Wiedergewonnene Geschichte. Zur Aneignung von Vergangenheit in den Zwischenräumen Mitteleuropas (19.-20. Jahrhundert)

Wiedergewonnene Geschichte. Zur Aneignung von Vergangenheit in den Zwischenräumen Mitteleuropas (19.-20. Jahrhundert)

Organisatoren
Academia Baltica; Deutsches Polen-Institut; Circe - Centre interdisciplinaire de recherches centre-européennes
Ort
Lübeck
Land
Deutschland
Vom - Bis
29.10.2004 - 31.10.2004
Url der Konferenzwebsite
Von
Juliane Haubold, Centre Marc Bloch, Humboldt-Universität zu Berlin

Vom 29. bis 31. Oktober widmete sich eine Tagung in der Academia Baltica der Frage, wie die Bewohner der Zwischenräume Mittelost- wie auch Mittelwesteuropas mit der Vergangenheit ihrer Regionen im 19. und 20. Jahrhundert umgingen bzw. wie sie heute mit ihr umgehen. Die Fragestellung der Wiedergewonnenen Geschichte – parallel zum Ausdruck der Wiedergewonnen Gebiete, eine der propagandistischen Bezeichnungen für die neuen Westgebiete in Polen nach 1945 – erwies sich als sehr fruchtbar. Zwar ist es die Hauptaufgabe der Geschichtsschreibung in jeder Zeit, so scheint mir, Geschichte dem Vergessen zu entreißen bzw. neu zu interpretieren, aber der Schwerpunkt lag in Lübeck auf den Wiederaneignungsprozessen, durch die die aus der Geschichtsschreibung und Erzählung der Nationalstaaten als fremd und deswegen unpassend gestrichene Geschichte wieder ins Bewusstsein gerufen wird. Dabei stand nicht nur die bekannte, staatlich angeordnete Vergangenheitsverdrängung in den östlichen Zwischenräumen Europas bis 1989, sondern auch das gesellschaftliche Vergessen unliebsamer bzw. widersprüchlicher Geschichte im Westen Europas im Mittelpunkt des Interesses.

Die Tagung verlief in einer sehr diskussionsfreudigen, offenen und fruchtbaren Atmosphäre. Aufgrund der Vielzahl der Vortragsthemen kann im Folgenden nur ein sehr grober Überblick über die Veranstaltung gegeben werden. Die Tagungsbeiträge werden jedoch vom Deutschen Poleninstitut veröffentlicht.

In vier thematischen Abschnitten wurden die Prozesse des Umgangs mit der Vergangenheit analysiert. Das erste Panel beschäftigte sich mit den Orten der politischen Auseinandersetzung über Identität: den Städten. Thomas Serrier (Paris/Berlin) betonte am Beispiel Posen/Straßburg die Bedeutung der politischen Machtverhältnisse (der deutschen zu den polnischen bzw. französischen Bewohnern) sowohl für die Geschichtsschreibung als auch für die Gestaltung der symbolischen Schicht der Städte, d.h. der Gesamtheit sowohl der architekonischen und erinnerungspolitischen Gestaltung der Städte durch die Errichtung von Denkmälern, Gedenktafeln, der Bennenung von Straßen und Plätzen sowie ihrer Interpretation und Bedeutungsaufladung bei Veranstaltungen, in Medien und Unterricht. Die konkurrierenden Seiten wollten die Städte jeweils in ihrer nationalen Sicht darstellen und gestalten, konnten das jedoch aufgrund der Machtverteilung nur sehr unterschiedlich durchsetzten. Auch Jörg Hackmann (Greifswald) schilderte den Zusammenhang zwischen der Legitimierung von Machtverhältnissen und der städtebaulichen Gestaltung am Beispiel des Rathausplatzes in Riga und seinen Veränderungen im 20. Jahrhundert. Die psychologischen Folgen ideologischer Veränderung der symbolischen Schicht einer Stadt stellte Jacek Grebowiec, (Breslau) in seinem Referat über die Veränderung der Ikonosphäre Breslaus in den Vordergrund. Anschließend gab Barbara Ewa Bossak (Warschau) einen Einblick in den eigen- und selbstständigen Umgang der Bewohner Danzigs mit der Vergangenheit ihrer Stadt und zeigte die Widerständigkeit der privaten Erzählungen gegenüber den staatlichen Vorschriften auf. Jan Musekamp (Frankfurt/Oder) schließlich erläuterte am Beispiel Szczecins, dass auch in der Neuerfindung einer polnischen Stadt nicht nur die ideologischen Vorgaben des Staates, sondern auch wirtschaftliche Notwendigkeiten und städtebauliche Planungen den Stellenwert von Kulturdenkmälern bestimmten.

In dieser Zusammenstellung ergab das erste Panel logischerweise die enge Verbindung von Machtverhältnissen (in den Nationalitätenverhältnissen, aber auch innerhalb einer national homogenen Gesellschaft) und dem öffentlichen Umgang und der Darstellung von Geschichte. Neu war jedoch, dass bis ins Detail die Mechanismen und Folgen der Geschichtsdarstellung analysiert wurden und so zutage trat, dass Geschichte nicht nur eine Waffe (E. Wolfrum), sondern auch ein Instrument ist, um Territorien zu beanspruchen und sich heimisch zu machen.

Die Ausweitung auf die Regionen in der zweiten Sektion arbeitete noch sehr viel stärker die Probleme im aktuellen Um- und Zugang der Menschen mit der Vergangenheit ihrer Region heraus. Sowohl für das Elsass, über das Christiane Kohser-Spohn (Braunschweig), sprach, als auch in noch radikalerem Maße für das Königsberger Gebiet (Alexander Sologubov, Kaliningrad) kann von einer enteigneten und beschwiegenen Geschichte gesprochen werden. Während das Elsass lange Zeit auch nach 1945 alle der dominierenden französischen Heldengeschichtsschreibung (Résistance) widersprechenden Erfahrungen (Zwangseinziehung, Ermordung der jüdischen Elsässer) nur im Beschweigen aushalten konnte und erst seit den achtziger Jahren auch diese Erfahrungen öffentlich zu bearbeiten beginnt, so leiden das Kaliningrader Gebiet und seine Bewohner immer noch unter der verschwundenen Stadt, Königsberg, auf deren Trümmern es erbaut wurde, und deren frühere Existenz auch heute kaum sichtbar wird.

Mit der Konstruktion der Erinnerung und des Vergessens im Elsass seit 1945 beschäftigte sich auch der Text von Freddy Raphael und Geneviève Herberich-Marx (Straßburg).1 Ihre Hauptthese war die der schöpferischen, aber schmerzhaften elsässisch-jüdischen Geschichte, die nach 1945 lange Zeit verdrängt worden ist, was z.B. in der Vernachlässigung der ehemaligen Dorfsynagogen und Friedhöfe zu erkennen ist. Erst seit den achtziger Jahren erleben wir eine Renaissance der Erinnerung, in der auch die jüdische Kultur des Elsass im Zeichen einer globalisierten Erinnerungskultur als elsässisches Erbe anerkannt wird. Auch das westeuropäische Zwischengebiet „Elsass“ bietet also großes Potential zur Wiedergewinnung von Geschichte. Anschließend betonte François Guesnet (Potsdam), dass die historischen Regionen Mitteleuropas in der jüdischen Gedächtniskultur im 19. und 20. Jahrhundert nur eine untergeordnete Rolle spielen, ganz im Gegensatz zum lokalen Bezug, der auch nach der Vertreibung und der Shoah noch in der Erinnerung und Identifikation prägend ist.

Zwei weitere Referate in der Sektion Regionen beschäftigten sich mit den heutigen Menschen als Akteuren der Geschichtsaneignung. Wie Menschen mit den Überresten lange verschwiegener und daher heute immer noch fremder Vergangenheit umgehen, schilderte der Anthropologe Tomasz Rakowski (Warschau) am Beispiel der Waldenburger Region in Polen. Hier treibt die Arbeitslosigkeit die Menschen dazu, in dem ehemaligen Kohlegebiet eine Sammeltätigkeit zwischen Schrottverkauf und musealer Begeisterung zu betreiben. Ihre Fundstücke werden interessanterweise auch dann zu einem Wertgegenstand, wenn sie sich nicht verkaufen lassen, sondern in der eigenen Wohnung aufbewahrt werden. Mit Alltagsgegenständen beschäftigte sich auch Dorota Bazun (Grünberg), die die sich generationell verändernde Haltung zum deutschen Kulturerbe am Beispiel von in polnischen Familien weiter benutzten und vererbten, aus der deutschen Zeit stammenden, Gegenständen nachzeichnete. Aus beiden Vorträgen wurde deutlich, dass heute die deutsche Vergangenheit für die Bewohner der Westgebiete Polens eine Tatsache ist, mit der sie auch in positiver Hinsicht ihre eigene Identität kreieren. Die eigensinnige Aneignung von staatlich verpönter Geschichte betonte auch Herle Forbrich (Berlin) in ihrem Kurzreferat über den Umgang mit den Gutshäusern in der DDR, Polen und Estland, die in den sozialistischen Staaten als widerspenstiges Erbe aus feudaler Zeit umgenutzt werden mussten.

Einer Frage, die vor allem im dritten Panel stärker noch diskutiert wurde, die nach der Beziehung zwischen nationaler und regionaler Identität, nahm Katarzyna Stoklosa (Dresden) schon vorweg. Sie verglich die Identität der Bewohner in der deutsch-polnischen und der ukrainisch-slowakischen Grenzregion, wobei zu erkennen war, dass an der deutsch-polnischen Grenze kein Platz für eine regionale Identität ist, weil die nationalen Zuschreibungen zu stark sind; ganz im Gegenteil zur ukrainisch-slowakischen Grenzregion, in der die regionale Selbstbeschreibung überwiegt. In dieser Betrachtung erschien die Region als ein Gegengewicht zur sonst dominierenden nationalen Identität.

Auf diese Spannung zwischen dem identifikatorischen Anspruch der Region und der Nation wurde in den Vorträgen des dritten Panels eingegangen. Mit dem Übergang von einem doppelten hin zu einem geteilten Gedächtnis beschäftigte sich der Vortrag Etienne François’ (Berlin) zur „Gedenkregion“ Lothringen im 19./20. Jahrhundert. Die Widersprüchlichkeit, aber auch die gegenseitige Verflechtung nationaler und regionaler Erzählungen ergab sich auch aus dem Vergleich, den Ryszard Kaczmarek (Kattowitz) zwischen dem Regionalismus in Oberschlesien und dem im Elsass 1871-1945 herausarbeitete. Der (versuchten) nationalen Gestaltung einer gesamten Region ging Christian Pletzing (Lübeck) anhand der Politisierung der Ortsnamen in den preußischen Ostprovinzen im 19. Jahrhundert nach. Seine Ausführungen wurden durch den Vortrag Stefan Dyroffs (Frankfurt/O.) über die Provinz Posen (bzw. ab 1919 die Grenzmark Posen-Westpreußen) 1871-1939 ergänzt. Die nationale Deutung von Geschichte in der baltischen Literatur referierte eingehend und überzeugend Arnim von Ungern-Sternberg (Frankfurt/M.), der die literarischen Muster der Vergangenheitsbearbeitung analysierte und ihre Wirkungsmächtigkeit gegenüber dem Erleben herausstellte. Der Deutungskampf in der Literatur bzw. um Literatur war dann Thema von Marek Rajch (Posen), der über polnische Literatur und preußische Zensur in der Provinz Posen 1848-1914 sprach. Peter Oliver Loew (Darmstadt) erhellte in seinem Vortrag den Zusammenhang von regionaler Geschichte als nationaler Geschichte, wie er zumindest unter deutscher Hoheit in den Danziger Schulen seit Ende des 19. Jahrhunderts zu finden ist. Auch die Wiederentdeckung regionaler Geschichte im polnischen Geschichtsunterricht der letzten Jahre stellt die nationale Deutung der Geschichte nicht grundlegend in Frage. Weniger bedeutsam war vielleicht das Kurzreferat Maciej Górnys (Warschau) über die „exotische Sommerfrische“, das Huzulenland in Polen in der Zwischenkriegzeit, der die politische Bedeutung dieser Urlaubsregion kaum zu vermitteln vermochte. Nach diesen Vorträgen erschien die Region doch stärker als ein Auseinandersetzen der Nationalismen bzw. geradezu als Instrument der nationalen Durchdringung von Landschaft und Bevölkerung und weniger als ein Ressort gegen Nationalismus.

Das letzte Panel am dritten Tag, Sonntag, dem 31.10.2004, widmete sich den Symbolen und ihrer Rolle im Umgang mit der Geschichte der Zwischenräume. Die Gestaltung der Landschaft im 19. und 20. Jahrhundert erläuterte sehr eindrücklich Jean-Marc Dreyfus (Berlin) am Beispiel der Vogesen. Er analysierte den symbolischen Gehalt der Vogesen und ihrer Gipfel im 20. Jahrhundert, wobei er sowohl auf einzelne Orte (wie dem Mont Saint Odile und der Hüneburg) als auch auf die sanft geschwungen Linie der Vogesen insgesamt einging und sowohl die polititische, nationale, nationalsozialistische als auch touristische Nutzung und Interpretation der Vogesen genau sezierte.

Mit einer oberschlesischen Parallele zum Odilienberg, dem Sankt Annaberg, beschäftigte sich das Kurzreferat von Juliane Haubold-Stolle (Genshagen). Dabei handelte es sich um einen Ort, der von deutscher wie polnischer Seite genutzt wurde, um den nationalen Anspruch auf Oberschlesien zu illustrieren. Ihr Referat leitete über zum Vortrag von Joanna Wawrzyniak (Warschau), die die Aushandelungsprozesse zwischen Kriegsveteranen und kommunistischen Machthabern im Aufbau eben dieser Ideologie nachzeichnete und die Rolle herausstellte, die die „lebenden“ Symbole“ für die Schaffung einer neuen polnischen Identität in den ehemaligen deutschen Ostgebieten hatten. Ihr Vortrag fiel dadurch auf, dass er besonders die Beziehung zwischen privater und staatlicher Vergangenheitsbewältigung in den Mittelpunkt stellte, der häufig genug nicht ausreichend diskutiert worden war, eine Kritik, die auch Etienne Francois und Rudolf Jaworski in ihrem Schlußwort betonten. Neben der weiter zu diskutierenden Frage des Verhältnisses von Region und Nation blieb außerdem offen, welche Bedeutung der Tourismus für die Veränderung von historischer Interpretation hat bzw. hatte.

Gerade durch die große Zahl der Beiträge ergab die Tagung, wie sehr die europäischen Zwischenräume mit ihrem mehrfach kodierten historischem Erbe als Reichtum der europäischen Geschichte verstanden werden können und wie sie exklusiv verstandene nationale historische Erbmassen in Frage stellen. Dabei war jedoch auch wohltuend, dass es keinem der Diskutanten darum ging, Widersprüche und Heterogenität einfach in einen neuen, positiv konnotierten europäischen Geschichtsrahmen zu pressen, sondern sie zunächst einmal schlichtweg aufzudecken und auszuhalten.

Die Tagung wurde von Dr. Christian Pletzing (Academia Baltica, Lübeck), Dr. Peter-Oliver Loew (Deutsches Polen Institut, Darmstadt), Dr. Thomas Serrier (Centre interdisciplinaire de recherches centre-européennes/Universität Paris IV – Sorbonne) in Zusammenarbeit mit der Mission historique française en Allemagne (Göttingen), dem Willy-Brandt Zentrum (Breslau), und dem Frankreich – Zentrum der TU Berlin organisiert.

Anmerkung:
1 Aus organisatorischen Gründen wurden die zwei folgenden Vorträge, die eigentlich in die Sektion der Regionen gehört hätten, erst am Sonntag vorgetragen, sollen aber hier aus Gründen inhaltlicher Stringenz ihren Platz finden. Das Referat von Freddy Raphael und Geneviève Herberich-Marx wurde in Abwesenheit der Autoren verlesen.

Kontakt

Academia Baltica (www.academiabaltica.de/)
Deutsches Polen-Institut (www.deutsches-polen-institut.de)
Circe - Centre interdisciplinaire de recherches centre-européennes (www.circe.paris4.sorbonne.fr/)