Deutscher Bund und innere Nationsbildung im Vormärz (1815–1848)

Deutscher Bund und innere Nationsbildung im Vormärz (1815–1848)

Organisatoren
Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften; Lehrstuhl für Neuere Geschichte, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main; Exzellenzcluster „Die Herausbildung Normativer Ordnungen“, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main
Ort
München
Land
Deutschland
Vom - Bis
10.10.2017 -
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Von
Jürgen Müller, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main

Die Tagung verfolgte das Ziel, das nationsbildende Potential des Deutschen Bundes auszuloten und ihn als politischen Akteur in einer sich rasch wandelnden Gesellschaft neu zu verorten. Sie griff damit eine Fragestellung auf, die in dem Forschungsprojekt „Gesellschaftliche Erwartungen und bürokratische Experten: Die Kommissionen und Ausschüsse des Deutschen Bundes als Foren politischer Aushandlungsprozesse (1816–1848)“ untersucht wird. Dieses Projekt wird seit 2016 mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft unter der Leitung von Jürgen Müller (München / Frankfurt am Main) durchgeführt. An der Tagung nahmen neben den Referenten eine Reihe von einschlägig ausgewiesenen Wissenschaftler/innen teil.

JÜRGEN MÜLLER (München / Frankfurt am Main) verwies in seinem einleitenden Vortrag auf die bei der Gründung des Bundes vielfach geäußerte Absicht, den Deutschen Bund als „das große Band der Nationalität“ weiterzuentwickeln, um „das Gebäude des großen National-Bundes [zu] vollenden“. Damit wurde eine umfassende Entwicklungsperspektive für den Deutschen Bund skizziert, die an nationalen Zwecken und Interessen orientiert war. Obgleich der deutsche Staatenbund kein Nationalstaat sein wollte, formulierte er gleichwohl einen nationsbildenden Anspruch, der in der Folgezeit bei zahlreichen Fragen, die in der Bundesversammlung sowie in deren Kommissionen und Ausschüssen verhandelt wurden, zum Tragen kam, so Müller.

REINHARD STAUBER (Klagenfurt) fragte nach den Möglichkeiten und Chancen, die sich dem deutschen Staatenbund aus der Perspektive von 1815 boten. Er betonte, dass auf dem Wiener Kongress die Bildung eines lockeren Staatenvereins, der durch ein „lien fédératif“ zusammengehalten wurde, als die einzige realistische Möglichkeit erschien, Deutschland politisch zu organisieren. Andere Konzepte, wie die zunächst von Preußen und Österreich ins Spiel gebrachte Variante einer hegemonialen Ordnung unter Führung der beiden Großmächte scheiterten sowohl am Widerstand der deutschen Mittel- und Kleinstaaten als auch am aufbrechenden machtpolitischen Konflikt zwischen Österreich und Preußen. Vor dem Hintergrund der realen politischen Verhältnisse hatte die vom Freiherrn vom Stein verfochtene Idee einer Wiederherstellung des deutschen Kaisertums keine Chance. Ein Nationalstaat, wie er später gefordert wurde, war ebenfalls keine realistische Option.

In der Diskussion wurde daran erinnert, dass die Verhandlungen von 1815 unter großem äußeren Druck standen, insbesondere nach der Rückkehr Napoleons von Elba. Dieser Druck schränkte die Verhandlungsspielräume ein. Ferner wurde betont, dass die europäischen Mächte an einem Gleichgewicht interessiert gewesen seien und deshalb die Herstellung bzw. Bewahrung kleiner Staaten (Niederlande, Schweiz) befürworteten und auf eine politische Balance in Mitteleuropa abzielten. Der Deutsche Bund erfüllte in dieser Hinsicht eine wichtige friedenssichernde Funktion in Europa. Schließlich wurde auf Defizite und potentielle Bruchstellen im Deutschen Bund hingewiesen. Vor allem habe es der Bund versäumt, eine nationale Symbolpolitik zu betreiben, die ihm ein höheres Ansehen in der deutschen Öffentlichkeit hätte verschaffen können.

MARKO KREUTZMANN (München) stellte in seinem Vortrag die Kommissionen des Deutschen Bundes „als Foren von Aushandlungsprozessen zwischen Bürokratie und Gesellschaft“ vor. Die Erwartungen der Öffentlichkeit seien zum Maßstab des politischen Handelns der Bundesversammlung erklärt und mit einer nationalen Sinnzuschreibung versehen worden. Die Bundesversammlung sei ein Forum gewesen, in dem gesellschaftliche Erwartungen und staatlich-bürokratische Gestaltungsansprüche durch gegenseitige Wahrnehmungen, Deutungen und Sinnzuweisungen in einen vielschichtigen kommunikativen Austausch traten. Nicht allein die Ergebnisse der Bundestagsverhandlungen in Gestalt von Verfassungsnormen oder Gesetzestexten gelte es daher zu untersuchen, sondern auch die Strukturen jener Kommunikations- und Aushandlungsprozesse und deren Auswirkungen auf die nationale Identitätsbildung. Unmittelbar und massiv herangetragen wurden die gesellschaftlichen Erwartungen an die Bundesversammlung durch zahlreiche Eingaben von Privatpersonen, Korporationen oder Vereinen. Bis 1848 erreichten sie rund 2600 Gesuche. Kreutzmann stellte die These auf, dass die Kommissionen der Deutschen Bundesversammlung eine wichtige Rolle im soziokulturellen Prozess der Nationsbildung spielten. Sie seien Kristallisationspunkte einer Funktionselite und Knotenpunkte eines Netzwerkes gewesen, das keineswegs nur als Instrument der Regierungen agierte, sondern eigene Handlungslogiken entwickelte.

In der Diskussion wurde eingewendet, dass es zu weit gehe, in der Tätigkeit der Ausschüsse und Kommissionen einen Aushandlungsprozess zwischen Bürokratie und Gesellschaft zu sehen, denn dies würde ja eine Symmetrie voraussetzen, die so nicht bestanden habe. Gesellschaftliche Gruppierungen hätten den Anspruch auf Partizipation erhoben, die ihnen aber gerade verweigert worden sei. Marko Kreutzmann erwiderte, dass die Eingaben an die Bundesversammlung zwar nicht immer zum Erfolg geführt hätten, doch habe es zahlreiche Interaktionen zwischen Bundesbürokratie und Gesellschaft gegeben. Die Bundesversammlung sei als eine Institution wahrgenommen worden, die über die einzelstaatlichen Interessen hinausgehende Belange vertrete. Die Art der Verhandlungsführung habe es prinzipiell erlaubt, schnell zu Ergebnissen zu gelangen; die Verzögerungen hätten eher an den Blockaden einzelstaatlicher Souveräne gelegen als an der Organisation der Bundesversammlung selbst. Man könne zudem an der Kommissionsarbeit eine hohe Sensibilität für den gesellschaftlichen und technologischen Wandel erkennen.

ECKHARDT TREICHEL (Frankfurt am Main) gab einen Überblick über die Bildung und Zusammensetzung der Bundeskommissionen sowie die Schwerpunkte ihrer Tätigkeit. In den Jahren 1816–1823 seien insgesamt 68 Kommissionen gebildet worden. Zwei Drittel dieser Kommissionen konnten ihre Aufgabe binnen eines halben Jahres erledigen − ein Befund, der das Klischee vom langsamen und schwerfälligen Bundestag relativiert. Eine Sonderstellung nahm die sogenannte Reklamations- oder Eingabenkommission ein, bei der eine Fülle von Eingaben und Beschwerden eingingen. Da sich die Bundesversammlung als nationale Appellationsinstanz verstand und „jedem Deutschen der Weg an die Bundesversammlung jederzeit offen stehen“ sollte, gehörte die Bearbeitung der Eingaben von Privatpersonen, Korporationen und gesellschaftlichen Gruppen zu den Kernaufgaben des Bundestags. Im Hinblick auf die personelle Zusammensetzung der Kommissionen ist zu bemerken, dass sich meist nur 16 bis 20 Bundestagsgesandte in Frankfurt aufhielten, auf deren Schultern im Wesentlichen die Arbeitslast der Bundesversammlung und ihrer Kommissionen ruhte.

HELMUT NEUHAUS (München) merkte in der Diskussion an, dass man den Deutschen Bund nicht verstehen könne, wenn man nicht das Alte Reich im Hinterkopf habe. Das Ausschusswesen sei nichts Neues gewesen, sondern habe sich seit dem 15. Jahrhundert im Reich entwickelt. Letztlich sei ja das Heilige Römische Reich mit einem Ausschussbeschluss, dem Reichsdeputationshauptschluss von 1803, zu Ende gegangen. Die Diskussion kreiste im Weiteren um die Auswahl und Qualifikation der Kommissions- und Ausschussmitglieder. ECKHARDT TREICHEL (Frankfurt am Main) wies darauf hin, dass in den ersten Jahren die Ausschussarbeit von wenigen Personen geleistet wurde, was zum Teil mit der Verfügbarkeit und Abkömmlichkeit der Bundesgesandten zu erklären sei, zum Teil aber auch daran lag, dass einige von ihnen aus persönlichen Gründen nicht geeignet erschienen.

PAUL KAHL (Göttingen) widmete sich der kulturellen Nationsbildung im Deutschen Bund und führte aus, wie in den Jahren 1842/43 die Bundesversammlung den Beschluss fasste, das Weimarer Goethehaus anzukaufen und es zu einem Nationalmuseum zu machen. Anlass waren die in der Öffentlichkeit erhobenen Forderungen, das ehemalige Wohnhaus Goethes als ein Denkmal der deutschen Kulturnation allgemein zugänglich zu machen und den Verkauf der Sammlungen ins Ausland zu verhindern. Mit der Umwandlung des Goethehauses in ein Nationalmuseum wäre ein kulturpolitisches Novum gelungen. Die Ausführung des Vorhabens scheiterte letztendlich nicht am Deutschen Bund oder einzelnen Regierungen, sondern an der Weigerung der Erben Goethes, dem Verkauf zuzustimmen. Ein solches Nationalmuseum unter der Trägerschaft des Deutschen Bundes hätte eine erhebliche Ausstrahlung im sich während der 1840er-Jahre stark entwickelnden nationalen Resonanzraum gehabt. Das Beispiel zeigt, wie eine kulturnationale Politik auf Bundesebene hätte gestaltet werden können.

Von BÄRBEL HOLTZ (Berlin) wurde hierzu angemerkt, dass es im Vormärz noch keine Kulturpolitik im engeren Sinne gegeben habe. Diese habe sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausgebildet. Im Hinblick auf das geplante Nationalmuseum in Weimar sei es bezeichnend, dass ein Fürst (der König von Preußen) die Gründung forciert habe. JÜRGEN MÜLLER (München / Frankfurt am Main) antwortete darauf, dass der Prozess einer kulturpolitischen Öffentlichkeitsarbeit in den frühen 1840er-Jahren begonnen habe, wie auch das Projekt des Nationalmuseums zeige. PAUL KAHL (Göttingen) führte aus, dass eine Wahrnehmung in der Presse stattfand, unter anderem in der Augsburger Allgemeinen Zeitung, wobei der Enttäuschung darüber Ausdruck gegeben wurde, dass das Goethehaus bislang nicht besichtigt werden konnte.

ANDREAS C. HOFMANN (München) skizzierte die „zwischenstaatliche Wissenschaftskommunikation und Wissenschaftspolitik im Deutschen Bund“ in der Zeit von 1815 bis 1848. Jenseits der einzelstaatlichen oder vom Bund ausgehenden Zensurmaßnahmen, mit denen auch zwei von der Bundesversammlung eingesetzte Universitätskommissionen befasst waren (1819 und 1831), gab es zahlreiche Kontakte und Kooperationen, die teilweise direkt zwischen Universitäten aus verschiedenen Einzelstaaten gepflegt wurden. Dazu gehörten der institutionalisierte Austausch von akademischen Schriften sowie die sogenannten Universitätskartelle, welche Informationen über Studenten austauschten. Diese Ebene der Vernetzung im Gebiet des Deutschen Bundes ist bislang in der Forschung kaum wahrgenommen, geschweige denn intensiver untersucht worden.

In der Diskussion wurde danach gefragt, inwieweit der von den Universitäten betriebene Austausch von Studentendaten das studentische Leben beeinflusst habe. Andreas C. Hofmann antwortete, dass das Register über die studentischen Verfehlungen bzw. Strafen in der Tat das studentische Leben sehr stark bestimmt habe. Im Hinblick auf die universitären Austauschvereine fragte SABINE FREITAG (Bamberg) nach den wissenschaftlichen Disziplinen bzw. Fakultäten, um die es dabei gegangen sei. Nach Andreas C. Hofmann waren die Austauschvereine nicht auf eine bestimmte Fakultät konzentriert, sondern umfassten den Austausch von Belegexemplaren aller Disziplinen. MARKO KREUTZMANN (München) fragte, inwieweit der literarische Austausch auch als ein eigener Beitrag zur kulturellen Nationsbildung verstanden wurde, worauf Andreas C. Hofmann erwiderte, dass er dafür nur wenige Belege gefunden habe. Schließlich wurde auf die Besonderheit hingewiesen, dass Österreich am universitären Austauschsystem nicht beteiligt gewesen sei. Andreas C. H ofmann erklärte dies damit, dass ein solcher Austausch in Österreich unerwünscht und dass die Repressionen gegen Studenten in der Habsburgermonarchie strikter gewesen seien als in anderen deutschen Staaten.

Zum Abschluss der Tagung beleuchtete ANDREAS FAHRMEIR (Frankfurt am Main) die innere Nationsbildung im internationalen Vergleich, wobei er erhellende Parallelen zwischen dem Deutschen Bund und anderen föderativen Ordnungen in Europa, aber auch in Übersee (USA und Kanada) zog. Vor diesem Hintergrund erscheint der Deutsche Bund nicht mehr in dem Maße als Anomalie, wie dies in der älteren, aber auch von Teilen der jüngeren Forschung wegen seiner angeblichen nationalpolitischen Defizite konstatiert worden ist.

Insgesamt lieferten die Vorträge neue Einblicke in die inneren Mechanismen des Deutschen Bundes, die weitverzweigte und intensive Tätigkeit seiner Ausschüsse und Kommissionen und das bei vielen an die Bundesversammlung herangetragenen Gegenständen erkennbare Bemühen, zu sachgerechten Lösungen zu gelangen. Deutlich wurde in den Vorträgen von Eckhardt Treichel und Marko Kreutzmann, dass sich schon in den ersten Jahren des Bundes Gruppen von Experten bildeten, die sich einer Vielzahl von Themen widmeten, bei denen ein individueller, gruppenspezifischer oder gar nationaler Regelbedarf postuliert wurde. Diese Expertengruppen waren die Keimzelle der sich im späteren Vormärz und dann insbesondere nach 1850 herausbildenden weiträumigeren Expertennetzwerke auf Bundesebene. Deren Tätigkeit wurde in der bisherigen Forschung vernachlässigt, weil man sich vorwiegend auf die nationalpolitischen Defizite des Bundes konzentrierte. Es wird weiter zu analysieren sein, welche gesellschaftlichen Erwartungen sich konkret an den Bund beziehungsweise seine Organe richteten und wie von Bundesseite damit umgegangen wurde. Hier werden neben den Verwaltungsakten des Bundes und seiner Gremien auch die öffentlichen Verlautbarungen in der Presse, der Publizistik und den einzelstaatlichen Parlamenten heranzuziehen sein.

Konferenzübersicht

Gerrit Walther (Wuppertal): Begrüßung

Jürgen Müller (München / Frankfurt am Main): Der Deutsche Bund als nationales Band. Anspruch und Realität

Reinhard Stauber (Klagenfurt): Der Deutsche Bund als föderative Ordnung in der Mitte Europas: Möglichkeiten und Chancen aus der Perspektive von 1814/15

Marko Kreutzmann (München): Die Kommissionen des Deutschen Bundes als Foren von Aushandlungsprozessen zwischen Bürokratie und Gesellschaft (1816–1848)

Eckhardt Treichel (Frankfurt am Main): Die Kommissionen des Deutschen Bundes und ihre Tätigkeit in den Jahren 1816–1823

Paul Kahl (Göttingen): Kulturnation und Deutscher Bund. Das Vorhaben einer Nationalstiftung im Weimarer Goethehaus von 1842/43

Andreas C. Hofmann (München): Zwischenstaatliche Wissenschaftskommunikation und Wissenschaftspolitik im Deutschen Bund 1815–1848

Andreas Fahrmeir (Frankfurt am Main): Innere Nationsbildung im 19. Jahrhundert. Der Deutsche Bund im internationalen Vergleich


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