Pharma-Marketing: Erkundungen zwischen Unternehmens- und Medizingeschichte

Pharma-Marketing: Erkundungen zwischen Unternehmens- und Medizingeschichte

Organisatoren
Gesellschaft für Unternehmensgeschichte, Frankfurt am Main
Ort
Basel
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.03.2012 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Heiko Braun, Institut für Geschichtswissenschaft, Abteilung Verfassungs-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Am 23. März 2012 fand in den Räumen des Schweizerischen Wirtschaftsarchivs in Basel die sechste Sitzung des Arbeitskreises Marketinggeschichte der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte statt, die sich der Geschichte des Pharma-Marketing als „branchenspezifisches Spezialmarketing“1 widmete. Im Sinne des interdisziplinären Ansatzes des Arbeitskreises stand die Veranstaltung unter dem Titel „Pharma-Marketing: Erkundungen zwischen Unternehmens- und Medizingeschichte“. Sowohl in der Unternehmensgeschichte als auch in der Medizin- und Pharmaziegeschichte steht die Erforschung der Pharma-Marketinggeschichte bis dato noch am Anfang.

Einleitend verdeutliche PAUL ERKER (München) die Besonderheiten des Pharma-Marketing, das sich mit der Vermarktung eines hochkomplexen Produktes, dem Arzneimittel, auf einem staatlich regulierten Markt beschäftigt. Während in der Entstehungsphase der modernen Pharmaindustrie seit Mitte des 19. Jahrhunderts durch die Arzneimittelhersteller verkauft wurde, was produziert werden konnte, konstatierte Erker für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Phase des Umbruchs, in der die Pharmaproduzenten dazu übergingen, Marketingüberlegungen bereits im Forschungs- und Entwicklungsstadium eines neuen Produkts anzustellen. Abschließend stellte Erker die Frage nach Kontinuitäten und Brüchen in der Geschichte des Pharma-Marketing und ließ offen, inwieweit eine plausible Periodisierung der Entwicklung des Marketing in der pharmazeutischen Industrie möglich ist.

In seinem anschließenden Vortrag zum Thema „Verschiedene Arten des ‚Marketing‘: Das Beispiel Salvarsan“ referierte AXEL HÜNTELMANN (Mainz) am Beispiel des von Paul Ehrlich synthetisierten Arzneimittels Salvarsan, das der ursächlichen Behandlung von Syphilis diente, über die Kommunikationspolitik der pharmazeutischen Industrie am Anfang des 20. Jahrhunderts. Hüntelmann beschrieb das 1910 durch die Farbwerke Hoechst auf den Markt gebrachte Salvarsan als „Meilenstein der Medizin“ und zugleich als „Grundlage der modernen Pharmazie“, da es auf einem völlig neuen Entwicklungsprinzip beruhte und nicht nur Symptome einer Krankheit lindern, sondern eine Infektionskrankheit, die „Volksseuche“ Syphilis, tatsächlich heilen konnte. Die Markteinführung des Präparats wurde entsprechend breit in der Öffentlichkeit diskutiert. Die Nachfrage nach dem neuen Arzneimittel war so groß, dass Hoechst mit Produktionsengpässen zu kämpfen hatte. Hüntelmann verdeutlichte, dass der wirtschaftliche Erfolg des Salvarsans nicht zuletzt durch eine zielgerichtete wissenschaftlich orientierte Kommunikationspolitik erreicht werden konnte, die auf die Publikation klinischer Studien in wichtigen medizinischen Fachzeitschriften setzte. Als nützlich erwiesen sich hier die Kontakte Paul Ehrlichs zu den Herausgebern dieser Zeitschriften. Zahlreiche wissenschaftliche Studien namhafter Ärzte, die die Wirksamkeit des Salvarsans belegten und deren Ergebnisse auch in der Tagespresse umfassend erörtert wurden, förderten nachhaltig das Vertrauen von Ärzten und Patienten in das neue Arzneimittel. Indes konstatierte Hüntelmann auch, dass die Publikationen durchaus kontrovers diskutiert wurden. Den Urhebern der veröffentlichten Studien wurden kommerzielle Interessen nachgesagt. Das Salvarsan wurde gar als Betrug der pharmazeutischen Industrie gebrandmarkt. In dieser Kontroverse um die ökonomischen Ziele der Arzneimittelhersteller manifestierte sich implizit bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Konflikt, der das Verhältnis von (Fach-)Öffentlichkeit und Pharmaindustrie bis heute prägt.

Diesem latenten Dauerkonflikt, der durch diverse Arzneimittelskandale, insbesondere den Contergan-Fall2 in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nachhaltig manifest wurde, widmete sich NILS KESSEL (Strasbourg) in seinem Vortrag über „Gift und Arznei? Skandale und Arzneimittelmarketing in historischer Perspektive“, in dem er erste Teilergebnisse seiner Dissertation über den Arzneimittelkonsum in Deutschland und Frankreich in den 1950er bis 1980er Jahren präsentierte. Am Beispiel des „sanften Durchschlafmittels“ Doriden des schweizerischen Pharmaherstellers Ciba, das 1955 auf den Markt kam, zeigte Kessel, wie sich das unternehmerische Pharma-Marketing durch den Contergan-Skandal veränderte. Durch eine auf Sachlichkeit und vermeintlich objektiven Informationen beruhende zentralisierte Kommunikationspolitik gelang es der Ciba, Doriden erfolgreich auf den wichtigsten internationalen Arzneimittelmärkten zu etablieren. Ziel der Kommunikationspolitik war es, eine Erstverschreibung von Doriden durch den Arzt zu erreichen und den weiteren Konsum des nicht rezeptpflichtigen Medikaments unmittelbar beim Endverbraucher zu generieren. Insbesondere in Deutschland geriet Doriden jedoch rasch nach der Einführung von Contergan durch die Firma Grünenthal 1957 wirtschaftlich unter Druck – nicht zuletzt aufgrund negativer Berichte über das Abhängigkeitspotenzial des Doridens. Wenngleich die Ciba versuchte, das Abhängigkeitsproblem kleinzureden und die Doriden-Süchtigen als für Abhängigkeiten besonders anfällige „Psychopathen“ diffamierte, war es dem Unternehmen nicht mehr möglich, an alte Umsatzerfolge anzuknüpfen. Der Contergan-Skandal von 1961 änderte schließlich die Marktsituation für Doriden, das einen ähnlichen Wirkstoff wie das Contergan enthielt, grundlegend. Trotz verstärkter kommunikationspolitischer Anstrengungen der Ciba, die vor allem auf die Sicherheit und die Unterschiede des Doridens zum Contergan setzten, hielt der wirtschaftliche Niedergang des Doridens an. Infolge des Contergan-Skandals, so das Fazit von Kessel, änderte sich die Risikowahrnehmung der Öffentlichkeit im Hinblick auf die Nebenwirkungen von Arzneimitteln grundlegend, sodass sich die Pharmahersteller und somit auch die Ciba dazu gezwungen sahen, eine intensivere PR- und Lobbyarbeit zu forcieren, um verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen und den verstärkten Regulierungsbestrebungen des Staates entgegenzuwirken.

Auch LUCIE GERBER (Paris) setzte sich in ihrem englischsprachigen Vortrag zum Thema „Marketing Loops. The development of psychopharmacological screening at Geigy 1957 – 1970“ mit der Arzneimittelgruppe der Psychopharmaka und hier speziell den Antidepressiva im Sortiment des Baseler Pharmaproduzenten Geigy auseinander. Gerber verdeutlichte eindrucksvoll die Marketing-Probleme von Geigy bei der Markteinführung des ersten modernen Arzneimittels zur Behandlung von Depressionen, dem Imipramin, das unter dem Handelsnamen Tofranil vertrieben wurde. Es waren vor allem zwei Probleme, vor denen Geigy bei der Neueinführung des Tofranils 1957 stand. Erstens verfügte das Unternehmen über keine Erfahrungen im Bereich der Entwicklung und Vermarktung von Psychopharmaka im Allgemeinen. Zweitens offenbarte das Antidepressivum Tofranil im Besonderen ein bis heute bestehendes grundlegendes Problem der pharmazeutischen Forschung: dem Nachweis eines Zusammenhangs zwischen Medikation und Besserung des klinischen Krankheitsbilds – nicht zuletzt bei einer diffusen Erkrankung wie der Depression, für deren Diagnose in den 1950er- und 1960er-Jahren noch keine einheitlichen Richtlinien und Symptomdefinitionen vorlagen. Dennoch schaffte es Geigy durch die Systematisierung seines pharmakologischen Screenings, den Austausch zwischen Labor, Klinik und Markt, das Indikationsgebiet des Tofranil zu präzisieren und dem Wirkstoff Imipramin damit zu einem langfristigen wirtschaftlichen Erfolg zu verhelfen. Gerbers Ausführungen zeigten zugleich, dass man bei Geigy im Fall des Tofranil noch sehr stark vom Produkt und weniger vom Markt aus dachte, denn dieser musste durch ein strategisches Screening überhaupt erst definiert werden.

In seinem anschließenden Vortrag widmete sich ROMAN ROSSFELD (Zürich) aus unternehmens- und kulturhistorischer Perspektive dem traditionell wichtigsten Marketinginstrument der pharmazeutischen Industrie: dem Ärztebesucher bzw. Pharmareferenten. Unter dem Titel „'Ein offenes Ohr ist ein guter Freund'. Die Ciba-Ärztebesucher in den 1950er- und 1960er-Jahren“ analysierte Rossfeld die herausragende Bedeutung der Ärztebesucher für das Pharma-Marketing der Ciba. Der Ärztebesucher hatte nicht nur eine klassisch kommunikationspolitische Funktion, indem er das hochkomplexe Produkt des Arzneimittels im persönlichen Gespräch mit dem Arzt, als wichtigstem Konsumlenker auf dem Arzneimittelmarkt, erklärte und bewarb, sondern war zugleich in der Rolle des Marktforschers und Distributors. Durch die mitunter engen und langjährigen Kontakte der Pharmareferenten mit den Ärzten entstand, wie Rossfeld bereits im Titel seines Vortrags unterstrich, ein fast freundschaftliches Verhältnis zwischen Pharmavertreter und Arzt. Durch eine systematische fachliche und verkaufstechnische Ausbildung wurden die Ärztebesucher der Ciba auf ihre späteren Aufgaben vorbereitet. Schon in den 1950er-Jahren war die Ausbildung in hohem Maße professionalisiert und orientierte sich stark an den Ausbildungsmaßnahmen für Pharmareferenten durch US-amerikansiche Arzneimittelhersteller. Als „Frontsoldat“ war es Aufgabe des Ciba-Ärztebesuchers, in Anbetracht der ausufernden Werbemaßnahmen der pharmazeutischen Industrie seit den 1950er-Jahren den „Kampf um Aufmerksamkeit“ beim Arzt für das eigene Unternehmen zu gewinnen. Das stetig wachsende Produktportfolio der Ciba, so Rossfeld, führte schließlich in den 1960er-Jahren notwendigerweise zu einer Systematisierung und Differenzierung der Gesprächsführung durch den Pharmavertreter beim Arzt. Nur so konnte es den Ciba-Ärztebesuchern gelingen, die knappe Zeit des Arztes effektiv zu nutzen und die durch die Firmenzentrale vorgegebenen Marketingziele zu erreichen.

Wie Rossfeld problematisierte auch ULRIKE THOMS (Berlin) in ihrem Vortrag zum Thema „Fachmann oder Buhmann? Der Pharmareferent als Marketinginstrument im 20. Jahrhundert“ die Funktion und Bedeutung des Ärztebesuchers. Die Ärztebesucher, die bis in die 1970er-Jahre in der Regel selbst studierte Pharmakologen, Chemiker oder Mediziner waren, informierten nicht nur die Ärzte, sondern versorgten gleichzeitig die Marketingabteilungen ihrer Unternehmen mit Informationen über das Verschreibungsverhalten von Ärzten und die Ausbietung neuer Konkurrenzprodukte, sodass sie nicht nur Kommunikationspolitiker, sondern auch Marktforscher waren. Im Gegensatz zu Rossfeld betont Thoms die Bedeutung der Pharmareferenten für die Akquise wissenschaftlicher Studien über zu vermarktende Arzneimittel bei namhaften Ärzten und Klinikern, die den Ausgangspunkt für ein wissenschaftlich fundiertes Pharma-Marketing bildeten. Pharmareferenten sind bis heute eine wichtige Quelle für Informationen über neue Arzneimittel. Allerdings ist das Image der Ärztebesucher heute eher negativ. Kritik an ihnen kam schon in den 1930ern auf und nahm in der Nachkriegszeit durch einen ungeheuren Ausbau der Ärztebesucherstäbe zu. Die Firmen sahen sich zu diesem Ausbau vor allem durch die internationale Konkurrenz gezwungen. Gleichzeitig nahm die wissenschaftliche Qualifikation der Pharmareferenten ab, wogegen sie nun deutlich stärker psychologisch geschult wurden. Die Vorgaben für das Gespräch beim Arzt durch die Firmenzentralen nahmen ebenso zu wie die unternehmerische Kontrolle der Erfolge des Marketings, wie er sich in den Verkaufszahlen äußerte. Für die Phase seit dem Ende des 20. Jahrhunderts konstatierte Thoms indes eine Entprofessionalisierung und anhaltende Krise des Pharmareferenten, die auf den Kostendruck auf die Unternehmen, die gewachsene Kritik am Pharma-Marketing sowie die Konkurrenz anderer Marketingmethoden zurückzuführen seien.

In der Abschlussdiskussion wurde deutlich, dass es für den Unternehmenshistoriker bei der Beschäftigung mit dem Problemkomplex Pharma-Marketing ausgesprochen gewinnbringend sein kann, den Austausch mit der Medizingeschichte, die sich ihrerseits bereits seit einigen Jahren für sozial- und kulturhistorische Ansätze öffnet 3, zu suchen. Denn nur ein grundlegendes Verständnis des medizinischen und pharmakologischen Fortschritts seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts ermöglicht es, die vielschichtige Entwicklung des Pharma-Marketing umfassend zu erforschen.

Konferenzübersicht:

Irene Amstutz (Schweizerisches Wirtschaftsarchiv): Begrüßung

Paul Erker (Ludwig-Maximilians-Universität München): Begrüßung und thematische Einleitung

Axel Hüntelmann (Universität Bielefeld): Verschiedene Arten des „Marketing“: Das Beispiel Salvarsan

Nils Kessel (Universität Strasbourg): Gift und Arznei? Skandale und Arzneimittelmarketing in historischer Perspektive

Lucie Gerber (Paris): Martketing Loops. The development of psychopharmacological screening at Geigy, 1957–1970

Roman Rossfeld (Universität Zürich): „Ein offenes Ohr ist ein guter Freund”. Die Ciba-Ärztebesucher in den 1950er und 60er Jahren

Ulrike Thoms (Charité Berlin): Fachmann oder Buhmann? Der Pharmareferent als Marketinginstrument im 20. Jahrhundert

Anmerkungen:
1 Walter Gehrig: Pharma-Marketing. Instrumente, Organisation und Methoden. National und International, 2. Auflage, Zürich 1992, S. 55.
2 Beate Kirk: Der Contergan-Fall: eine unvermeidbare Arzneimittelkatastrophe? Zur Geschichte des Arzneistoffs Thalidomid (Greifswalder Schriften zur Geschichte der Pharmazie und Sozialpharmazie 1), Stuttgart 1999.
3 Siehe beispielhaft Nicholas Eschenbruch, Viola Balz, Ulrike Klöppel, Marion Hulverscheidt (Hrsg.): Arzneimittel des 20. Jahrhunderts. Historische Skizzen von Lebertran bis Contergan, Bielefeld 2009.


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