf die Frage auf, inwieweit ein unter dem Einfluss der Wirtschaftswissenschaften stehendes Wissenschaftsbild die gesellschaftlichen Einstellungen und Erwartungen gegenüber den Hochschulen verändert habe. Diese gelte es in den gegenwärtigen Universitätsdiskurs mit einzubeziehen.

Axel Jansen (Frankfurt am Main) unterzog in seinem Referat den „offenen Brief“ der Initiative Zukunft Wissenschaft vom September 2005 einer ebenso gründlichen wie unterhaltsamen sequentiellen Analyse. Darin wies er nach, dass der Brief, der als offener Protestbrief deutscher Auslandswissenschaftler an die hiesige Bildungspolitik daherkam, sich bei genauem Hinsehen als dessen exaktes Gegenteil entpuppte, da er faktisch die Reformpolitik der damaligen Bildungsministerin Buhlmann unterstützte. Er konnte außerdem zeigen, dass dabei der Verweis auf das amerikanische Hochschulsystem als rhetorische Figur eingesetzt wird, die scheinbar auch ohne eine weitergehende inhaltliche Argumentation allgemeine Zustimmung garantiert.

Oliver Schmidtke (Frankfurt am Main) betrachtete „Hochschulbau und Hochschularchitektur als Ausdruck universitären Selbstverständnisses“. An den Beispielen Bochum und Bielefeld zeigte er, dass die dortigen Gebäude vollständig auf die Repräsentanz ihrer funktionalen Erfordernisse hin konzipiert worden seien. Dazu zählte Schmidtke die prinzipielle Offenheit, Veränderbarkeit und Erweiterbarkeit der Gebäude – und damit eben der Universität – und die Gleichrangigkeit der Fachbereiche. In der Praxis allerdings hätten sich deren architektonische Umsetzungen als weniger funktional erwiesen. So seien in Bochum gegen den ausdrücklichen Willen der Architekten die Fachbereichsgebäude farblich gekennzeichnet worden, damit sich die Studenten überhaupt auf dem Universitätsgelände hätten orientieren können.

Sascha Liebermann (Dormund) und Thomas Loer (Duisburg-Essen) referierten über die „Krise der Kritik“. Sie vertraten die These, dass ein Großteil der derzeit an den Hochschulen beklagten Probleme hausgemacht und auf ein falsches bzw. fehlendes Kollegialitätsprinzip zurückzuführen sei. Anstatt die Verantwortung für unliebsame Entscheidungen – die dann jedoch im vorauseilendem Gehorsam umgesetzt würden – lediglich außerhalb der Universitäten bei Politik und Öffentlichkeit zu suchen, gelte es, diese „Selbstentmachtung der Wissenschaft“ zu beenden und den eigenen Gestaltungsanspruch zu erneuern. Voraussetzung hierfür sei jedoch, dass Kritik und Kritikfähigkeit innerhalb der Universitäten ihren ehemaligen Stellenwert wiedergewönnen. Liebermann und Loer konstatierten eine Scheu, Wissenschaftskollegen öffentlich zu kritisieren. Dies stelle eine Verletzung der Wissenschaftspflicht dar, die den Hochschulen insgesamt Schaden zufüge. Mögliche Gründe für dieses Verhalten sahen die Referenten im mangelnden Selbstbewusstsein und der fehlenden Rückbindung der Wissenschaftler an die Gesellschaft, die sich selbst wieder stärker als politische Gemeinschaft begreifen müsse.

Anna Kosmützky und Georg Krücken (beide Bielefeld) setzten sich mit der Entwicklung von Hochschulleitbildern auseinander. Seit der Mitte der 1990er-Jahre sei zu beobachten, dass Universitäten sich eigenständige Leitbilder, so genannte organisationale Images, setzten. Diese dienten der im Zuge der Wettbewerbsverdichtung notwendig gewordenen Darstellung als effizientes Gesamtunternehmen. Dabei wirkten sie nicht nur nach außen, sondern sollten auch nach innen hin, die beschworene Corporate Identity stiften. Kosmützky und Krücken klassifizierten unterschiedliche Typen von Leitbildern. Diese seien Elemente der Hochschulentwicklung, fänden aber keinen Ausdruck in der Aktionsstruktur der Universitäten. Das Risiko eines „universell universitären Identitätsverlustes“ sei somit durch die Images nicht gegeben.

Die These von einem gegenwärtig zu beobachtenden „Systembruch in der Verfasstheit der Universitäten“ vertraten Peter Münte und Andreas Franzmann (beide Frankfurt am Main). Sie stützten sich auf die Analyse eines Interviews mit einem Hochschulpolitiker. Die Referenten skizzierten einen allmählichen Übergang in der Hochschulpolitik zwischen 1985 und 1995, an dessen Ende die Eckpunkte des gegenwärtigen Reformprogramms bereits zu erkennen gewesen seien. Die Politik habe lange versucht, die Probleme der Universitäten, großteils aus deren Ausbau zu Massenhochschulen bei gleichzeitiger Unterausstattung mit Lehrpersonal und Mitteln resultierend, durch einzelne Finanzspritzen zu mildern, sei dann aber mit der Wiedervereinigung und zunehmender Finanzkrise des Staates dazu übergegangen, hausgemachte Defizite der Universitäten in den Vordergrund der Debatte zu rücken. Schritt für Schritt habe sich der hochschulpolitische Diskurs gewandelt, Universitäten und Professorenschaft seien unter öffentlichen Druck geraten. Die Humboldt-Universität sei als Ursache der Misere immer stärker herausgestellt worden und zur Zielscheibe der Reformer geworden. Das hätte eine „Reform von oben“ vorbereitet, die heute durchgeführt werde. Getragen werde sie von einem Typus des Hochschulpolitikers, der von der Eigenständigkeit der Wissenschaft und den gewachsenen Strukturen der Universität keinen Begriff aus eigener Anschauung mehr habe, weil er die Humboldt-Universität nicht mehr als lebendige Praxis kennen gelernt habe und ihr ressentimentgeladen gegenüberstehe.

Winfried Rudloff (Speyer) beschäftigte sich mit den „Leitgedanken der Universitätsgründungen in den 1960er- und 1970er-Jahren“. Bedingt durch Akademikermangel und eine heranrollende „Studentenlawine“ kam es in dieser Zeit zu einer Welle von Universitätsneugründungen, die die Hochschullandschaft zugleich grundlegend veränderten und zu einem „Experimentierfeld“ werden ließen. Im Wesentlichen sei zwischen den Reformuniversitäten, die das Humboldtsche Bildungsideal und die Forschung betonten, und den Gesamthochschulen, die einen stärkeren Praxisbezug sowie eine gesellschaftlich-politische Einbindung forderten, zu unterscheiden. Seien die anfänglichen Konstituierungen noch so unterschiedlich gewesen, unter dem Druck der Realität der Massenuniversitäten hätten sie sich aneinander rasch wieder angenähert.

Stefanie Lechner (Frankfurt am Main) referierte am „Beispiel des Wissenschaftsrates in den 1960er-Jahren“ die „Gesellschaftsbilder in der deutschen Hochschulpolitik“. 1957 auf Initiative des Bundes als wissenschaftliches Beratungsorgan für die Hochschulpolitik gegründet, habe der Rat die maßgeblichen Empfehlungen für die allseits als notwendig empfundene Hochschulexpansion gegeben. Nach anfänglichem Zögern habe der Wissenschaftsrat auch zur Studienreform Vorschläge unterbreitet, als diese Mitte der 1960er-Jahre zu dem herausragenden öffentlich-gesellschaftlichen Thema geworden sei. Zwar seien diese Vorschläge von den Hochschulen größtenteils als Bruch mit dem traditionellen, humboldtschen Universitätsverständnis zurückgewiesen worden, Eingang in den Diskurs und das Selbstverständnis, das zunehmend das von „Massenuniversitäten“ geworden sei, hätten sie dennoch gefunden.

Im Rahmen der Tagung fand unter der Moderation von Johannes Süßmann (Frankfurt am Main) eine öffentliche Podiumsdiskussion statt. Detlef Müller-Böling (Centrum für Hochschulentwicklung, Gütersloh) und Ulrich Oevermann (Frankfurt am Main) stritten untereinander und mit dem Publikum um passende Antworten auf die Frage: „Welche Hochschule brauchen wir heute?“.
Die Diskussion veranschaulichte die Ergebnisse des Workshops, indem sie folgendes deutlich machte: Die aktuelle Debatte um Hochschulreformen ist Teil eines Diskurses, der bereits vor der Gründung der Bundesrepublik einsetzte. Er ist gekennzeichnet durch ein andauerndes Krisenbewußtsein, aus dem heraus die Reformen gefordert werden, aber auch durch ein unabhängiges, positives Selbstverständnis der Universitäten, das sich oftmals mit der Humboldtschen Idee verbindet.

Insgesamt gelang den Veranstaltern und Teilnehmern in ihren Vorträgen und Diskussionen ein intensiver und fruchtbarer interdisziplinärer Austausch, der in Darstellung und Interpretation die historischen und soziologischen Sichtweisen erfolgreich verknüpfte. Die Frage nach den hinter den Argumenten und Zielsetzungen stehenden Leitbildern stand dabei stets im Mittelpunkt.

Die Veröffentlichung der Vorträge ist geplant.

Anmerkungen:
1 Programm siehe H-Soz-u-Kult unter http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=4949


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