Glaubst Du noch oder weißt Du schon? Zur „Glaubwürdigkeit“ von Medien in historischer und aktueller Perspektive

Glaubst Du noch oder weißt Du schon? Zur „Glaubwürdigkeit“ von Medien in historischer und aktueller Perspektive

Organisatoren
Institut für Zeitungsforschung, Dortmund; Verein zur Förderung der Zeitungsforschung in Dortmund e.V.
Ort
Dortmund
Land
Deutschland
Vom - Bis
24.11.2017 - 25.11.2017
Url der Konferenzwebsite
Von
Astrid Blome, Institut für Zeitungsforschung; Harald Bader, Mikrofilmarchiv der deutschsprachigen Presse e.V., Dortmund

Seit es gedruckte Medien gibt, wird ihre Informationsqualität diskutiert. In Zeiten von Facebook und Twitter sind „die Medien“ und „die Journalisten“ zunehmend pauschalen Vorwürfen ausgesetzt. Populistische Parolen formulieren grundsätzliche Zweifel an der Qualität und den Ergebnissen journalistischer Arbeit als Ausdruck grundlegender gesellschaftspolitischer Probleme und Kritik. Auf der Dortmunder Tagung diskutierten Historiker, Kommunikationswissenschaftler und Journalisten zentrale Aspekte des Themas, wobei sie einen zeitlichen Bogen vom 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart spannten.

In seinem Grußwort formulierte Dortmunds Oberbürgermeister ULLRICH SIERAU die politischen Vorstellungen von den Aufgaben insbesondere der Lokalpresse und übertrug ihr die Verantwortung dafür, in der Berichterstattung den Struktur- und den Imagewandel der Stadt zu transportieren. Kritische Worte fand er für ein journalistisches Selbstverständnis, das stärker kommentiere als berichte, und für Tendenzen zur Vereinfachung (z.B. Twitter), die er als eine Ursache für „Verzerrungen“ der Berichterstattung betrachtete. Zugleich warnte Sierau vor den Folgen modernen Nutzerverhaltens, dessen Grundlage oft nur noch auf Informationen aus dem Smartphone beruhe, da aufgrund des schnellen Wechsels von Online-Inhalten die Debattenqualität leide.

Einleitend skizzierte ASTRID BLOME (Dortmund) den Rahmen und problematisierte Tendenzen und Folgen der medienkritischen Diskussion über „Vertrauen“ und „Glaubwürdigkeit“ als „gefühltes Massenphänomen“. Der Zusammenhang von Medien- und Systemkritik ist evident, pauschal vorgetragene Kritik an „den Medien“ ist Ausdruck einer gesellschaftlichen Krisensituation und wird politisch instrumentalisiert. Die Entgrenzung der Online-Kommunikation und die Zunahme alternativer Informationsquellen haben ambivalente Folgen: Partizipation und Demokratisierung, Dynamik und Vielfalt ebenso wie Entprofessionalisierung und Emotionalisierung, Instrumentalisierung und Orientierungslosigkeit. Struktur und Sinngebung durch Medienberichterstattung werden immer stärker eingefordert, wobei die klassischen Medien ihre Deutungshoheit und ihren Status als Gatekeeper weitgehend verloren haben. Eine neue Phase öffentlich vorgetragener, journalistischer Reflexion soll die systemimmanenten Strukturen des Mediensystems offenlegen und die Distanz zum Publikum überwinden, um der gesellschaftlichen Verantwortung gerecht zu werden. Widersprüchlich seien die praktischen Strategien im Umgang mit populistischen Positionen, so dass die Fachwissenschaften wie Redaktionen und Journalisten aufgefordert sind, ihre Rolle kritisch zu hinterfragen und zu justieren.

Die bereits im 17. Jahrhundert formulierten und nach wie vor vorbildlichen Grundprinzipien journalistischen Handelns fasste HOLGER BÖNING (Bremen) zusammen: Der respektvolle Umgang mit dem Leser erfordere Zuverlässigkeit, Aktualität und Unabhängigkeit der Berichterstattung, qualifizierte Korrespondenten, den Mut zur Berichtigung und ökonomische Unabhängigkeit. Böning knüpfte an Karl Philipp Moritz‘ „Ideal einer vollkommenen Zeitung“ an, in dem die idealistische Vorstellung eines Nachrichtenmediums entwickelt wurde, das der Aufklärung dienen, Diskussionen anstoßen und einen Beitrag zur „öffentlichen Handhabung der Gerechtigkeit“ leisten sollte. Die angeführten Prinzipien wurden aus ihrer historischen Perspektive entwickelt und ihre Bedeutung für heutige „Medienmacher“ reflektiert. Bönings abschließende Kritik richtete sich gegen die Konzentration der aktuellen Medienlandschaft in wenigen Unternehmen und die Folgen einer betriebswirtschaftlichen Logik, die zum Abbau qualifizierter Redaktionen führte. Mit den Worten Frank-Walter Steinmeiers plädierte er für mehr Vielfalt und diagnostizierte einen „Konformitätsdruck in den Köpfen der Journalisten“, der das tatsächliche Meinungsspektrum nicht adäquat abbilden kann.

Die aufgeführten Kritikpunkte waren bereits im 19. Jahrhundert formuliert worden, wie JÜRGEN WILKE (Mainz) in seinem Vortrag über die Entwicklung der Zeitungen von der Märzrevolution bis zum Ersten Weltkrieg zeigte. Die wesentlichen Gründe für die „Entfesselung“ der Presse fasste er unter den Aspekten Technik, Recht, Politik und Gesellschaft zusammen. Im Vormärz wurden weitreichende Erwartungen an eine freie Presse geknüpft, die sich nicht erfüllten und den Vorwurf „Lügenpresse“ evozierten. Anhand von Heinrich Wuttkes Abhandlung „Die deutschen Zeitschriften und die Entstehung der öffentlichen Meinung“ (1875) stellte Wilke die zeitgenössische Medienkritik vor. Wuttke machte wirtschaftliche Faktoren wie z.B. die zunehmende Finanzierung durch Anzeigen sowie eine „innere Gleichartigkeit“ für die so bezeichneten Lügen der Presse verantwortlich, befördert von der schlechten (Aus)Bildung mancher Journalisten. Politisch motivierte Pressekritik wurde von Konservativen wie von der Arbeiterbewegung erhoben, Wuttke selbst bezeichnete die Berichterstattung über die Reichsgründung als „Lügenwirtschaft“. Marktbeherrschend wurden die vermeintlich unpolitischen General-Anzeiger, 1914 setzte eine scharfe Militärzensur ein, und nach Kriegsende wurde der Vorwurf einer „amtlichen Irreführung des deutschen Volkes“ laut (Kurt Mühsam 1918).

Für eine Differenzierung und Verschiebung der Forschungsperspektive plädierte OTFRIED JARREN (Zürich). Die empirischen Befunde zum „Vertrauen“ in Journalismus und „die Medien“ seien problematisch, weil sie sich auf die traditionellen Massen- und Leitmedien konzentrierten. Mit ihrem generalisierten und zudem stark an das System Politik gekoppelten Angebot könnten diese „nur“ die von Eliten getroffenen, kollektiv verbindlichen Entscheidungen repräsentieren, jedoch keine Bezüge zu Entscheidungen auf der Ebene der Lebenswelt herstellen. Damit entsprächen die aktuellen, universellen Massenmedien zwar der funktionalen, jedoch nicht der segmentären Differenzierung der Gesellschaft. Sie dienten der gesamtgesellschaftlichen Selbstbeobachtung, während andere Medien der Selbstorganisation und Vergemeinschaftung dienten. Die Debatte um „Vertrauen“ in Medien und Journalismus identifizierte Jarren als Ausdruck eines massiven institutionellen Wandels, da die Massenmedien für die Mehrheit der Gesellschaft nicht mehr ohne Alternative sind, ihre Normen und Regeln hinterfragt werden und sich mit der diskursiven Institutionalisierung neuer Medien neue Normen unter Einbezug der Nutzer ausbilden. Eine Antwort auf die „Vertrauenskrise“ könne Journalismus als orientierende Dienstleistung sein. Von der Kommunikationswissenschaft forderte Jarren, sich von den Selbstzuschreibungen der Massenmedien zu lösen und stattdessen verstärkt die intermediären Strukturen und Prozesse in der funktional wie segmentär differenzierten Gesellschaft in den Blick zu nehmen.

LUTZ M. HAGEN (Dresden) stellte Umfrageergebnisse zur „Glaubwürdigkeit“ von Medien und insbesondere Zeitungen vor, wobei er „Glaubwürdigkeit“ als Vertrauen in ihre Funktionalität, Richtigkeit und Relevanz betrachtete. Bei der Beantwortung der Vertrauensfrage ist eine zunehmende Polarisierung zu beobachten, die an in immer klareren Aussagen zur Vertrauenswürdigkeit bzw. zum Misstrauen deutlich wird. Das Medienvertrauen sinke insbesondere bei Anhängern der AfD und der Linkspartei. Ein West-Ost-Gefälle bei den Vertrauenswerten in Zeitungen sei mit einer teilweisen Gleichsetzung des früheren DDR-Mediensystems mit dem bundesrepublikanischen zu erklären. So würden beispielsweise bei Pegida-Anhängern die Dresdner Lokaljournalisten größeres Vertrauen genießen als bundesweite Medien, denen aus der rechten Perspektive eine erheblich stärkere Regierungsnähe unterstellt wird. Auch verschiedene Zusammenhänge von Lebensalter und extremen Positionen wurden vorgestellt. Eine Rückgewinnung von Vertrauen sei schwierig angesichts des ökonomischen Drucks auf die klassischen Medien.

Zum Auftakt der Podiumsdiskussion reflektierte MICHAEL MEYEN (München) über Aussagekraft und Ergebnisse von Umfragen zur Medienbewertung in Deutschland seit 1945. Auch er betonte, dass eine diagnostizierte „Glaubwürdigkeits“-Krise der Medien eine Krise des gesellschaftlichen Systems sei. Die heutige Diskussion werde geprägt von der Erfindung der „Glaubwürdigkeit“ durch die westlichen Besatzungsmächte. Die von ihm analysierten Statistiken wiesen zum Teil erhebliche Schwankungen der Umfrageergebnisse innerhalb weniger Monate auf (1948/49) und belegten anhand der Bewertung von Rundfunk, Zeitung, Illustrierten im Vergleich zum Fernsehen eindrucksvoll, wie sich die Ausbreitung und Akzeptanz eines neuen Informationsmediums auf das Urteil der Rezipienten auswirkte. Da „Glaubwürdigkeit“ als Kriterium nicht geeignet ist, journalistische Leistungen zu bewerten, forderte er vom Journalismus eine normative Wende: den Verzicht auf die Normen Objektivität, Neutralität, Ausgewogenheit und Vollständigkeit zugunsten von Öffentlichkeit und Transparenz.

Das von HENRIK MÜLLER (Dortmund) moderierte Podiumsgespräch schlug den Bogen zu den Herausforderungen der aktuellen journalistischen Praxis. An Meyens Forderung nach Transparenz anknüpfend, schilderte SIEGLINDE NEUMANN (Express, Köln) die Konsequenzen für die Redaktionsarbeit in der Folge der Berichterstattung über die Silvesternacht 2015/16. Diese „Lehrstunde für die Öffentlichkeitskrise“ habe unter anderem einen achtsameren Umgang mit den Quellen bewirkt. PETER BANDERMANN (Ruhr Nachrichten, Dortmund) betonte die notwendige Unabhängigkeit von Journalisten und verteidigte ihre gesellschaftliche Funktion als „Dienstleister der Demokratie“ mit der Pflicht, Missstände aufzuzeigen. Vertrauen in Tageszeitungen bzw. dieses aufzubauen, wertete er als einen Langzeitprozess mit hohem Anspruch an die Recherchequalität und die Nähe zur Lebenswirklichkeit der Leser. Die redaktionellen Maßnahmen richteten sich Bandermann und Neumann folgend daher unter anderem auf den Ausbau der Lokalredaktionen, die Stärkung von Fachkompetenzen durch Umstrukturierungen, die Weiterentwicklung journalistischer Stilmittel und die Leserbindung auf der Grundlage von Beziehungen. Meyen forderte ergänzend ein Entgegenkommen der Gesellschaft, um anspruchsvolle journalistische Arbeit zu gewährleisten.

Der Einblick in die journalistische Behandlung strittiger Themen wie provozierender Äußerungen oder Handlungen zeigte die Herausforderungen und Probleme auf, die die Umsetzung der aus allen Perspektiven formulierten Anforderungen an anspruchsvollen Journalismus bereiten – wenn beispielsweise Tabubrüche in die Aufmerksamkeitsfalle locken, rechtspopulistische Quellen die Mitarbeit an Medien außerhalb der eigenen „Echokammern“ verweigern oder anspruchsvoll recherchierte und umfangreiche Artikel mit niedrigen Rezeptionsraten aus den Online-Nachrichtenangeboten verschwinden. Die Zuschreibung und Bewertung von „redaktionellen Narrativen“ fiel erwartungsgemäß unterschiedlich aus. Die Forderung nach journalistischer Qualität einerseits und die ökonomischen Erwartungen an Verkaufs- oder „Klickzahlen“ erweisen sich weiterhin als oftmals inkongruent.

Konferenzübersicht:

Ullrich Sierau (Dortmund): Grußwort

Stefanie Averbeck-Lietz (Bremen): Grußwort

Astrid Blome (Dortmund): Einführung

Holger Böning (Bremen): Journalistisches Ethos und das Ideal einer vollkommenen Zeitung in den ersten Jahrhunderten der deutschen Presse – Historische Utopie und aktuelle Notwendigkeit

Jürgen Wilke (Mainz): Von der Entfesselung zur „Lügenpresse“. 1848 bis zum Ersten Weltkrieg

Otfried Jarren (Zürich): Vertrauen in Medien oder in Journalismus oder...? Intermediäre Strukturen in der differenzierten Kommunikationsgesellschaft

Lutz M. Hagen (Dresden): Wovon die Glaubwürdigkeit der Medien abhängt. Eine Analyse von Faktoren unter besonderer Beachtung der Neuen Bundesländer

Michael Meyen (München): Die Erfindung der Glaubwürdigkeit. Umfragen zur Medienbewertung in Deutschland seit 1945

Öffentliches Podiumsgespräch „Journalismus heute: Herausforderungen durch Rechtspopulismus und das Glaubwürdigkeitsparadigma in der Praxis“
Moderation: Henrik Müller (Dortmund)

Peter Bandermann (Ruhr Nachrichten, Dortmund) / Michael Meyen (München) / Sieglinde Neumann (Express, Köln)

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