Interdisziplinierung? Wissenstransfer und Übersetzungspolitik in einer neuen Technowissenschaftskultur

Interdisziplinierung? Wissenstransfer und Übersetzungspolitik in einer neuen Technowissenschaftskultur

Organisatoren
Jutta Weber, Braunschweiger Zentrum für Gender Studies
Ort
Braunschweig
Land
Deutschland
Vom - Bis
08.01.2009 - 09.01.2009
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Von
Jasmin Ramm, Technische Universität Braunschweig

Interdisziplinarität wird oft gefordert und gefördert, um heutigen Anforderungen, Herausforderungen und Fragen zu begegnen und innovative Ergebnisse zu erlangen. Auf dem Symposium sollte der Frage nachgegangen werden, ob der neue und intensivierte Wissens- und Konzeptetransfer zwischen verschiedenen Disziplinen in eine restriktivere, formellere Kultur der „Interdisziplinierung” mündet, in der der Input aus den Sozial- und Geisteswissenschaften hauptsächlich als Ressource für Innovationen in den Technowissenschaften genutzt wird und der technowissenschaftliche Input für die Formalisierung und Verwissenschaftlichung der Geisteswissenschaften oder ob sich dieser in Richtung einer neuen kreativen interdisziplinären Technokultur bewegt.

Auch gibt es wenig 'Training' für interdisziplinäre Kommunikation – diese funktioniert nicht 'automatisch', sondern es kommt zu Problemen in der Praxis. Daher sollte auf dem Symposium ebenfalls darüber diskutiert werden, wie interdisziplinäres Arbeiten funktionieren kann.

Die Vortragenden kamen aus so unterschiedlichen Disziplinen wie Wissenschafts- und Technikgeschichte, Gender Studies, Politikwissenschaft, Informatik, Soziologie, Philosophie, Literatur- und Kulturforschung sowie Industrial Design, so dass auch die in den Vorträgen behandelten Fragen dem Thema „Interdisziplinarität“ aus verschiedenen Blickwinkeln begegneten. Einige der Teilnehmenden sind selber interdisziplinär tätig und auf mehreren der oben genannten Forschungsgebiete tätig. Für Kommentare und Diskussion wurde im Zeitplan viel Raum vorgesehen.

MARIA OSIETZKI (Technik- und Naturwissenschaftsgeschichte, Bochum) stellte zwei Beispiele vor, die interdisziplinäre Arbeit zwischen Naturwissenschaften und Kultur- / Geisteswissenschaften erfordern: Placebo-Effekte und von Buddhisten beschriebene unterschiedliche Zustände des Bewusstseins. Osietzki warf die Frage auf, wie bei der interdisziplinären Arbeit konzeptuelle Missverständnisse und soziale Des-Integration vermieden werden könnten und wie die Balance zwischen Diversifizierung und Vereinheitlichung von Konzepten gehalten werden könne, ohne eine Entwicklung in Richtung Hegemonie und Dominierung. An den oben genannten Beispielen zeigte sie den Prozess von Des-Integration und Re-Integration bzw. Auflösung und Wiedereingliederung von Wissen auf und dass das Aufeinandertreffen mit „dem Anderen“ in einem interdisziplinären Austausch Gender- und Machtaspekte besitzt.

PETRA SCHAPER-RINKEL (Politikwissenschaft, Berlin) ging im Kommentar der Frage nach, welche Akteure an dieser Form der interdisziplinären Arbeit beteiligt sind und was für Interessen sie dabei verfolgen. Es ginge hierbei letztlich um Wettbewerbsfähigkeit bei der Verbesserung des Selbst. In der Diskussion wurde für eine Reorganisation der Wissensproduktion plädiert, neue Konzepte würden zur Erklärung mancher Effekte benötigt. Als Kondition für die effektive Nutzbarmachung von Des-Integration / Re-Integration könne versucht werden, Vielfältigkeit und Unterschiede als Chance zu sehen, diese zu suchen und sichtbar zu machen.

Der geplante Vortrag von ELVIRA SCHEICH (Politikwissenschaft, Berlin) entfiel aus gesundheitlichen Gründen, stattdessen referierte HEIKO STOFF (Pharmazie- und Wissenschaftsgeschichte, Braunschweig). Er bezog sich in seinem Vortrag auf Fernand Braudels Konzept der „longue durée“, das Frederick L. Holmes für die Wissenschaftsgeschichte zu rehabilitieren versucht hatte. Stoff folgte Holmes in seiner Aussage, dass es trotz Brüchen und Einschnitten in der Geschichte Konzepte und Vorstellungen gibt, die über einen langen Zeitraum hinweg andauern. Ein wichtiges Element der „langen Dauer“ der Lebenswissenschaften ist nach Stoff das Dispositiv des Notstandes, das zur Mobilisierung von Wissen und Ressourcen aufgerufen wird. Staat, Forschung und Industrie seien auch im 19. Jahrhundert nicht klar getrennt gewesen, es hätte eine Verwischung von Grenzen stattgefunden.

Der Kommentar von JUTTA WEBER (Gender Studies, Braunschweig / Wolfenbüttel) sowie die Diskussion drehten sich um die Frage, ob dies die gleiche Art von Verbindung zwischen Industrie, Staat und Forschung wie heute gewesen sei.

Im folgenden Vortrag behandelte Jutta Weber den intensivierten Wissenstransfer zwischen Techno-, Geistes-, und Sozialwissenschaften als eine Antwort auf die Komplexität der postmodernen Welt. Die neue Robotik beispielsweise arbeite mit Erkenntnissen aus Informatik, künstlicher Intelligenz, Biologie, Kognitionsforschung, Neurowissenschaften, aber auch aus den Geisteswissenschaften wie Philosophie, Linguistik, Anthropologie, Psychologie, Soziologie und Gender Studies. Zentrale kritische Begriffe aus der Philosophie wie „embodiment“ (Verkörperung) und „situatedness“ (Zugehörigkeit) seien auch in der neuen Robotik zu Kernkonzepten der Forschung geworden, die funktionalistische Konzepte künstlicher Intelligenz in Frage stellen. Die Geisteswissenschaften würden in diesem Fall also nicht nur als Ressource genutzt, sondern es ergäben sich durch die Interdisziplinarität radikale Veränderungen in den epistemologischen und ontologischen Grundlagen der Robotik selbst.

Der Transfer von Konzepten, Ideen und Wissen sei seit den 1950er-Jahren ein zentrales Element der Wissenschaftsdynamik, aber die Effekte dieses Transfers würden innerhalb der Disziplinen nicht analysiert. Hauptsächlich interdisziplinär arbeitende Wissenschafts- und Technologie-Studien hätten den Transfer von Metaphern und Konzepten in divergierenden Disziplinen rekonstruiert und die Häufigkeit von 'Wissenswanderung' untersucht. Offen scheint noch, ob diese neuen Entwicklungen eine kreative, offenere Wissenskultur unterstützen oder 'migrating concepts' nur die Wettbewerbsfähigkeit und die Akzeptanz von Ergebnissen der Techno-Sciences erhöhen.

Abends fand eine englischsprachige Präsentation von Studierenden des interdisziplinären und interuniversitären Seminars „Mixed Reality – Science, Interdisciplinarity, Diversity” statt – eine Kooperation zwischen der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig, der Technischen Universität Braunschweig und der Fachhochschule Braunschweig / Wolfenbüttel. In diesem Seminar hatten die TeilnehmerInnen gemeinsam ein Konzept für ein gendersensibles „Mixed Reality“-Roboter-Spiel erstellt und berichteten auf dem Symposium über ihre dabei gemachten Erfahrungen. Jutta Weber, die als Maria-Goeppert-Meyer Gastprofessorin an allen drei Hochschulen Braunschweigs lehrt, hatte für das interdisziplinäre und interuniversitäre Seminar als Lehrende Reinhardt Gerndt, Thies Krüger und Bettina Wahrig gewinnen können.

Am folgenden Tag legte Petra Schaper-Rinkel dar, dass Anspruch und Programmatik transdisziplinärer Forschung es bisher von der Technikentwicklung ausgeschlossenen Akteuren ermöglichen könnten, Zukunftstechnologien mitzugestalten. Anhand der Beispiele Technology Assessment, Public Engagement, Nano+Art und dem Feld der Neurotechnologien zeigte sie verschiedene Dimensionen transdisziplinärer Arbeit aus den Bereichen Nanotechnologie und Neuroforschung auf, aber auch die damit verbundenen Formen von Disziplinierung und Reduktionismen, die es zu durchkreuzen gelte. Im Kommentar dazu ging Maria Osietzki der Frage nach, wie Transdisziplinarität zu einer informierten und handlungsfähigen Öffentlichkeit führen könne und was partizipatorische Verfahren eigentlich bedeuteten. In der Diskussion wurde auch auf die Entwicklung von der Technikfolgenabschätzung hin zum Technology Assessment eingegangen, die bedeute, dass das Handeln nicht mehr Folge einer Vision, sondern eines vorhandenen Problems sei und die „Exit-Option“ fortfalle. Im Bereich der Ambient Intelligence beispielsweise werde Partizipation auch zu Marktforschungszwecken genutzt.

BETTINA WAHRIG (Pharmazie- und Wissenschaftsgeschichte, Braunschweig) und STEPHANIE ZUBER (Centrum für Globalisierung und Governance, Hamburg) berichteten in ihrem Vortrag über Chancen und Probleme im Arbeitsalltag einer interdisziplinär tätigen Wissenschaftlerin. Die Vortragenden zeigten auf, dass die Forscherin als „InterViduum“ mit einem hohen Maß an Selbstmanagement produktive, innovative und unangepasste Wissenschaft betreiben könne, solange sie nie gleichzeitig die Methoden und den Handlungsgegenstand einer Disziplin in Frage stelle.

Der Kommentar von Jutta Weber und die daran anschließende Diskussion behandelten unter anderem die Abwanderung von WissenschaftlerInnen aus Disziplinen mit teilweise 'orthodoxen und mysogynen' Strukturen in neue, offenere Disziplinen. Außerdem wurden die Möglichkeiten für interdisziplinäres Arbeiten erwähnt, die es trotz und teilweise sogar wegen aktueller wissenschaftspolitischer Sparzwänge und der dadurch bedingten Umstrukturierungen gebe. Auch fand eine Betrachtung der Problematik der Annäherung von Technowissenschaften und Gender Studies aus verschiedenen Perspektiven statt.

CHERIS KRAMARAE (Center for the Study of Women in Society, Oregon, USA) ging in ihrem Vortrag auf die aktuell erfolgende Gründung einer neuen Disziplin ein, der „Web Science“. Diese wolle das World Wide Web verstehen und dazu unter anderem weltweit online betriebene interdisziplinäre Arbeit und Netzwerke erforschen und soziale Konventionen verändern. Interessant sei die Frage, wer zu dieser neuen Wissenschaft beitragen könne (und dürfe), welche Arbeiten und Ideen wichtig würden und ob es eine gemeinsame interdisziplinäre Sprache gebe. Das Problem der Partizipation an einer solchen Gründung einer neuen Wissenschaft ohne 'eingeladen' zu sein, wurde auch in der Diskussion aufgegriffen. Der Kommentar von CECILE K. M. CRUTZEN (Informatik, Wolfenbüttel / Heerlen, NL) sowie die Diskussion betrachteten zusätzlich die Verbindung zwischen Web Science und Kunst bzw. Design.

In dem Beitrag von Cecile K.M. Crutzen ging es um die in der Disziplin „Computer Science“ entwickelten ICT-Produkte (Interconnection Technology), die zunehmend unter dem Paradigma der Interaktion entwickelt werden, wie zum Beispiel E-Mail, elektronische Bankgeschäfte, elektronisch gesteuerte Waschmaschinen oder interaktives Fernsehen. Diese ICT-Produkte veränderten auch radikal das alltägliche Verhalten der Menschen. Der Prozess der Interaktion sei nicht vorhersehbar und könne nicht komplett im Voraus geplant werden. Unvorhersehbare und komplexe menschliche Interaktion ausschließlich in die Hände einer geschlossenen und konservativen Disziplin wie der Computer-Wissenschaft zu geben, welche am Funktionalismus festhalte, wäre zumindest fragwürdig. Produzenten und Konsumenten von ICT-Produkten seien häufig stark auf Sicherheit fixiert. Um Fehler auszuschließen und vermeintliche Überkomplexität zu vermeiden, werde daher immer mehr versucht, die Prozesse unsichtbar zu machen, was interdisziplinäre Arbeit allerdings erschwert. Ein interdisziplinärer Ansatz unter Beteiligung der Gender Studies werde gebraucht, um Einsicht in die Unterschiede zwischen Interpretieren, Repräsentieren und Interagieren von Menschen und Maschinen zu bekommen.

Im Kommentar plädierte HERBERT MEHRTENS (Wissenschafts- und Technikgeschichte, Braunschweig) dafür, im interaktiven Umgang zwischen Menschen und Nicht-Menschen die „fuzzy areas“ zwischen Experten und Nicht-Experten zu suchen und spielerisch zu erweitern. Interaktion könne teilweise auch durch BenutzerInnen gestaltet werden. In der Diskussion wurde festgestellt, dass es in den verschiedenen Disziplinen unterschiedliche Standpunkte zu der im Vortrag behandelten Frage gebe.

ERNST MÜLLER (Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, Berlin) zeigte am Beispiel des Begriffes 'Information', der in so unterschiedlichen Disziplinen, wie beispielsweise Mathematik, Genetik, Molekularbiologie, Physik, Psychologie, Philosophie, Soziologie, Informatik benutzt wird, die Problematik einer Geschichte interdisziplinärer Begriffe auf. Was die Verschiebung von der Alltagsbedeutung zur technischen Bedeutung von 'Information' betrifft, sei beispielsweise ein Streit um die Priorität des alltagssprachlichen oder des wissenschaftlichen Begriffs zwischen Kulturalisten und Naturalisten entbrannt. Auch würden klassischerweise in Handbüchern – wie zum Beispiel dem ‚Historischen Wörterbuch der Philosophie’ die verschiedenen disziplinären Dimensionen eines Begriffs nur nebeneinander abgehandelt, anstatt diese in ihrer Verflechtung zu rekonstruieren. Müller bereitet derzeit – zusammen mit Kollegen – ein Projekt für ein Wörterbuch disziplinen- und diskursübergreifender Begriffe vor.

Auf der Tagung wurden sehr verschiedene Typen interdisziplinärer Arbeit vorgestellt und Funktionen und Ergebnisse des interdisziplinären Wissenstransfers zwischen Techno-, Geistes-, und Sozialwissenschaften sowie der Kunst von den Teilnehmenden diskutiert. Festzuhalten ist, dass es aufgrund der kaum vorhandenen systematischen und metatheoretischen Auseinandersetzung mit Interdisziplinarität einen großen Forschungsbedarf über interdisziplinäres Arbeiten gibt, zum Beispiel zu der praktischen Umsetzung. Interdisziplinarität muss vermittelt aber in erster Linie auch selber erfahren und gelernt werden, wie die studentischen TeilnehmerInnen in ihrer Präsentation über „Mixed Reality“ betonten.

Die Vortragenden und Teilnehmenden konnten in diesem Symposium die Erfahrung des interdisziplinären Austausches machen und eine fruchtbare Auseinandersetzung mit 'anderen' Konzepten, Methoden und Begriffen in der Praxis erleben.

Konferenzübersicht:

Maria Osietzki
Resourcing human capacities of brain and mind. Cultural challenges of interdisciplinarity in positive psychology and placebo research
Kommentar: Petra Schaper-Rinkel

Heiko Stoff
Resource Ensembles, Assemblages and Apparatuses: The Problem of longue durée in the History of Science
Kommentar: Jutta Weber

Jutta Weber
On the Politics of Translation in the Age of Technoscience
Kommentar: Heiko Stoff

Reinhard Gerndt / Thies Krüger
On Mixed Reality: Experiences with ‚Mixed Reality’ Presentation of students’ work from the interdisciplinary project „Mixed Reality – Science, Interdisciplinarity, Diversity”.

Petra Schaper-Rinkel
Von der Interdisziplinarität zur Trans-Disziplinierung? Zur Dynamik in der Nanotechnologie und der Neuroforschung
Kommentar: Maria Osietzki

Bettina Wahrig / Stephanie Zuber
Inter Viduum – Die inter-disziplinierte Wissenschaftlerin bei der Arbeit
Kommentar: Jutta Weber

Cheris Kramarae
The Languages of Technoscience Connections
Kommentar: Cecile Crutzen

Cecile Crutzen
An Interdisciplinary Approach to Interaction
Kommentar: Herbert Mehrtens

Ernst Müller
Übertragungen im Informationsbegriff
Kommentar: Jutta Weber


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