HT 2014: Kinder des Krieges als Mittler zwischen Verlierern und Gewinnern in europäischen Nachkriegsgesellschaften

HT 2014: Kinder des Krieges als Mittler zwischen Verlierern und Gewinnern in europäischen Nachkriegsgesellschaften

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Göttingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.09.2014 - 26.09.2014
Url der Konferenzwebsite
Von
Christine Krüger, Historisches Institut, Justus-Liebig-Universität Gießen

Das Thema der „Kriegskinder“ ist in den letzten Jahren in den Medien wie auch in der Wissenschaft auf große Aufmerksamkeit gestoßen. Oft wird dabei, vor allem im medialen Diskurs, der Opferstatus der Kinder hervorgehoben. In dieser Sektion ging es demgegenüber darum, die besondere Rolle von Kriegswaisen und Besatzungskindern als „Mittler zwischen Verlierern und Gewinnern“ zu beleuchten. So erinnerte die Existenz dieser Kinder etwa in Westdeutschland nicht nur an die Kriegsniederlage, sondern sie konnte im Falle der Besatzungskinder auch dazu herausfordern, mit den Siegern in Kommunikation zu treten. Gleichzeitig machte die Sektion auch deutlich, wie unterschiedlich die Erfahrungen der Kriegskinder national wie international (und hier vor allem im Ost-West-Vergleich) ausfallen konnten. Auch auf diese Weise korrigierte sie die zumeist stark verallgemeinernde Konzentration auf die Opferrolle der Kinder.

Der Vortrag von LU SEEGERS (Hamburg), der Organisatorin des Panels, behandelte in deutsch-deutsch vergleichender Perspektive die etwa 2,5 Mio. die deutschen Kriegswaisen beziehungsweise kriegsbedingten Halbwaisen nach 1945. Die Referentin plädierte dafür, die bis heute vor allem in den Medien vorherrschende generalisierende Sicht auf die Kriegswaisen durch eine multiperspektivisch differenzierende Betrachtungsweise abzulösen. Außerdem gelte es, die soziale Lage der Kriegswaisen, ihre öffentliche Wahrnehmung und lebensgeschichtliche Deutungen miteinander in Beziehung zu setzten. Dieser Zielsetzung entsprechend widmete sich der erste Teil des Vortrags zunächst kurz der sozialen Lage der Kriegerwitwen und ihrer Kinder, um dann vor allem die medialen Diskurse über Kriegswaisenschaft und Vaterlosigkeit in den Blick zu nehmen.

In beiden Teilen Deutschlands war die wirtschaftliche Situation von Kriegerwitwen schwierig, da sie nur geringe beziehungsweise in den ersten Nachkriegsjahren im Westen und in der DDR zum Teil auch dauerhaft gar keine Rentenzahlungen erhielten. Ebenso wie die Art und Höhe der staatlichen Unterstützungsleistungen in beiden deutschen Staaten divergierten, unterschieden sich auch die mediale Darstellung und Diskussion von Kriegerwitwen und Kriegswaisen: In der DDR wurde ihnen so gut wie keine öffentliche Aufmerksamkeit geschenkt. In Westdeutschland hingegen war das mediale Bild der Kriegerfamilien vielschichtig: Einerseits wurde den Kriegerfamilien ein Opferstatus zugeschrieben, andererseits galten sie als unvollständig und immer wieder wurden Gefahren beschworen, welche die Vaterlosigkeit für die Entwicklung der Kinder ausübe. Seit Mitte der 1950er-Jahre rückte dann auch die ökonomische Lage der Kriegshinterbliebenen in den Fokus der Öffentlichkeit. In den 1960er-Jahren stießen die Kriegerwitwen zunehmend auf Akzeptanz.

Der zweite Teil des Vortrags nahm das Thema vor dem Hintergrund dieser Befunde aus einer erfahrungsgeschichtlichen Perspektive in den Blick. Grundlage für diesen Teil der Untersuchung waren Interviews mit dreißig Männern und Frauen verschiedener sozialer und konfessioneller Herkunft in Ost- und Westdeutschland, die als Kriegswaisen aufgewachsen waren. Vor allem in Westdeutschland fühlten sich die Kriegswaisen einem hohen sozialen Druck ausgesetzt, da sie unter einem von vielen Seiten an sie herangetragenen „Versagensverdikt“ lebten. Hinzu kam in beiden Teilen Deutschlands oftmals das Gefühl, der Mutter eine Art Wiedergutmachung leisten zu müssen. Diesen doppelten Erwartungsdruck verspürten die Kinder, und hier offenbar vor allem die Mädchen, in Bezug auf ihre schulischen Leistungen sowie auch später bei der Berufs- und Partnerwahl.

MAREN RÖGER (Warschau) widmete sich im folgenden Vortrag den sogenannten „Besatzungskindern“ in Polen. Intime Beziehungen zwischen deutschen Besatzungssoldaten beziehungsweise -beamten und Polinnen waren in Polen wie allgemein in osteuropäischen Ländern lange Zeit ein Tabuthema. Daher ist auch das Thema der Besatzungskinder für Osteuropa – anders als für Nord- und Westeuropa – bisher wissenschaftlich kaum erforscht. Auch die Quellenlage ist deutlich schlechter als für westeuropäische Länder, da die polnischen Frauen Briefe und Fotos der deutschen Männer in der Regel vernichteten. Auch in diesem Vortrag basierten die Untersuchungsergebnisse zur erfahrungsgeschichtlichen Dimension des Themas daher in erster Linie auf Interviews. Freilich konnten dabei nur solche Gesprächspartner gefunden und befragt werden, die bereit waren, über das gesellschaftlich immer noch problematische Thema zu sprechen.

Die Besatzungskinder waren in Polen kein Thema, das politisch viel diskutiert wurde oder den Staat zum Handeln veranlasste. Das lag wohl vor allem daran, dass ihr Schicksal angesichts der enormen administrativen Aufgaben in Folge der großen Kriegszerstörungen und der Westverschiebung des Landes nebensächlich blieb. Auch gab es offenbar gegen Frauen, die eine Beziehung zu einem deutschen Mann eingegangen waren, kaum gewalttätige Versuche der Selbstjustiz, wie sie in Westeuropa nach dem Ende der deutschen Besatzung teilweise verbreitet vorkamen. Dennoch bemühten sich Mütter von Besatzungskindern in Polen vielfach darum, die Herkunft der Kinder den Behörden zu verheimlichen, sofern dies möglich war. Vor allem fürchteten sie, dass ihnen die Kinder weggenommen werden könnten. Da im Krieg und aufgrund der großen Bevölkerungsbewegungen in Polen der Verlust von Identifikationspapieren keine Seltenheit war, gelang es einigen Müttern, einen fiktiven Vater für die Kinder in die neuen Papiere eintragen zu lassen. Mütter, die im Zuge der Westverschiebung ihren Wohnort gewechselt hatten, konnten es auch sonst im Alltag vielfach verheimlichen, dass ihre Kinder einen deutschen Vater hatten. Blieben die Mütter allerdings am Ort wohnen, an dem ihre Beziehung zu einem deutschen bekannt war, konnte dies zur Folge haben, dass die Besatzungskinder in der Schule wie auch in der Familie diskriminiert wurden. So unterschiedlich wie die Kindheitserfahrungen der Besatzungskinder ausfielen, so unterschiedlich konnte auch ihr späterer Umgang mit der Tatsache sein, einen Deutschen zum Vater zu haben. Einige empfanden dies als Belastung, die auch psychische Störungen nach sich ziehen konnte, andere hingegen konnten sich auch in positiver Weise mit ihren deutschen Vätern, die ihnen von ihren Müttern in der Regel als gute Menschen geschildert wurden, identifizieren.

Die Erfahrungen der Besatzungskinder in Deutschland, deren Zahl auf ca. 400.000 geschätzt wird, war das Thema des anschließenden Vortrags von SILKE SATJUKOW (Magdeburg). Sie machte zunächst auf den unterschiedlichen Umgang mit den Kindern in den verschiedenen Besatzungszonen aufmerksam: Im öffentlichen Diskurs Ostdeutschlands wurden die Kinder – ähnlich wie in Polen – beschwiegen, weil die hohe Anzahl an Vergewaltigungen durch russische Soldaten nicht thematisiert werden sollte. In den westlichen Besatzungszonen wurde das Schicksal der Kinder zwar öffentlich problematisiert, dennoch bemühten sich auch die britische und die amerikanische Besatzungsmacht darum, eventuellen Versorgungsansprüchen entgegenzuwirken. Eine Ausnahme bildete hier Frankreich, das sich darum bemühte, die Kinder ins eigene Land zu holen, um sie dort zur Adoption freizugeben, worauf sich allerdings nur etwa zehn Prozent der Mütter einließen.

In der deutschen Öffentlichkeit, so legte Satjukow weiter dar, wurden die Besatzungskinder allgemein bis in die 1960er-Jahre hinein nicht als Deutsche anerkannt und man ging davon, dass sie später in die Heimatländer ihrer Väter ziehen würden. Die frühen 1950er-Jahre, also die Zeit, als die Kinder in die Schule und damit gewissermaßen in das öffentliche Leben eintraten, bedeutete für viele der Kinder, die nun oftmals Diskriminierungen erlitten, lebensgeschichtlich einen Einschnitt. Für die gleiche Zeit machte die Referentin auch im öffentlichen Diskurs eine neue Phase aus. In Westdeutschland rücken die Kinder verstärkt in die Aufmerksamkeit der Medien, wobei das spezielle Interesse oftmals den ca. 5.000 dunkelhäutigen Kindern galt. Die Bemühungen darum, diese Kinder in einem positiven Licht zu präsentieren, deutet Satjukow als eine Art „Sühneversuch“, mit dem gezeigt werden sollte, dass die Deutschen aus der Vergangenheit gelernt hätten. Allgemein galten die Kinder nun als in die deutsche Gesellschaft integriert. Zahlreiche Belege für Diskriminierungen, denen viele Besatzungskinder vor allem in Konflikt- und Krisensituationen weiterhin ausgesetzt waren, widerlegen dieses Bild allerdings.

Erst Ende der 1950er-Jahre wurden die Kinder in der Öffentlichkeit und offiziell als deutsche Staatsbürger anerkannt. Die 1960er-Jahre waren auch die Zeit, in welcher viele Besatzungskinder sich offen zu ihren Vätern zu bekennen begannen. Das Gefühl, an der oft schwierigen sozialen Stellung ihrer Mütter Schuld zu sein oder durch ein musterhaftes Verhalten für deren als moralischer Fehltritt oder gar als Sünde betrachtete Beziehung zu einem Besatzungssoldaten sühnen zu müssen, bestimmte der Referentin zufolge für viele der Besatzungskinder allerdings auch darüber hinaus noch das Leben.

In einem kurzen Kommentar ging LUTZ NIETHAMMER (Jena) vor allem auf die Ursachen für das seit etwa zwei Jahrzehnten verstärkte geschichtswissenschaftliche Interesse am Thema der Generation der Kriegskinder ein. Hier schrieb er biographischen Gründen der Historiker aus der alternden Kriegskindergeneration eine wichtige Rolle zu. Die Erforschung des Themas sei, so reflektierte er weiter, durch eine für die Zeitgeschichte sonst ungewöhnliche methodische Offenheit gekennzeichnet, die allerdings auch spezielle Herausforderungen mit sich bringe. Notwendig sei der Rückgriff auf die Oral History, die Interpretation der aus ihr gewonnenen Ergebnisse müsse allerdings stets in weitere, anders rekonstruierte Diskursfelder eingeordnet werden. Abschließend forderte er noch dazu auf, der Frage zu stellen, wie die Bedeutung des Themas zu vermessen sei. Dessen derzeitige Konjunktur lasse sich durch seine besondere Dramatik, aber auch durch ein besonderes Aufmerksamkeitspotential erklären.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Lu Seegers (Forschungsstelle für Zeitgeschichte, Hamburg)

Lu Seegers (Forschungsstelle für Zeitgeschichte, Hamburg), Vaterlose Kriegswaisen in der Bundesrepublik und in der DDR

Maren Röger (Deutsches Historisches Institut, Warschau), „Wehrmachtskinder“ in Polen

Silke Satjukow (Universität Magdeburg), „Besatzungskinder“ in beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften

Lutz Niethammer (Universität Jena), Moderation und Kommentar