Poiesis. Praktiken der Kreativität in den Künsten der Frühen Neuzeit

Poiesis. Praktiken der Kreativität in den Künsten der Frühen Neuzeit

Organisatoren
Valeska von Rosen / David Nelting / Jörn Steigerwald, Ruhr-Universität Bochum
Ort
Bochum
Land
Deutschland
Vom - Bis
13.05.2010 - 15.05.2010
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Von
Andreas Plackinger, Kunstgeschichtliches Institut, Ruhr Universität Bochum

Während Untersuchungen zu künstlerischen Schöpfungsprozessen fast ausschließlich die theoretische Konzeptionsleistung in den Blick nehmen und damit letztlich platonischen Kategorien verhaftet bleiben, geraten die konkrete, praktische Seite kreativen Arbeitens und die darin enthaltenen Ansprüche in der Forschung meist ins Hintertreffen. Das auf Aristoteles Ethik rekurrierende Modell der Poiesis, verstanden als künstlerisches Tun, das zwischen Theorie und Praxis vermittelt, bietet eine Möglichkeit, bisher vernachlässigte Aspekte frühneuzeitlicher Schöpfertätigkeit zu befragen. Dadurch, dass der Begriff der Poiesis bisher vor allem philosophiegeschichtlich aufgearbeitet worden ist oder in poetologischen Fragestellungen im Verhältnis zur Mimesis prominent hervortritt, wird mit der Anwendung dieses Konzepts auf genuin künstlerische Gegenstände Neuland betreten. Dies gilt insbesondere für den speziellen Fokus auf poietische Konzepte in der Vormoderne. Gerade diese Problematik zu konfrontieren, war das Ziel des von VALESKA VON ROSEN (Bochum), DAVID NELTING (Bochum) und JÖRN STEIGERWALD (Bochum / Tübingen) veranstalteten interdisziplinären Kolloquiums an der Ruhr-Universität Bochum. Durch diesen spezifischen Zugang konnte die Bochumer Tagung verwandte Projekte, wie etwa das Jahresthema „Poiesis“ des Deutschen Forums für Kunstgeschichte in Paris, das durch seinen Direktor Andreas Beyer und mehrere Stipendiaten diskussionsfreudig vertreten war, gewinnbringend ergänzen.

Die Vorträge und Diskussionen stellten die Frage nach der faktischen, prozessualen Seite künstlerischen Arbeitens, in der sich eine „theoriehaltige Praxis“ offenbaren kann: Sei es in Form von Reflexion auf das „Gemachtsein“ eines Werks, das heißt auf seine spezifischen medialen, materiellen oder performativen Bedingungen, sei es im konkreten Verweis auf andere Gattungen und Künste oder den Urheber des Werks. Der Rekurs frühneuzeitlicher Kunstkonzepte auf rhetorische Kategorien bildete eine der entscheidenden Prämissen der im Rahmen des Kolloquiums angestellten Überlegungen und lieferte damit Anknüpfungspunkte zu früheren Tagungen an der Ruhr-Universität Bochum (Erosionen der Rhetorik? Ambiguitäts- und Umsemantisierungsstrategien in den Künsten der frühen Neuzeit, 14.-16.05.2009) und der Ludwig-Maximilians-Universität München (Humanistische und vernakulare Kulturen der aemulatio in Text und Bild 1450-1620, 15.-17.04.2010).

Nach Begrüßung, thematischer Einführung und Erläuterung der bisherigen Vorarbeiten zum Forschungsthema Poiesis an der Ruhr-Universität Bochum übergab Valeska von Rosen das Wort an ULRICH REHM (Bochum), der in seinem Vortrag nach der Funktion mittelalterlicher Autoren- und Künstlerdarstellungen fragte. Sein Interesse galt unter anderem der Visualisierung von Herstellungsprozessen und damit verbunden deren (auch ethische) Aufwertung. Daran schloss WOLF DIETRICH LÖHR (Berlin / Florenz) thematisch in idealer Weise an, indem er am Beispiel spätmittelalterlicher bzw. trecentesker Werke eine im Laufe der Zeit zunehmend positivere Schilderung konkreter künstlerischer Handarbeit aufzeigen konnte, wobei er insbesondere deus artifex-Darstellungen für seine Analyse fruchtbar machte. In ihrem darauf folgenden Beitrag erläuterte KARIN GLUDOVATZ (Berlin) am Beispiel Rembrandt, wie die Herausstellung der materiellen Werktextur inhaltliche Bedeutungskomponenten des Sujets hervorheben konnte. ULRICH PFISTERER (München) beschäftigte sich mit originellen trompe-l’œil-Stillleben, die durch den Verweis auf die praktische Seite malerischen Produzierens mittels Ausstellen von Malereiutensilien komplexe Ideen verhandeln. Ein Fazit dieses ersten Kolloquiumstages war zweifellos, dass die in der klassischen Kunsthistoriographie eröffnete Dichotomie zwischen Praxis und Theorie einer Revision bedarf.

Diese Überlegungen konnte VALESKA VON ROSEN (Bochum) am folgenden Tag mit ihren Beobachtungen zur äußerst delikaten Frage nach dem theoretischen Ort des michelangelesken non finito sowie zur Sprache der Pinselführung bei Tintoretto und im Spätwerk Tizians pointiert zusammenführen. Den Aspekt der Aushandlung von Theorie im bzw. durch das Werk selbst behandelte auch ROGER FRIEDLEIN (Bochum) in seinem Vortrag zu portugiesischsprachigen Versepen des 16. und 17. Jahrhunderts, wobei er die spezifische narrative Funktion der Figur des Proteus bei Camões, Corte-Real und Texeira erläuterte. Mit MANUEL BAUMBACH (Bochum), JÖRN STEIGERWALD (Bochum / Tübingen) und ULRICH HEINEN (Wuppertal) verschob sich die Fragestellung hin zum poietischen Potential transmedialer Reflexionen in literarischen bzw. bildkünstlerischen Werken. Baumbach zeigte am Beispiel des Poseidippus von Pella auf, wie die Beschreibung von Kunstwerken im ekphrastischen Epigramm der Antike eine literarische Selbstreflexion entfaltete. Heinen wiederum versuchte an Hand von Werken aus Rubens’ Mantuaner Zeit zu verdeutlichen, in welch hohem Maße musik- und sprachtheoretische zeitgenössische Ideen die Genese der formalen Struktur eines Gemäldes bestimmen konnten. Steigerwald wiederum beschrieb, wie sich die Narration in Boccaccios Amorosa visione durch den Verweis auf bildende Kunstwerke mittels Ekphrasis einerseits selbst reflektiert, anderseits aber auch einen moralisch kommentierenden Anspruch aufweist. In ganz ähnlicher Weise fragte KIRSTEN DICKHAUT (Gießen) nach der ethischen Komponente der Poiesis, in dem sie in ihrem äußerst elaborierten Arbeitsbericht den Status von Täuschung als ars bzw. techné bei Machiavelli (Principe, Mandragola) zur Debatte stellte. JÖRG ROBERT (Würzburg) untersuchte den Wandel von eher neoplatonisch orientierten Vorstellungen künstlerischer Praxis hin zu einer verstärkt auf ein protestantisches Ethos des Arbeitens hinzielenden impliziten Theorie in den schriftlichen Äußerungen Dürers unter besonderer Berücksichtigung der Problemstellungen Nachahmung und künstlerische Individualität. Den zweiten Kolloquiumstag beschloss MICHAEL THIMANN (Florenz) mit seinen Überlegungen zur Raphael-Rezeption im frühen 19. Jahrhundert am Beispiel des sogenannten ‚Blumen-Raphael‘ Adolf Senff und des sogenannten ‚Katzen-Raphael‘ Gottfried Mind. Der vergnügliche Vortrag verdeutlichte, wie tropologische Verbindungen von Kategorien frühneuzeitlicher Rhetorizität angewandt auf Phänomene des frühen 19. Jahrhunderts nicht mehr funktionieren und dadurch ins Absurde abgleiten können. Gerade dieser Beitrag zeigte auf, dass eine Beschränkung auf die Vormoderne bei der Beschäftigung mit Fragen künstlerischer Produktion äußerst nahe liegt und unterstrich damit die Bedeutung des gewählten historischen Horizonts der Tagung.

Am dritten Kolloquiumstag kam ROLAND WEIDLE (Bochum) auf die Frage nach werkimmanenter Theoriebildung zurück, indem er auf die diesbezüglichen methodischen Schwierigkeiten am Beispiel Hamlet verwies. Er befürwortete, die hier inszenierten Normabweichungen im Hinblick auf die Dramenhandlung zu deuten. Auch LAURENZ LÜTTEKEN (Zürich) beschäftigte sich in seinem musikwissenschaftlichen Vortrag zum Komponisten Guillaume Dufay mit Fragen der Normabweichung und konstatierte, dass die Handlungsvielfalt der normierenden Form zur Erprobung künstlerischer Möglichkeiten und zur Ausstellung der individuellen Musiker/Künstler-Tätigkeit genutzt werden und mithin einen poietischen Charakter entfalten konnte. BERNHARD HUSS (Erlangen-Nürnberg) argumentierte in ähnlicher Weise in Bezug auf Aretinos Sonetti lussoriosi, zeigte aber auf, dass der markierte Tabubruch letzten Endes eine ernsthafte Auseinandersetzung mit spezifischen (hier petrarkistischen) Mustern darstellt, deren souveräne Beherrschung durch den betonten Regelverstoß prominent wird. DAVID NELTING (Bochum) stellte am Beispiel von Bembo und Aretino paradigmatisch zwei unterschiedliche Autorisierungsmodelle literarischer Selbstpräsentation vor. Er entwarf das idealtypische Szenario einer Entscheidung zwischen dem Anschluss an eine Werte- und Diskursgemeinschaft (Bembo) und dem ostentativen Bruch mit der Tradition bei Herausstellung der spezifischen Autoren-Individualität (Aretino). Das Problemfeld poietischer Selbstreflexion und Selbstinszenierung mittels Normverstoß fand als Generalthema des letzten Sitzungstages in diesem Vortrag eine gelungene Synthese.

Die angeregten und anregenden Diskussionen sowie die erstaunlich vielfältigen interdisziplinären Bezüge, die sich im Laufe des Kolloquiums ergaben, machten deutlich, dass die Entwicklung und Anwendung eines Konzepts frühneuzeitlicher Poiesis sowohl ein Forschungsdesiderat darstellt, als auch einen viel versprechenden Ansatz, um sich Fragen künstlerischer Produktion in der Vormoderne anzunähern.

Konferenzübersicht:

Valeska von Rosen (Bochum): Begrüßung und Einführung

Ulrich Rehm (Bochum): Triumph des Schönen als Produkt der Kunst. Das Mönchsbild der Lambeth-Apokalypse, 13. Jahrhundert

Wolf Dietrich Löhr (Berlin / Florenz): Hammer und Pinsel. Die Aufwertung des Machwerks im 14. Jahrhundert

Karin Gludovatz (Berlin): Das Malen lieben. Rembrandt und der poietische Akt

Ulrich Pfisterer (München): Das Werk im Entstehen. Cornelis Gijsbrechts vor der Staffelei

Manuel Baumbach (Bochum): Poiesis und Ekphrasis bei Poseidippus von Pella. Zur Genese einer neuen epigrammatischen Form der Kunstbetrachtung

Roger Friedlein (Bochum): Proteus als ‚Faktor‘ der Theoriebildung im Renaissance-Epos – Camões, Corte-Real, Texeira

Jörn Steigerwald (Bochum / Tübingen): Erschriebene Bilder: Giovanni Boccaccios Amorosa visione

Ulrich Heinen (Wuppertal): Principal passione. Frühbarocke Bildpraxis als Dichtung

Jörg Robert (Würzburg): Abmachen, Arbeit, Gnade. Nachahmungsprobleme bei Dürer

Kirsten Dickhaut (Gießen): Täuschung als Kunstgriff bei Machiavelli

Valeska von Rosen (Bochum): Das Denken des Arbeitens im Cinquecento

Michael Thimann (Florenz): Überlegungen zur Raphael-Rezeption im frühen 19. Jahrhundert am Beispiel des sogenannten ‚Blumen-Raphael‘ Adolf Senff (1785-1863) und des sogenannten ‚Katzen-Raphael‘ Gottfried Mind (1768-1814).

Laurenz Lütteken (Zürich): Der handelnde Musiker. Kompositorische Selbstreflexion bei Guillaume Dufay

Roland Weidle (Bochum): Zur Rekonstruktion von ‚Shakespeares‘ immanenter theatraler Poetik: Probleme und Auswege – aufgezeigt am Hamlet

Bernhard Huss (Nürnberg-Erlangen): Pseudo-pornographische Zyklik: Pietro Aretinos Sonetti lussuriosi als kalkulierte Ostentation lyrischer Normabweichung

David Nelting (Bochum): Die Produktion dichterischer Autorität im Spannungsverhältnis von Kollektivierung und Singularisierung bei Pietro Bembo und Pietro Aretino


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