Zwangsarbeit in Hitlers Europa

Zwangsarbeit in Hitlers Europa

Organisatoren
Stiftung "Erinnerung, Verantwortung, Zukunft"
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
08.11.2010 - 10.11.2010
Url der Konferenzwebsite
Von
Michael G. Esch, Neuere, Neueste und Osteuropäische Geschichte, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Während des Zweiten Weltkrieges wurden mindestens 20 Millionen Menschen zur Arbeit für Einrichtungen oder Betriebe des Deutschen Reichs gezwungen; gleichwohl spielte Zwangsarbeit in der europäischen Geschichtswissenschaft lange Zeit eine nur marginale Rolle, in den europäischen und nationalen Erinnerungskulturen kam sie häufig überhaupt nicht vor. Dies änderte sich mit den internationalen Diskussionen um eine Entschädigung ehemaliger ZwangsarbeiterInnen 1998-2001, die mit der Bereitstellung von 10 Milliarden DM für entsprechende Auszahlungen sowie für weitergehende Förderprojekte der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (EVZ) endeten. Die politisch-öffentliche Beschäftigung mit Zwangsarbeit scheint seit dem Abschluss der Auszahlungen im Jahre 2007 abgeschlossen. Der Auszahlungsprozess hat jedoch gleichzeitig zu einem neu erwachten historiographischen Interesse geführt, das sich sowohl aus dem öffentlichen Charakter der Auszahlungsgeste und seiner Wirkungen auf nationale Selbstverortungen als auch der Masse an neuem Quellenmaterial speist, das im Verlaufe des Antragsverfahrens und weiterer Forschungsbemühungen angesammelt worden ist.

Die in den Räumlichkeiten der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW) stattfindende Konferenz diente vor allem dazu, die Ergebnisse einer Reihe von Forschungsprojekten zum Themenkomplex „Zwangsarbeit 1939-1945“ zu präsentieren, die in den letzten beiden Jahren von der Stiftung EVZ finanziert wurden und die sich geographisch vor allem mit dem östlichen Europa beschäftigten. Hinzu kamen Referate aus Forschungsarbeiten zu Zwangsarbeit und ihrer kollektiven, öffentlichen und individuellen Verarbeitung im westlichen Europa. Die Konferenz bot damit einen sehr guten Einblick in den Stand der Forschung zu nationalsozialistischer Zwangsarbeit insgesamt.

Die Konferenz zerfiel in zwei thematisch getrennte Teile, die jeweils von Keynotes eingeleitet wurden. Der erste Tag war unter dem Titel „Zwangsarbeit im besetzten Europa“ gleichsam der Real- und Strukturgeschichte des zwangsweisen Arbeitseinsatzes gewidmet. ULRICH HERBERT (Freiburg) wies in seinem Eröffnungsvortrag darauf hin, dass ein Gegensatz zwischen Sklaverei als totaler Verfügung über Arbeitskraft und Körper und freier Lohnarbeit, in der Arbeitskraft als Ware in einem freien Kontrakt veräußert werde, in dieser Form historisch nicht bestehe; vielmehr handle es sich im 19. und über weite Teile des 20. Jahrhunderts um zwei Pole eines Spannungsfeldes, in der verschiedene Formen der Nutzung von Arbeitskraft nebeneinander bestanden hätten und Übergänge bzw. Grauzonen zwischen „freien“ und „unfreien“ Beschäftigungsverhältnissen sehr häufig waren. Auch im Bereich der nationalsozialistischen Zwangsarbeit sah Herbert großen Differenzierungsbedarf und verwies einerseits auf die unterschiedlichen Arbeitsbedingungen eines zwangsverpflichteten dänischen Ingenieurs und eines jüdischen Ghettokinds, andererseits darauf, dass etwa die „Organisation Todt“ kurz nach dem Krieg nicht immer als Zwangsanstalt abgelehnt, sondern mitunter von den Gegnern des Deutschen Reichs wegen ihrer Effektivität im planvollen Einsatz von Arbeitskraft bewundert wurde. Außerdem wies er auf Widersprüche innerhalb des NS-Systems hin, insbesondere die Dichotomie von Ausbeutung und Vernichtung der jüdischen Sklavenarbeiter. Diese begrifflichen und paradigmatischen Nuancierungen fehlten in vielen der folgenden Referate insofern, als zwar verschiedene Formen staatlich gesteuerter Zwangsarbeit im NS unterschieden, diese aber kategorisch von „freier Lohnarbeit“ getrennt wurden.

Die erste Sektion unter der Leitung Michael Wildts befasste sich mit politischen Aspekten des Arbeitseinsatzes im Osten: KARSTEN LINNE (Berlin) stellte einen systematischen Vergleich der Arbeitsverwaltung im besetzten Polen (Wartheland, Generalgouvernement) und im besetzten Serbien vor, wobei er Form und Umfang der Zwangsarbeiterrekrutierungen mit den wirtschafts- und bevölkerungspolitischen Zuordnungen dieser Besatzungsgebiete in Beziehung setzte. Der Vortrag brachte außer für das bisher in der Historiographie vernachlässigte Serbien nichts grundsätzlich Neues; als wichtig erscheint vor allem Linnes Auffassung, dass die Arbeitsmarktpolitik der deutschen Besatzungsbehörden trotz der unterschiedlichen Funktionszuweisungen in den drei betrachteten Gebieten sich strukturell und formal nur unwesentlich unterschied. TILMAN PLATH (Flensburg) zeigte den Arbeitseinsatz im Baltikum als zentrales Politikfeld, das sich im Spannungsfeld von Zwang und der bedingten Bereitschaft, auf die Interessen von Teilen der Bevölkerung einzugehen, entfaltete. Plath zeigte, dass der Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz, der für Deportationen von Arbeitskräften ins Reich zuständig war, sich letztlich gegen die deutschen Industriebetriebe und die SS, die an einem Verbleib der Arbeitskräfte im Baltikum interessiert waren, nicht durchsetzen konnte. Auch zeigte er, dass privilegierte Bevölkerungsschichten – insbesondere die baltischen Kollaborationsbehörden – den deutschen Bedarf an Arbeitskräften ihrerseits nutzten, um ihnen unerwünschte Bevölkerungsgruppen – insbesondere die Russen – loszuwerden. Beide Vorträge und die darauffolgende Diskussion machten deutlich, dass die Auszahlungskriterien der Jahre 2001 bis 2007, und zwar insbesondere das Kriterium „Deportation“, den historiographischen Blick für lokale Praktiken von Zwangsarbeit ein wenig verstellt haben. Michael Wildt hob zudem in der Diskussion hervor, dass die Berücksichtigung von Entwicklungen im Kriegsverlauf mitunter fehle; außerdem müsse bei der Untersuchung lokaler Akteure die Rolle von Korruption und Machtdispositiven in den Blick genommen werden.

Die zweite Sektion unter der Leitung von Tomás Jelínek behandelte die konkrete Organisation der Zwangsarbeit, insbesondere in der „Organisation Todt“ (OT) sowie in KZ- und Arbeitslagern. FABIAN LEMMES (Bochum) beschrieb den Masseneinsatz von Arbeitern im Rahmen der Besatzungsherrschaft in Frankreich und Italien als komplexe Kooperation zwischen einheimischer Bauwirtschaft, deren Stammbelegschaften in die OT integriert wurden, neu angeworbenen Freiwilligen und von der OT zugewiesenen Zwangsarbeitern. In der Integration des Stammpersonals, also der Ernennung von Vorarbeitern zu OT-Bauleitern, erhielten einheimische Facharbeiter Verwaltungs- und Strafkompetenzen, die sie ebenso wie die vorhandenen Spielräume hinsichtlich Lohn und Verpflegung meist, aber nicht immer, zugunsten der Arbeiter nutzten. ALFONS ADAM (Prag) beschrieb, wie im besetzten Tschechien der Arbeitskräftebedarf des Auto-Union-Werks Chemnitz und größerer Unternehmen der Montanindustrie, aber auch von Betrieben ostböhmischer mittelständischer Firmen, zur Transformation der KZ-Außenlager von einem Terrorinstrument zu einer der wichtigsten Säulen der Beschäftigungspolitik führten. MARIO WENZEL (Berlin) zeigte, wie Zwangsarbeitslager für Juden im Distrikt Krakau (Generalgouvernement) für den Bedarf deutscher Firmen eingerichtet und auch weitgehend von diesen verwaltet wurden, während die Rekrutierung der Arbeitskräfte auf die Judenräte abgewälzt wurde. Alle Vortragenden betonten, dass von einem kohärenten System der Zwangsarbeit kaum gesprochen werden könne. Es entstand vielmehr das Bild einer Folge von mitunter widerstreitenden, häufiger aber im Prinzip ähnlicher und gleichgerichteter Lösungsversuche konkreter – hier fehlte meist der Hinweis: selbstgeschaffener – Probleme der Rekrutierung von Arbeitskräften, bei denen mit SS, Besatzungs- und Kollaborationsbehörden, Wehrmacht und privaten Unternehmen verschiedene Akteure zusammenwirkten bzw. konkurrierten und sich bevölkerungspolitische Interessen mit (kriegs-)wirtschaftlichem Bedarf kreuzten.

Es ist sicherlich symptomatisch, dass sich in der darauf folgenden Sektion unter der Leitung von Jens-Christian Wagner, in der erstmals im Verlaufe der Konferenz keine deutschen Kollegen vortrugen, der Blick auf den Komplex Zwangsarbeit deutlich verschob: Sowohl EVGENIJ GREBEN (Minsk), der über die Erfahrungen und Lebensbedingungen von ZwangsarbeiterInnen in Belarus sprach, als auch WITOLD MĘDYKOWSKI (Jerusalem), der den Kenntnisstand über Zwangsarbeit im Generalgouvernement zusammenfasste, interpretierten die jeweiligen Zwangsarbeitsregimes als systematisiertes Verfolgungs- und Vernichtungsinstrumentarium gegen die heutigen Staatsnationen. Der offensichtliche Widerspruch zur vorher aufgezeigten Situativität des deutschen Vorgehens im Bereich der Zwangsarbeit blieb in der Diskussion leider unbenannt. Ohne Zweifel wurden die Bevölkerungen des östlichen Europa, insbesondere in den sowjetischen Gebieten, im Kontext der Rassenideologie prinzipiell als frei verfügbare Dispositionsmasse behandelt. Es erscheint aber als fraglich, ob, wie im Vortrag von Greben, eine Ausweitung des Begriffs Zwangsarbeit auf sämtliche Tätigkeitsbereiche und -formen einschließlich des Kollaborationsregimes, statthaft ist, ohne eine grundlegende Neudefinition des Begriffs „Zwangsarbeit“ vorzunehmen. Davon abgesehen zeichnete auch dieser Vortrag durchaus differenziert, wie bevölkerungs- und wirtschaftspolitische Motive einander beeinflussten – etwa als die Vernichtung hochqualifizierter Juden trotz bereits angelaufener „Endlösung“ verschoben wurde. Sowohl Grebens als auch Mędykowskis Vortrag machten jedoch deutlich, dass in Teilen der ostmitteleuropäischen Historiographien die Forschung zur NS-Zwangsarbeit trotz aller Detailschärfe häufig in erster Linie auf die Anerkennung als NS-Opfer im Rahmen nationaler und übernationaler Meistererzählungen ausgerichtet bleibt.

In der letzten Sektion des ersten Tages folgten unter der Leitung Holm Sundhaussens weitere Detailstudien zu bislang vernachlässigten Regionen des nationalsozialistisch dominierten Europa. CHRISTIAN SCHÖLZEL (Berlin) zeigte, wie im Rahmen der Großwirtschaftsraum-Pläne Kroatien als Satellitenstaat des Deutschen Reiches unmittelbar in die Anwerbung von Arbeitskräften für das Deutsche Reich eingebunden wurde; auch hier spielten insofern nationalistisch-rassistische Motive in die Rekrutierung hinein, als die kroatischen Behörden vor allem serbische Arbeitskräfte nach Deutschland schickten und so eine ohnedies geplante ethnische Säuberung einleiteten. VIOREL ACHIMs (Bukarest) Beitrag fokussierte auf den Zwangseinsatz rumänischer Juden und Roma für die Wehrmacht in Transnistrien. Hier waren die Bedingungen insofern andere, als Rumänien ein verbündeter Staat war und die deutschen Behörden zu einem verbindlichen Abkommen über die Arbeitskräfterekrutierung zwingen konnte und nach der Niederlage von Stalingrad gegen Hinrichtungen rumänischer Juden durch die Wehrmacht protestierte, ohne dass dies allerdings die Lebensbedingungen der Juden und Roma wesentlich verbessert hätte. MARKUS EIKEL (Den Haag) beschrieb das lokale Arbeitsregime im Reichskommissariat Ukraine als Zusammenwirken der deutschen zentralen Behörden, der meist mit „Volksdeutschen“ besetzten,inkompetenten und korrupten lokalen Behörden und der Gegenwehr der lokalen Bevölkerung, d.h. Flucht und Absentismus. Auch Eikel betonte den bislang zu wenig beachteten lokalen Bedarf an Arbeitskräften, der etwa dazu führte, dass ganze Berufsgruppen für Ernteeinsätze oder Straßenbau von der Rekrutierung als „Ostarbeiter“ freigestellt wurden.

Die Vorträge des ersten Tages hinterließen einen zwiespältigen Eindruck: Ohne Zweifel bereicherten die am ersten Tag vorgestellten Projekte das Detailwissen über Formen und Akteure der Zwangsarbeit, in geringerem Maße informierten sie über die Bewältigungsstrategien derer, die dem Zwangsarbeitsregime unterworfen waren, es fehlte aber meist an einer pointierten analytischen Zuspitzung der mitunter zu faktografisch gehaltenen Ergebnisse. Von nachhaltigem Interesse dürfte die Feststellung sein, dass das ad hoc entstandene Zwangsarbeitssystem in allen seinen Abstufungen überall – in den unterschiedlichen besetzten Gebieten, Satelliten- und verbündeten Staaten – in wesentlichen Zügen das Gleiche war; regionale Unterschiede erklärten sich dann nur durch die unterschiedliche Behandlung der jeweils vorhandenen ethnischen Gruppen. Ebenso fanden sich offensichtlich überall, wo die deutschen Behörden solche suchten, hinreichend viele Kooperationswillige, die – aus je unterschiedlichen Motiven – am Funktionieren dieses Arbeitsregimes mitwirkten. Die eingangs geforderte Kritik des Begriffs Zwangsarbeit und seiner eindeutigen Abgrenzung von „freier Lohnarbeit“ fehlt allerdings offensichtlich in vielen Arbeiten. Das gleiche gilt sicherlich für die Auflösung der Dichotomien von Widerstand und Kollaboration: In einigen Vorträgen sowie in der Diskussion wurde darauf hingewiesen, dass auch hier die Übergänge fließend waren. Es entstand insgesamt der Eindruck, dass die nationalsozialistische Zwangsarbeit an sich – im Gegensatz zur rassischen Selektion der unterworfenen Bevölkerungen und dem Einfluss dieser Selektion auf das jeweilige Arbeitsregime – nichts dem NS Eigentümliches gewesen ist, sondern vor allem Funktion des (modernen, totalen) Krieges.

CLAUS LEGGEWIE (Essen) leitete den zweiten Konferenztag, der unter dem Titel „Erinnerungen an Zwangsarbeit nach 1945“ stattfand, mit Überlegungen vergangenheitspolitische Repräsentation von Zwangsarbeit und Kollaboration in einem vom Résistance-Mythos bestimmten, gleichzeitig sich vereinigenden Europa ein. Allerdings spielte Vergangenheitspolitik im engeren Sinne in den folgenden Vorträgen eine untergeordnete Rolle. Die in den beiden ersten, von Tanja Penter und Gertrud Pickhan geleiteten Sektionen zur „Erinnerung an Zwangsarbeit im östlichen Europa“ führten vielmehr Beiträge zusammen, die sich in äußerst anregender Weise mit dem Verhältnis zwischen individueller Erinnerung und öffentlicher Repräsentation von Geschichte auseinandersetzten. TETIANA PASTUŠENKO (Kiew) rekonstruierte anhand lebensgeschichtlicher Interviews die Möglichkeiten, trotz mit Zuzugsbeschränkungen und sekundärer Verfolgung erschwerten Bedingungen in der sowjetischen Nachkriegsgesellschaft in Kiew sozial und persönlich zu reüssieren. Pastušenko wies ausdrücklich darauf hin, dass ihre Gesprächspartner ausschließlich solche ehemaligen ZwangsarbeiterInnen waren, die erfolgreiche Biographien aufwiesen. Der Aussagewert ihrer Arbeit liegt daher – neben ihren methodischen Hinweisen – zunächst einmal in der Feststellung, dass trotz sekundärer Verfolgung und Verbannung der Zwangsarbeiter aus dem öffentlichen Gedächtnis Lücken im (sowjetischen) Zwangssystem bestanden, die subjektiven sozialen Erfolg möglich machten; die genauen Bedingungen dieses Erfolgs wären freilich weiter zu untersuchen. IMKE HANSEN (Hamburg) befasste sich auf ähnlicher Quellengrundlage mit den Diskrepanzen zwischen individueller Erinnerung und einer belarussisch-sowjetischen nationalen Meistererzählung, die den Zweiten Weltkrieg als Großen Vaterländischen Krieg, als Geschichte von Helden repräsentierte, und der Art, in der diese Diskrepanzen individuell verarbeitet wurden. Problematisch war bei diesem hoch anregenden Vortrag ihre Feststellung, die Divergenz zwischen individuellem und öffentlichem Gedächtnis sei charakteristisch für sowjetische Biographien: In der Diskussion wurde darauf verwiesen, dass solche Diskrepanzen vielmehr eine allgemeine Begleiterscheinung des öffentlichen Gedächtnisses sind. Auch der Vortrag von DARIUSZ GALASIŃSKI (Wolverhampton) basierte auf lebensgeschichtlichen Interviews, die daraufhin analysiert wurden, wie die Zeit der Zwangsarbeit individuell erinnert wurde. Galasiński betonte – was nicht unbedingt neu ist –, dass die biografischen Narrative kontextabhängig sind und eine Vielzahl von Elementen und Bewältigungs- bzw. Darstellungsstrategien vom Betonen von Leiden über das Insistieren auf der eigenen Akteurs- bzw. Subjektstellung hin zum aktiven Vergessen enthalten. Problematisch erscheint es, dass die Bedeutung dieser – teilweise anrührenden – Geschichten rein in ihnen selbst liegen soll; es wäre vielmehr zu wünschen, dass die Komplexität menschlichen Lebens und menschlicher Erfahrung systematisch in die historiografische Analyse, in die Anlage historiografischer Arbeiten eingebunden würde. Der folgende Beitrag von PETĂR PETROV (Sofia) beschrieb anhand von Memoiren, die seit 1965 meist von Frauen veröffentlicht wurden, wie zumindest vor 1989/91 in der gegenseitigen Bezugnahme der Autorinnen eine Repräsentation von Zwangsarbeit entstand, wo das Leiden lediglich den dunkel gezeichneten Hintergrund abgab, vor dem Heldentum um so stärker aufleuchtete. Petrov ging außerdem auf die langwierigen Anerkennungsprozesse im Rahmen der Auszahlungen nach 2001 ein sowie auf die in den letzten Jahren entwickelten Deutungskonflikte zwischen NS-Opfern und Opfern des Kommunismus. Gerade hier wäre eine Diskussion um die von Pickhan – im Anschluss an Koselleck – erwähnten kollektiven (oder besser: strukturellen) Bedingungen von Erinnerung von Interesse gewesen. Hier hätte sich dann auch thematisieren lassen, in welchem Maße der pluralisierte Opferdiskurs, der in den ethnologisch inspirierten Arbeiten aufscheint, und die Auflösung des Opferbegriffs als solchem nicht bloß einer Entnationalisierung und Entpolitisierung der Forschung über Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg geschuldet sind, sondern ihrerseits wieder Teil sind eines europäischen, entpolitisierten und letztlich auch enthistorisierten Einigungsdiskurses.

In der letzten Sektion gelang der Brückenschlag zu den strukturellen Bedingungen von Erinnerung insofern, als Christoph Cornelissen eingangs darauf hinwies, dass die geringere Relevanz des Themas Zwangsarbeit im westlichen und nördlichen Europa nicht nur ihrem geringeren Umfang geschuldet war, sondern auch der Einbindung der BRD in den zunächst westeuropäischen Einigungsprozess sowie ihrem wirtschaftlichen und politischen Erfolg. ROBERT BOHN (Schleswig) beschrieb für das Reichskommissariat Norwegen ein Gebiet, das nicht als Reservoir für Arbeitskräfte genutzt wurde, sondern das im Gegenteil Zwangsarbeiter – sowjetische Kriegsgefangene, Ostarbeiter und Serben – importierte. Bohn beschrieb, wie eine Einbindung in die nationale Meistererzählung nicht nur unterblieb, sondern gleichsam behindert wurde, während gleichzeitig nichtakademische Lokalhistoriker, die erst mit der Etablierung der Alltagsgeschichte in den siebziger Jahren von der offiziellen Historiografie wahrgenommen wurden, wesentliche Vorarbeiten leisteten. PIETER LAGROU (Brüssel) versuchte abschließend eine wohldosierte Provokation, indem er die Deportation zur Zwangsarbeit mit Kategorien und Paradigmen beschrieb, die ansonsten für als „freiwillig“ konnotierte Migrationsbewegungen verwendet werden. In dieser Perspektive traten neben strukturellen und unmittelbaren Zwang auch Abenteuerlust, interkultureller Kontakt, berufliche Weiterbildung und persönliche Weiterentwicklung. Sein Ansatz, den Einsatz von Angehörigen fast aller europäischen Staaten im Deutschen Reich als Teil des Prozesses der europäischen Einigung und der Modernisierung zu sehen, rief einigen Widerspruch hervor. Er ist sicherlich dann berechtigt, wenn Modernisierung nicht, wie bei einigen Kritikern, als positiver oder, wie bei Lagrou, als neutraler Begriff verwendet wird, sondern wie in den _colonial studie_s, bei Enzo Traverso oder Wolfgang Reinhardt als ein in letzter Konsequenz äußerst brutales und Menschen vernichtendes historisches Projekt.

Die insgesamt sehr anregende Tagung gab einen umfassenden, differenzierten, mitunter zwiespältigen Einblick in den Stand der Forschung zur Zwangsarbeit während des Zweiten Weltkriegs. Sie zeigte sehr deutlich, in welcher Bandbreite Zwangsarbeit ein Thema der Geschichts-, Sozial- und Kulturwissenschaften geworden ist und hat ohne Zweifel dazu beigetragen, Umfang und Detailschärfe des inzwischen akquirierten Wissens über Zwangsarbeit in den vom Deutschen Reich besetzten und kontrollierten Regionen beigetragen. Sie zeichnete insgesamt ein Bild, in dem sich rassistische Prämissen mit (freilich nur scheinbar) unideologischen, technokratischen Lösungsversuchen des Arbeitskräftemangels überkreuzten und in dem das unterworfene Individuum komplexe Erfahrungen machte, die es in einer Vielzahl von Bewältigungsstrategien erinnert.
Sie hat gleichzeitig auch deutlich gemacht, dass die von Günter Saathoff und Claus Leggewie angesprochenen Interpretationsspielräume durchaus als Gegenstand einer Selbstreflexion der Geschichts- und Kulturwissenschaften sein könnten und sollten: Die Konferenz zeigte in der Unterschiedlichkeit des individuellen Zugriffs auf das Thema, dass die konkrete Perspektive des wissenschaftlichen Zugriffs niemals unschuldig ist, sondern im Kontext eines übergeordneten Blicks auf aktuelle Gesellschaftlichkeit verstanden werden muss. Diese Perspektive wirkt als Plädoyer für die Anerkennung einer Nation als NS-Opfer, als pluralisierte europäische Vergemeinschaftung oder als Diversifizierung und Subjektivierung von Opferdiskursen. Auf der Ebene der öffentlichen Deutung von Zwangsarbeit kündigen sich auf der einen Seite – als besondere Formen der Historisierung des Nationalsozialismus – Möglichkeiten und Notwendigkeiten einer Entpolitisierung von bislang als eindeutig betrachteten Begriffen an: Führen sie zu jener endgültigen Entlassung deutscher politischer und wirtschaftlicher Akteure aus historischer und fortdauernder materieller Verantwortung, die mit der Einrichtung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ angestrebt worden ist, oder tragen sie zu einer Integration der Geschichte des NS in eine kritische Geschichte der Moderne bei, die dann nicht 1945 oder 1989 aufhört? Ähnliche Fragen, die in der nächsten Zeit weiter untersucht werden sollten, ließen sich an die Pluralisierung öffentlicher Opferrepräsentationen und -anerkennungen knüpfen: Dienen diese Repräsentationen lediglich dazu, bislang übersehenen Opfern Gerechtigkeit zuteil zu lassen, oder dienen sie – angesichts der strukturellen Unwahrscheinlichkeit einer differenzierten Repräsentation individueller Erfahrung im öffentlichen Raum – der beliebig bleibenden Konstruktion eines opfer- und erfahrungsbezogenen Pluralitätsdiskurses, der jeden Begriff von Wahrheit individualisiert und dadurch negiert? Es wäre sicherlich zu wünschen, wenn diese und andere Fragen in künftigen Untersuchungen und Konferenzen zum Thema Zwangsarbeit behandelt werden würden; leider war für eine solche Diskussion kein Platz. Die abschließend in Kooperation mit dem Inforadio RBB gestaltete Podiumsdiskussion entsprach sicherlich dem Wunsch, den in der Tagung dokumentierten Erkenntnisstand einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Als solche funktionierte sie auch sehr gut, waren doch die Gesprächsteilnehmer/innen in zwei Tagen Konferenz ausgezeichnet auf das Thema Zwangsarbeit fokussiert. Für den wissenschaftlichen Teil der Konferenz machte diese Podiumsdiskussion den Bedarf an einer wertenden und einordnenden Diskussion zu den oben genannten Fragen jedoch nur umso deutlicher spürbar.

Konferenzübersicht:

FORUM I:

Impulsvortrag

Ulrich Herbert (Freiburg): Zwangsarbeit im 20. Jahrhundert. Begriffe, Entwicklung, Definitionen

Politik

Karsten Linne (Berlin): Struktur und Praxis der deutschen Arbeitsverwaltung im besetzten Polen und Jugoslawien 1939-1944 – ein Vergleich

Tilman Plath (Flensburg): Zwischen „Schonung“ und „Menschenjagden“ – „Arbeitseinsatzpolitik“ in den baltischen Generalbezirken des „Reichskommissariats Ostland“ 1941-1944

Organisation

Fabian Lemmes (Bochum): Arbeiten für den Besatzer zwischen Lockung und Zwang: Behör¬den, Unternehmen und der „Arbeitseinsatz“ bei der Organisation Todt in Frankreich und Italien 1940-1945

Alfons Adam (Prag): Im Wettstreit um die letzten Arbeitskräfte. Die SS, Unternehmen und weitere Akteure der Zwangsarbeit in KZ-Außenlagern auf dem Gebiet der Tschechischen Republik 1944-1945

Mario Wenzel (Berlin): Von einem System kann nicht gesprochen werden. Die Verwaltungsstrukturen der Zwangsarbeitslager für Juden im Distrikt Krakau des Generalgouvernements 1939-1944

Zwangsarbeiter

Evgenij Greben (Minsk): Arbeits- und Lebensbedingungen der Zwangsarbeiter in Belarus während des Zweiten Weltkrieges

Witold Medykowski (Jerusalem): Zwangsarbeit als ein Instrument der Verfolgung und Vernichtung im Generalgouvernement

Markus Eikel (Den Haag): Die Lokalverwaltung in der Ukraine und die Rekrutierung von Zwangsarbeitern 1941-1944

Achsenstaaten und Hilfsverwaltungen

Christian Schölzel (Berlin): Zwangsarbeit und der „Unabhängige Staat Kroatien“ 1941-1945

Viorel Achim (Bukarest): Die Zwangsarbeit der deportierten Juden und Roma für die deutsche Armee in Transnistrien

FORUM II:

Impulsvortrag

Claus Leggewie (Essen): Konflikte und Konsense der Geschichtspolitik in Europa und die Rolle des Gedenkens an die Zwangsarbeit

Erinnerung an Zwangsarbeit im östlichen Europa

Tetiana Pastushenko (Kiew): Etappen der Wiedereingliederung der ehemaligen Zwangsarbeiter in die sowjetische Gesellschaft am Beispiel der Einwohner von Kiew

Imke Hansen (Hamburg): Individuelle Erinnerung und sowjetische Gedächtniskultur. Biographische Narrative ehemaliger Zwangsarbeiter aus Belarus und der Ukraine

Dariusz Galasinski (Wolverhampton): Kinder-Zwangsarbeiter im besetzten Polen. Erfahrungen, Widerstandskraft und Diskurse der Nachkriegszeit

Petar Petrov (Sofia): Zwangsarbeit in Bulgarien 1941-1962. Erinnerung und Erinnerungspolitik im Sozialismus und Postsozialismus

Erinnerung an Zwangsarbeit in West- und Nordeuropa

Robert Bohn (Schleswig): Zwangsarbeitende im „Reichskommissariat Norwegen“ – Fakten und Erinnerung

Pieter Lagrou (Brüssel): Zwangsarbeit, Migration und sozialer Wandel in Westeuropa


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