HT 2018: Evidenzpraktiken und wissenschaftliche Glaubwürdigkeit in Zeiten gesellschaftlicher Spaltung

HT 2018: Evidenzpraktiken und wissenschaftliche Glaubwürdigkeit in Zeiten gesellschaftlicher Spaltung

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Münster
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.09.2018 - 28.09.2018
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Von
Johannes Schuckert, Wissenschaftsgeschichte, Ludwig-Maximilians-Universität München

Allgemein akzeptiertes Wissen ist für moderne Gesellschaften nicht nur eine wichtige Ressource, sondern auch die Basis politischer und gesellschaftlicher Diskussionsfähigkeit. Die besprochene Sektion, organisiert von SARAH EHLERS (München) und STEFAN ESSELBORN (München), widmete sich daher dem Thema des Historikertags „Gespaltene Gesellschaften“ aus einem wissenschafts- bzw. wissensgeschichtlichen Blickwinkel und warf die Frage auf, wie in Situationen tiefer gesellschaftlicher Polarisierung versucht wurde, Wissen wissenschaftlich zu legitimieren und evident zu machen. Sie versammelte dazu historische Beispiele, in denen vermeintlich ausschließlich wissenschaftliche Fragen vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Spaltung ins Zentrum politischer und gesellschaftlicher Auseinandersetzungen rückten.

KARIN ZACHMANN (München) konstatierte in ihrer Einführung, dass die Glaubwürdigkeit von Wissen durch Evidenz im Zentrum gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse stehe und gerade in Zeiten gesellschaftlicher Spaltungen – Stichwort „fake news“ – sich die Autorität evidenzbasierter Wissenschaft in Gefahr befinde. Wie und von wem Evidenz gemacht werde, habe daher neue Aktualität. Zudem sei seit etwa dreißig Jahren Evidenzbasierung ein Schlüsselwort der Forschung, denn schließlich trage die Frage nach der Gültigkeit des Wissens dazu bei, Konflikte zu überwinden und Entscheidungen treffen. Es stelle sich daher die Frage, unter welchen Bedingungen es unter dem Einfluss gesellschaftlicher Spaltung grundlegend möglich sei, sich auf Evidenz als Grundlage zu einigen. Die gemeinsame Frage der einzelnen Beiträge liegt für Zachmann darin, wie es gelingen könne, in Konstellationen gesellschaftlicher Spaltung Übereinstimmung zur Gültigkeit von Wissen zu erlangen.

KATRIN KLEEMANN (München) befasste sich in ihrem Vortrag mit verschiedenen vermeintlichen Vulkanausbrüchen in Deutschland im Jahre 1783. Ausgangspunkt dieser Annahme sei das Auftreten eines nach Schwefel riechenden trockenen Nebels gewesen, den sich die Zeitgenossen nicht erklären konnten. Generell seien im Sommer 1783 eine Vielzahl merkwürdiger Phänomene beobachtet worden, was die Zeitgenossen von einem „Annus Mirabilis“ sprechen ließ. Nicht nur sei der Sommer besonders heiß und trocken mit außergewöhnlich vielen Gewittern gewesen, was vielerorts zur Durchsetzung des Blitzableiters beigetragen habe. Zudem seien Nachrichten von zahlreichen Erdbeben, Meteoren und weiteren ungewöhnlichen Ereignissen aus verschiedenen Teilen Europas in Deutschland eingetroffen.

All diese Vorkommnisse hätten zu einer Vielzahl an Theorien über die möglichen Ursachen der Phänomene geführt. Die erste Theorie habe in Vulkanausbrüchen die Ursache gesehen. Eine weitere habe behauptet, dass die Erdbeben Risse in der Erde hätten entstehen lassen, durch welche Schwefel entweichen konnte, welcher sich als trockener Nebel über ganz Europa verbreitet habe. Andere hätten die Schuld bei den Blitzableitern gesehen, welche der Atmosphäre ihre fruchtbarkeitsbringende Elektrizität entzogen hätten, was wiederum andere Phänomene erklären sollte. Neben den bereits erwähnten Vulkanausbrüchen seien auch Eruptionen des Hekla oder des Nyey auf Island als Erklärung vorgebracht worden, eine Theorie, welche auch Benjamin Franklin unterstützte. Der heutige Kenntnisstand sehe als Erklärung den Ausbruch der Lakispalte auf Island, dem ein Fünftel der damaligen Bevölkerung Islands durch Missernten, Krankheiten und Hunger zum Opfer gefallen sei. Die Lakispalte selbst und die durch sie ausgetretene Lava seien allerdings erst 1794 entdeckt worden, wodurch sich zumindest der schwefelige Nebel letztlich erklären lasse.

SARAH EHLERS (München) Vortrag analysierte koloniale Kampagnen gegen die Schlafkrankheit – eine tropische Infektionskrankheit, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu mehreren verheerenden Epidemien im subsaharischen Afrika führte. Dabei ging es ihr zum einen um die Glaubwürdigkeitskrise kolonialer Medizin, zum anderen um die Versuche und Strategien der Ärzte, die Bevölkerung von der Wirksamkeit medizinischer Praktiken zu überzeugen, ihnen also Evidenz zu verleihen. Die Kolonialärzte seien in den betroffenen Gebieten auf eine Bevölkerung getroffen, die nicht von sich aus mit den Europäern kooperierte. Schilderungen einer misstrauischen, feindseligen oder desinteressierten Bevölkerung im Angesicht einer tödlichen Krankheit und sich ausbreitender Epidemien vereinten die Berichte der Mediziner über nationale und koloniale Grenzen hinweg. Diese Frustration, als Arzt nicht helfen zu können und auf Abwehr zu stoßen, sei eine prägende Erfahrung der europäischen Schlafkrankheitsbekämpfung gewesen.

Ehlers führte dazu zwei Ebenen der Gründe für die Ablehnung der kolonialen Medizin an: die Ablehnung der Kolonialmacht und das Misstrauen gegenüber bakteriologischen medizinischen Praktiken. Als Abhilfe hätten Kolonialärzte beispielsweise versucht, diagnostische Methoden wie etwa Blutentnahme als Therapie zu verkaufen. Landschaftliche Eingriffe, wie Rodungen, seien bessern angenommen worden, weil deren Nutzen ersichtlicher gewesen sei und sie an indigenes Wissen anknüpften. Ein weiterer Versuch, die Akzeptanz kolonialer Medizin zu fördern, habe in der Einbindung und Ausbildung einheimischen Personals gelegen. In Europa dagegen hätten Mediziner vielfach an kolonial-rassistische Denkmuster angeknüpft, beispielsweise indem sie Stereotype zur Promiskuität „der Afrikaner“ bedienten. Generell aber habe das lange medizinische Scheitern zu wissenschaftlicher Innovation insbesondere auf dem Gebiet der medizinischen Umweltinterventionen geführt. Letztlich, so Ehlers Fazit, sei für die Legitimationsstrategien von Kolonialmedizinern vor allem entscheidend gewesen, wo sie stattfanden und an wen sie sich richteten. Während die Vertreter der Schlafkrankheitsbekämpfung in Afrika durchaus lokales Wissen rezipiert und teilweise auch in den Kampagnen verwertet hätten, finde sich davon in europäischen Fachpublikationen wenig. Das Beispiel der Kolonialmedizin zeige also, dass Evidenz immer kontextbezogen sei und sich die Evidenzpraktiken der Mediziner änderten, je nach Kontext, den sie überzeugen wollten.

STEFAN ESSELBORN (München) befasste sich in seinem Vortrag mit der bundesdeutschen Kernkraftkontroverse der 1970er-Jahre. Die öffentliche Thematisierung der Atomenergie durch die Anti-AKW-Bewegung habe zu einer zunehmenden Infragestellung existierender technischer Praktiken und Strategien geführt, mit deren Hilfe die Sicherheit nuklearer Anlagen nachgewiesen werden sollte. Auf der Suche nach neuen Evidenzpraktiken hätten Kernkraftexperten und Ministerialbürokratie in der BRD ab Ende der 1960er-Jahre begonnen, den Einsatz der probabilistischen Risikoquantifizierung zu favorisieren, die das konkrete Risiko eines Reaktors numerisch – idealerweise in einer einzigen Zahl – darstellbar machen sollte. Davon habe man sich nicht nur genauere Erkenntnisse über technische Zusammenhänge, sondern auch eine „Versachlichung“ der gesellschaftlichen Diskussion und letztlich eine (Wieder-) Herstellung des gesellschaftlichen Konsenses zugunsten der Kernkraft versprochen. Zu Beginn der 1970er-Jahre sei es daher zu einer staatlich initiierten und enorm ressourcenaufwändigen Kampagne zur Risikoquantifizierung in der Kernkraft gekommen, intern als „Projekt Risikostrategie“ bezeichnet. In diesem Rahmen seien nicht nur Forschungen zur technischen Risikoermittlung, etwa durch die „Deutsche Risikostudie Kernkraftwerke“, sondern auch eine ganze Reihe sozialwissenschaftlicher Forschungen zur Risikoakzeptanz betrieben worden.

In der Praxis sei die Risikoquantifizierung als Evidenzpraxis allerdings sehr bald auf erhebliche Probleme gestoßen. Nicht nur sei die Überzeugungskraft von Risikozahlen weit geringer ausgefallen als gedacht. Der probabilistische Ansatz, der für eine Risikoquantifizierung unabdingbar gewesen sei, habe zwangsläufig zu einer Relativierung des Versprechens absoluter Sicherheit geführt, was sich in rechtlicher wie in politischer Hinsicht als höchst problematisch erwiesen habe. Daher hält Esselborn in seinem Fazit fest, dass die Risikoquantifizierung als Evidenzpraxis – im Sinne einer Strategie des „Trust in Numbers“ (Theodore M. Porter) – in der Kernkraft im Wesentlichen gescheitert sei. Dennoch zeige sich als Auswirkung, dass eine staatliche Förderung zum Aufbau einer wissenschaftlich-technischen Infrastruktur beitrage, was nicht nur zu ihrer Institutionalisierung, sondern auch zu einem Verwissenschaftlichungs- und Technisierungsschub im Umgang mit großtechnischen Risiken insgesamt geführt habe.

CLAUDIA ROESCH (Washington) befasste sich mit der von US-amerikanischen Abtreibungsgegnern etablierten (Pseudo-)Wissenschaft der „Fötologie“, mit deren Hilfe versucht wurde, den wissenschaftlichen Diskurs um den Beginn des menschlichen Lebens im Mutterleib zu beeinflussen. Im Zentrum ihres Vortrags standen die Film- und Fernsehauftritte der Mediziner Bernard Nathanson und J.C. Wilke, zwei der führenden Köpfe der moderaten Anti-Abtreibungsbewegung. Sie versuchten wissenschaftlich zu belegen, dass das menschliche Leben mit der Zeugung beginne, wohingegen Argumente der Pro-Choice Bewegung als philosophischer oder religiöser Natur dargestellt worden seien. Obwohl Nathanson und Wilke selbst nicht aktiv an der Forschung zur Embryonalentwicklung beteiligt gewesen seien, hätten sie sich immer wieder auf die „Wissenschaft“ der „Fötologie“ bezogen, um ihren politischen Zielen einen rationalen und objektiven Unterbau zu geben. Mit einer Analyse von filmischem Material der Abtreibungsgegner demonstrierte Roesch, wie diese wissenschaftliche Erkenntnisse als „objektive“ Wahrheiten präsentierten, obwohl sie selbst teilweise veraltete oder übertriebene Statistiken benutzten und sich stark auf die suggestive Kraft von Bildern verließen.

Roesch bilanzierte, dass die Anti-Abtreibungsbewegung einen wissenschaftlichen Habitus – z.B. Betonung akademischer Titel, Kleidungsstil, Benutzung von Modellen, Schaubildern und Statistiken – und wissenschaftliche Evidenzen benutzt habe, um religiöse Annahmen über den Beginn des Lebens universell begründen zu können. Dies lasse sich insbesondere in dem Moment beobachten, als die Frauenbewegung begann, sich selbst wissenschaftliche Expertise anzueignen. Die Fötologie sei als Gegenwissenschaft entstanden: Sie habe sich wissenschaftlicher Sprache und Benennungen (beispielsweise Post-Abortion Syndrome) und eines Expertenhabitus bedient, um eine politisch-moralische Weltsicht zu belegen. Je mehr sich die Anti-Abtreibungsbewegung radikalisiert und die gesellschaftliche Debatte polarisiert habe, desto stärker sei der Antagonismus zwischen professioneller Wissenschaft und Anti-Abtreibungsbewegung geworden.

Der Kommentar von DIRK VAN LAAK (Leipzig) systematisierte die Zugänge der Sektion und schloss weiterführende Fragen und Überlegungen an. Nachdem sich die Vorträge insbesondere der grundlegenden Funktion wissenschaftlicher Erkenntnis in Bezug auf Praktiken der Evidenz gewidmet hatten, warf er die Frage auf, ob in aktuellen Debatten nicht die Wissensvoraussetzungen und die Erscheinungsformen von Dingen im Zweifel entscheidender seien als die Prozesse selbst. Auch widmete er sich dem Verhältnis von Wissen und moderner Gesellschaft, in der Wissen einerseits in immer stärker polarisierten Diskussionen zu einer käuflichen Ressource werde. Andererseits stelle sich die Frage, inwieweit in einer Phase des relativ langen Friedens die damit einhergehende lebensweltliche Sicherheit die Beschäftigung mit „alternativen Fakten“ fördere. Dass aktuelle gesellschaftliche Auseinandersetzungen ausgerechnet mithilfe „alternativer Fakten“ geführt würden, zeige wiederum die zentrale Funktion von Wissen und wissensbasierter Politik. Van Laak schloss seinen Kommentar mit der Feststellung, dass Wissen heute durch unterschiedliche Entwicklungen gefährdet sei und es auch bleiben werde – insbesondere, wenn es sich nicht kritisch zu sich selbst verhalte.

In der abschließenden Diskussion adressierte das Publikum vor allem die verbindenden Elemente der Sektion. Bezogen auf aktuelle Auseinandersetzungen um wissenschaftliche Glaubwürdigkeit und Spaltungen wurde die Frage nach den eigenen wissenschaftlichen Maßstäben aufgeworfen: Basierten die Vorträge nicht selbst auf eigenen Ansprüchen von Objektivität, machten sie nicht ebenfalls eine Trennung zwischen wahren und alternativen Fakten auf, die es eigentlich zu hinterfragen gelte? Ebenfalls zur Reflexion lud die Frage ein, inwiefern sich aus historischen Beispiele für aktuelle Auseinandersetzungen um Glaubwürdigkeit von Wissen lernen ließe. Stefan Esselborn antwortete, dass eine reine Versachlichungsstrategie mit immer mehr Fakten und Zahlen scheinbar nicht ohne Weiteres funktioniere. Sarah Ehlers erinnerte daran, dass ein Augenscheinlichkeit von Wissen nicht per se gegeben sei und wenn eine Kluft der Glaubwürdigkeit erst einmal existiere, diese nur schwer zu überwinden sei. Karin Zachmann gab zu bedenken, dass Wissen weder unmittelbar evident sei, noch von alleine überzeuge, so dass es mit Evidenz immer wieder abgesichert werden müsse.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Sarah Ehlers (München) / Stefan Esselborn (München)

Karin Zachmann (München): Einführung

Katrin Kleemann (München): „Also haben wir dennun in unserem lieben Deutschland auch einen feuerspeyenden Berg.“ Der trockene Nebel von 1783 und wissenschaftliche Spekulation

Sarah Ehlers (München): „Sie verstecken ihre Kranken“. Kolonialmedizin und gesellschaftliches Misstrauen während der Schlafkrankheitsepidemien in den afrikanischen Kolonien

Claudia Roesch (Washington): Glauben oder Wissen? Die amerikanische Anti-Abtreibungsbewegung und die Kontroversen um den Beginn des Lebens

Blanka Koffer (Berlin): Neubauern, LPG, Ethnographie. Die Erfindung der sozialistischen Lebensweise auf dem Land 1945-1960 [ausgefallen]

Stefan Esselborn (München): Argumentieren mit Zahlen. Die Kernkraftkontroverse in der BRD und die Entwicklung der Risikoforschung

Dirk van Laak (Leipzig): Kommentar