Zeitgeschichte der Sicherheit. Politikfelder, Akteure und Handlungslogiken im geteilten Deutschland

Zeitgeschichte der Sicherheit. Politikfelder, Akteure und Handlungslogiken im geteilten Deutschland

Organisatoren
Martin Diebel / Franziska Kuschel / Dominik Rigoll, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam
Ort
Potsdam
Land
Deutschland
Vom - Bis
17.09.2018 -
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Von
Christopher Kirchberg / Marcel Schmeer, Historisches Institut, Ruhr-Universität Bochum

Wahrlich, wir leben in unsicheren Zeiten – so machen es uns jedenfalls Gegenwartspublizistik und Demoskopie glauben. Die Rede ist von „Angstkonjunkturen“, einem „erodierenden Sicherheitsgefühl“ und nicht zuletzt einem veritablen „Vertrauensverlust“ in das Schutzversprechen des Staates.1 So verwundert es kaum, dass die Sicherheitsforschung als internationales wie hochgradig interdisziplinäres Feld seit einigen Jahren einen enormen Bedeutungszugewinn verzeichnet. Dieser Boom erfasst auch die Geschichtswissenschaft, in der sich mit der „Historischen Sicherheitsforschung“ inzwischen ein eigener, epochenübergreifender Zweig herausgebildet hat.2 Vor diesem Hintergrund widmete sich ein eintägiger Workshop am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam der Frage, welchen Mehrwert eine dezidiert sicherheitsgeschichtliche Perspektive mit Blick auf dort aktuell bearbeitete Forschungsprojekte generieren könnte. Schwerpunktmäßig (aber nicht ausschließlich) lag der Fokus dabei auf den kürzlich abgeschlossenen Projekten zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit der beiden deutschen Innenministerien.

Einleitend erläuterte DOMINIK RIGOLL (Potsdam), dass diese Projekte im Schnittfeld von Staatlichkeit, Organisationsgeschichte und Diktaturfolgen- beziehungsweise NS-Aufarbeitung ein gemeinsames Erkenntnisinteresse an den historischen Dynamiken von Sicherheitsproduktion hätten. Unter Rückgriff auf einen erweiterten Sicherheitsbegriff sollten drei Fragehorizonte durch die Veranstaltung führen: Welche neuen Blickwinkel und Interdependenzen ermöglicht eine heuristische Fokusverschiebung auf „Sicherheit“? Welche zeithistorisch relevanten Erkenntnisse lassen sich aus den empirischen Befunden der einzelnen Projekte ableiten? Und schließlich: Wie verhalten sich die anhand der (deutsch-)deutschen Geschichte gewonnenen Expertisen zur transnationalen Geschichte?

Eingedenk dieser Fragen widmete sich FRANZISKA KUSCHEL (Potsdam) im ersten Panel „Sicherheit, Verkehr und Informationsverarbeitung“ der „Versicherheitlichung“ des Straßenverkehrs in der SBZ/DDR. In einer deutsch-deutschen Vergleichsperspektive vertrat sie die These, dass die Herstellung von Sicherheit in der DDR nicht nur über (geheim-)polizeiliche oder (para-)militärische Vorkehrungen, sondern zunehmend über Maßnahmen zur Lenkung der Bevölkerung erfolgt sei. Mit Blick auf Verkehrsregulierungsmaßnahmen zeigte sie, dass „Sicherheit“ in der DDR nicht nur als Gefahrenabwehr, sondern zunehmend als vorbeugendes Handeln konzipiert wurde. Diesen Wandel vom Abwehr- zum Präventionsparadigma des Staates untersuchte Kuschel am Beispiel der Verkehrserziehung. Schließlich dienten ihr die Debatten um die Einführung der Gurt- und Helmpflicht als Nukleus, um die Ähnlichkeiten des Sicherheitsdiskurses jenseits der ideologischen Grenzen aufzuzeigen: In beiden deutschen Staaten wurde die Einführung als Angriff auf die persönliche Freiheit kritisiert. Insgesamt zeigte der Vortrag, dass Maßnahmen zur Erhöhung der Verkehrssicherheit im Westen auf Selbstverantwortung und Individualismus beruhten, während diesen in der DDR eine Steuerungsutopie zugrunde lag, die auf der Prämisse beruhte, das Verhalten der Menschen planbar(er) und sicher(er) machen zu können.

RÜDIGER BERGIEN (Potsdam) richtete anschließend den Blick auf den Zusammenhang von Computerisierung der inneren und äußeren Sicherheit der Bundesrepublik beziehungsweise der DDR und politischen wie gesellschaftlichen Entwicklungen. Bergien zeichnete dazu die Einführung EDV-basierter Informationssysteme im Bundeskriminalamt sowie im Ministerium für Staatssicherheit nach. Diese sei erst dadurch möglich geworden, dass es bestimmten Kriminalisten im Verlauf der 1960er-Jahre gelungen war, die zeitgenössische (analoge) Informationsverarbeitung als Sicherheitsrisiko darzustellen. Der hier aufkommende Kriminalitätsdiskurs habe ein Versagen der Polizeibehörden in der Aufklärung von Massendelikten wie PKW-Diebstählen oder der Fahndung nach „reisenden Verbrechern“ vermittelt, während der Vergleich mit den fortschrittlichen US-amerikanischen Sicherheitsbehörden auf dem Gebiet der Datenverarbeitung den Aufbau von EDV-gestützten Informationssystemen als Ausweg erscheinen ließ. Als das 1972 eingeführte „Informationssystem Polizei“ die Erwartungen im „Deutschen Herbst“ 1977 nicht erfüllen konnte, veränderte sich diese Wahrnehmung erneut diametral und die EDV wurde nunmehr vom Problemlöser zum Problemerzeuger degradiert. Auch in der DDR seien sicherheitspolitische Erwägungen die treibende Kraft hinter der Einführung von Computersystemen gewesen. Insgesamt sei die Computerisierung der inneren Sicherheit im Kontext gesellschaftlicher und soziotechnischer Wandlungsprozesse zu sehen – und gleichermaßen als Produkt unterschiedlicher Versicherheitlichungsdiskurse aufzufassen.

KAI NOWAK (Leipzig) fokussierte in seinem Kommentar zum einen die Asymmetrie des deutsch-deutschen Vergleichs der Verkehrssicherheit: Neben der Westorientierung ostdeutscher Verkehrsexperten könne hier weiter nach konkreten „Versprechen“ von Verkehrssystemen oder den Implikationen des Steuerungsoptimismus zwischen Konformität und Nonkonformität in unterschiedlichen ideologischen Kontexten gefragt werden. Auf der anderen Seite fragte Nowak mit Blick auf die Computerisierung der Sicherheitsbehörden, wie in diesem Zusammenhang diskursiv Evidenzen erzeugt wurden und machte auf gegenläufige Tendenzen im Versicherheitlichungsprozess aufmerksam, die für beide deutsche Staaten berücksichtigt werden müssten.

Das zweite Panel zum Thema „Sicherheit und Strafvollzug“ leitete ANNELIE RAMSBROCK (Potsdam) mit Überlegungen zur Freiheitsstrafe im sicherheitspolitischen Denken der Bundesrepublik ein. Sie ging der Frage nach, inwieweit Konzepte von Sicherheit mit der politischen und sozialen Sinngebung der Freiheitsstrafe korrespondierten. Unter der Prämisse, dass liberale und demokratische Gemeinwesen mit ihren verbrieften Grundrechten die Sicherheitskultur an das politische Primat der Freiheit anpassten, spürte Ramsbrock der Geschichte der Freiheitsstrafe nach, deren Zweck seit dem Zweiten Weltkrieg die präventive Herstellung von Sicherheit durch Resozialisierung gewesen sei: Zu dieser Zeit sei zur Erklärung verbrecherischer Verhaltensweisen die Sozialisationstheorie dominant geworden, die mit kriminalbiologischen Erklärungsweisen radikal brach und die Resozialisierung als eine Art „Ersatz-Sozialisation“ hinter Gittern propagierte. Vor dem Hintergrund der zunehmenden politischen Bedeutung der Menschwürde und des Sozialstaatsprinzips habe diese Strafnorm ein Sicherheitskonzept verfolgt, das nicht exkludierend erschien, sondern vielmehr einen Beitrag zur gesellschaftlichen Partizipation leisten sollte – und damit das Spannungsverhältnis von Sicherheit und Freiheit ein Stück weit aufzulösen vermochte.

CAROLINE PETERS (Potsdam) richtete anschließend den Blick auf die Einführung der westdeutschen Bewährungshilfe. Dieses Konzept war in der Nachkriegszeit aus dem Ausland adaptiert und zeitgenössisch als Reaktion auf die „Jugendnot“ Anfang der 1950er-Jahre eingeführt worden, um einer wahrgenommenen Orientierungslosigkeit der Nachkriegsgeneration zu begegnen, die als Ursache für den Anstieg von Jugendkriminalität angesehen worden sei. Peters zeichnete anhand zeitgenössischer Gesetzesbegründungen und Bundestagsdebatten nach, dass bei der Einführung der Strafaussetzung zur Bewährung und der Bewährungshilfe das Argument „Sicherheit“ keine explizite Rolle gespielt habe, sondern die Nichtbegehung weiterer Straftaten durch persönliche Einwirkung auf straffällige Subjekte gewährleistet werden sollte. Damit sei die Strafaussetzung zur Bewährung und die Bewährungshilfe als Teil eines Liberalisierungsprozesses zu verstehen, in dem Konzepte von Freiheit verwirklicht worden seien.

Im anschließenden Kommentar, der von FRANK BÖSCH (Potsdam) vorgetragen wurde, plädierte GABRIELE METZLER (Berlin) mit Blick auf beide Vorträge dafür, den Sicherheitsbegriff dynamischer zu denken, da der Freiheitsentzug in westlich-liberalen Demokratien keine eindeutige Angelegenheit sei. Zudem fragte sie nach den Protagonisten der skizzierten Wandlungsprozesse wie Rechtswissenschaftlern oder Politikern und nach dem Ort der Referenz- beziehungsweise Differenzgesellschaften der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus in diesen Diskursen. Daneben forderte Metzler, dass insgesamt der transnationale Blick sowie die Gender-Perspektive geschärft werden und auch die verzögerte zeitliche Dimension des thematisierten Paradigmenwechsels näher beleuchtet werden müsse.

Das dritte Panel richtete den Fokus auf sicherheitsrelevante Präventivmaßnahmen im Notstandsfall. STEFANIE PALM (Potsdam) beleuchtete in ihrem Vortrag die medienpolitischen Initiativen des Bundesministeriums des Innern für ein Pressenotstandsgesetz in der frühen Bundesrepublik. Im Spannungsfeld von uneingeschränkter Pressefreiheit und staatlichen Sicherheitsinteressen vor dem Hintergrund des deutsch-deutschen Systemkonflikts sei bereits in den frühen 1950er-Jahren die Frage diskutiert worden, wie im „Ernstfall“ mit den Medien umzugehen sei. 1952 wurde so in einem Gesetzesentwurf eine Vorzensur-Behörde konzipiert, die im Ausnahmezustand tätig werden sollte, womit nach damaligen Bedrohungserwartungen ein kommunistischer Aufstand gemeint war. Die Angst vor „gefährlichen Nachrichten“ speiste sich dabei gleichermaßen aus dem Misstrauen gegenüber einer im Notstandsfall frei agierenden „vierten Gewalt“ sowie einem persistenten antikommunistischen Feindbild. Erst 1968 seien derartige Pläne ad acta gelegt worden.

MARTIN DIEBEL (Potsdam) erweiterte diesen Blick auf die bundesdeutsche Notstandsgesetzgebung im Sinne einer deutsch-deutschen Sicherheitsgeschichte und ging der Frage nach, inwiefern die DDR-Regierung im „Bürgerkrieg um die Köpfe“ Einfluss auf die Notstandsgesetzgebung der Bundesrepublik nehmen konnte. Die gegenseitigen Abgrenzungsbemühungen wirkten sich auch auf das hochsensible Feld der Notstandspolitik aus, das von einem Austarieren des Verhältnisses von bürgerlicher Freiheit und Staatsschutz geprägt gewesen sei. Paradoxerweise habe der Systemwettstreit einen zentralen Anteil an einer Liberalisierung beziehungsweise Demokratisierung der westdeutschen Notstandsgesetzgebung gezeitigt: Indirekt durch die bloße Existenz der DDR und die Angst vor einem deutsch-deutschen Bürgerkrieg, direkt durch die intensive DDR-Kampagnenpolitik gegen die Notstandsgesetzgebung. Einerseits strebte die Bundesregierung nun danach, sich stärker von kommunistischen Notstandskonzeptionen abzugrenzen; andererseits wurden so auch politische Maßstäbe für die Legitimation der Sicherheitsgesetzgebung im eigenen Land gesetzt.

In seinem Kommentar ordnete CHRISTOPH NÜBEL (Potsdam) die Vorträge in breitere zeithistorische Linien ein. So regte er an, den Konnex zwischen Staat und Sicherheit – insbesondere den Wandel von Staatlichkeit – intensiver in den Blick zu nehmen und nach der Abkehr vom Paradigma „Ruhe und Ordnung“ zu fragen. Mit Blick auf Sicherheit und Gesellschaft sollten hingegen noch stärker Öffentlichkeiten als „Resonanzboden“ von Sicherheitspolitik erforscht werden. Nübel plädierte darüber hinaus dafür, dass eine (gegenwartsorientierte) Zeitgeschichte der Sicherheit insgesamt dazu beitragen könne, entgegen einer Liberalisierungserzählung weiterhin persistente illiberale Elemente von law and order in der Sicherheitsgeschichte der Bundesrepublik aufzudecken.

Die vierte und letzte Sektion stand unter der Überschrift „Innere Sicherheit und soziale Integration“. In seinem Vortrag widmete sich DOMINIK RIGOLL (Potsdam) dem Aufbau des Bundesgrenzschutzes (BGS) nach 1951 als „Problem der inneren, äußeren, materiellen und emotionalen Sicherheit“. Wurde die Gründung des BGS in der bisherigen Forschung vor allem mit Blick auf die innen- wie außenpolitischen Bedrohungsszenarien eines kommunistischen Aufstands beziehungsweise eines Angriffs des „Ostblocks“ wahrgenommen, entwickelte Rigoll die These, dass sich die sicherheitspolitische Bedeutung des BGS deutlich vielschichtiger darstellte: Nach seiner raschen Aufstellung sei ihm vielmehr auch die Funktion zugekommen, die „rechte Opposition“ für die frühe Bundesrepublik zu gewinnen. Diesen Gruppen sei die Bundesregierung vor allem in den 1950er-Jahren mit einer „Umarmungstaktik“ in Form einer inkludierenden Sicherheitspolitik begegnet, die eine materiell-sozialpolitische wie ideelle Absicherung des „rechten Klientels“ zum Ziel gehabt habe. Der BGS fungierte dabei als „Auffangbecken“ für einstige Gewaltexperten des NS-Regimes. Das Phänomen der „emotionalen Absicherung“ beschrieb Rigoll demgegenüber einerseits im Bemühen der Adenauer-Regierung, die Gefühle und Ängste der „national gesinnten Wählerschaft“ ernst zu nehmen. Andererseits habe sich dies auch in der Ausrichtung der Sicherheitspolitik manifestiert, die explizit als Demonstration von Stärke konzipiert worden sei.

JUTTA BRAUN (Potsdam) referierte abschließend über Gewalt und Gewaltprävention im deutschen Fußball, wobei sie sich dem Phänomen über Versicherheitlichungsprozesse des Fußballs und der in seinem Umfeld stattfindenden Großveranstaltungen in Ost und West annäherte. Braun fragte danach, auf welche Weise sich sowohl die Interpretationen von Gewaltursachen als auch die Standards der Gewaltprävention und -einhegung im Lauf der deutsch-deutschen Geschichte gewandelt hätten. Insbesondere seit den 1970er-Jahren sah sich der Deutsche Fußballbund mit wachsenden Gewaltpotentialen vor allem bei Länderspielen konfrontiert. Anfang der 1980er-Jahre kam es zu einer tiefgreifenden Verzahnung von Fußball-„Chaoten“ und rechtsextremem Milieu, mit deren Aufkommen eine räumliche Ausdehnung der gewalttätigen Auseinandersetzungen über das Stadion hinaus einherging. Fußballrandalierer wurden zunehmend als ernstzunehmendes Sicherheitsproblem wahrgenommen. Dies zog einerseits ein härteres Vorgehen der westdeutschen Sicherheitsbehörden nach sich, andererseits wurden aber auch als Reaktion „von unten“ die ersten „Fanprojekte“ aus dem Umfeld der „aufsuchenden Jugend- und Sozialarbeit“ gegründet. Zwar hatte auch der DDR-Fußball mit ähnlichen Problemen zu kämpfen, jedoch unterblieb vor allem aus ideologischen Gründen eine öffentliche Diskussion darüber bis zum Ende des SED-Staates. Eine neue Intensität der Gewalt entlud sich dann in den Hooligan-Szenen des wiedervereinigten Deutschlands, der die Sicherheitsbehörden etwa durch die Einrichtung der umstrittenen Datenbank „Gewalttäter Sport“ beim Bundeskriminalamt begegneten.

In seinem Kommentar verglich MARCUS BÖICK (Bochum) die beiden sehr unterschiedlichen Vorträge und betonte drei Dimensionen, die weiterführende (sicherheitshistorische) Fragepotentiale auch für andere Forschungsfelder bereithielten. Erstens plädierte er für eine Verknüpfung von Sicherheits- und Gewaltgeschichte, etwa mit Blick auf die Diskussion gesellschaftlicher Gewaltpotentiale und deren Zähmung. Zweitens müsse Sicherheitsgeschichte stärker als Gesellschaftsgeschichte betrieben werden, hier insbesondere in der Analyse „expertographischer Perspektiven“ auf „Problemzonen der Gesellschaft“, wie sie in beiden Vorträgen zum Vorschein gekommen seien. Drittens könne Sicherheitsgeschichte Alternativerzählungen zu etablierten Narrativen liefern, so etwa zur „Erfolgsgeschichte“ der Liberalisierung und des Wirtschaftswunders oder aber einer Fußballgeschichte als konflikthafter und somit keineswegs „glatt“ verlaufender Professionalisierungsgeschichte.

In seinem Abschlusskommentar begrüßte ECKART CONZE (Marburg) die jüngste Weiterentwicklung und Ausdifferenzierung der historischen Sicherheitsforschung und betonte, dass die „Brille“ der Sicherheitsgeschichte auch in den in Potsdam diskutierten Kontexten einen veritablen analytischen Mehrwert geboten habe. Die Veranstaltung habe einerseits für Fragen von Sicherheit und Systemkonkurrenz in ihren verflechtungsgeschichtlichen Dimensionen sensibilisiert: Hier ließe sich noch stärker danach fragen, inwiefern das „Sicherheitsversprechen“ in unterschiedlichen Systemen zur Legitimation von Staat und Herrschaft beitrug. Andererseits habe die Sicherheitsperspektive auch auf das Verhältnis von Versicherheitlichungs- und Liberalisierungsprozessen aufmerksam gemacht. Hier warb Conze für eine Aufweichung der scharfen Dichotomie von „Sicherheit“ und „Freiheit“. Dieser vermeintliche Gegensatz sei keineswegs essentialistisch: „Sicherheit“ verweise immer sowohl auf liberalisierende als auch deliberalisierende Entwicklungsdynamiken. Er plädierte anschließend für eine intensivere Auseinandersetzung mit der longue durée von Sicherheitsgeschichte(n) und der Herausbildung eventueller (nationaler, aber auch europäischer) sicherheitspolitischer Pfadabhängigkeiten und Sicherheitskulturen. Ein weiteres bedeutsames Potential der Sicherheitsgeschichte liege darüber hinaus in einem genuin zeithistorischen Beitrag zur sozialwissenschaftlichen Theoriebildung, der zur Schärfung der historischen Tiefendimension der dort diskutierten Phänomene beitragen könne. Zuletzt betonte Conze die Bedeutung der historischen Sicherheitsforschung für gegenwärtige gesellschaftliche Problemlagen. Insbesondere sollten Zeithistoriker/-innen den Aufstieg von „Sicherheit“ als omnipräsenter politischer und gesellschaftlicher „Leitvokabel“ reflektieren und dabei auch ihre eigene Rolle als Teil einer „akademischen Sicherheitsindustrie“ kritisch hinterfragen.

Gilt nun also der Imperativ „Safety first“ auch und insbesondere für die deutsch-deutsche Zeitgeschichtsforschung? Die intensiven und anregenden Debatten im Rahmen des Workshops haben in jedem Fall eindrucksvoll unterstrichen, welchen analytischen Mehrwert eine dezidiert sicherheitshistorische Perspektive auch für Gegenstände mit sich bringt, die auf den ersten Blick möglicherweise nicht „sicherheitsrelevant“ wirken. Bei aller Dynamik, die das Forschungsfeld derzeit ausmacht, wurde aber gleichermaßen deutlich, dass hier weiterhin großes Erkenntnispotential für die allgemeine Zeitgeschichtsforschung ruht. Insbesondere sei hier auf die in der Diskussion mehrfach angeklungene Perspektiverweiterung auf Formen und Praktiken der nicht-staatlichen oder privaten Sicherheitsproduktion verwiesen. Dabei könnte der Fokus zum einen auf konkrete Akteure der Sicherheitsproduktion gelegt werden: Jenseits des Staates bieten hier vor allem privatwirtschaftliche Sicherheitsanbieter, aber auch Sicherheitstechnologien sowie die dahinterstehenden Unternehmen erhebliche Erkenntnispotentiale. Dieser akteurszentriertere Fokus könnte auch helfen, die Entstehung von „Angst-Märkten“ zu vermessen und dabei Praktiken der Selbst- und Eigensicherheit zu untersuchen. Zum anderen erscheinen weitergehende Forschungen zu diskursiven Formationen und Aushandlungen der Sicherheitsproduktion gewinnbringend: So ließe sich mit Blick auf die kommunikative wie symbolische Dimension von Sicherheit nach den Interdependenzen der materiellen und immateriellen Sicherheitsproduktion fragen und noch stärker auf die Bedeutung der Medien beziehungsweise medialer Gegenbeobachtungs- und Skandalisierungslogiken mit Blick auf Sicherheitsfragen fokussieren. Darüber hinaus scheinen schließlich auch vergleichende Untersuchungen nationaler Sicherheitskulturen und -konzeptionen als vielversprechende Desiderata. Mit Sicherheit dürfte das Thema damit auch in Zukunft ein zentrales Betätigungsfeld der Zeitgeschichte bleiben.

Konferenzübersicht:

Frank Bösch (Potsdam): Begrüßung

Martin Diebel / Franziska Kuschel / Dominik Rigoll (alle Potsdam): Einführung

Panel 1: Sicherheit und Verkehr

Franziska Kuschel (Potsdam): Das Versprechen von Glück und Sicherheit. Die Versicherheitlichung des Straßenverkehrs in der SBZ/DDR

Rüdiger Bergien (Bergien): Kraftfahrzeugdaten als „Lebensfrage“. Von der Motorisierung der Gesellschaft zur Digitalisierung der inneren Sicherheit

Kommentar: Kai Nowak (Leipzig)

Panel 2: Sicherheit und Strafvollzug

Annelie Ramsbrock (Potsdam): Resozialisierung als Prävention. Die Freiheitsstrafe im sicherheitspolitischen Denken der Bundesrepublik

Caroline Peters (Potsdam): „Es geht keineswegs darum, Gnade zu üben.“ Kriminalpolitische Argumentationen bei der Einführung der westdeutschen Bewährungshilfe

Kommentar: Gabriele Metzler (Berlin)

Panel 3: Sicherheit für den „Tag X“

Stefanie Palm (Potsdam): „Gefährliche Nachrichten“. Die Initiativen des Bundesinnenministeriums für ein Pressenotstandsgesetz

Martin Diebel (Potsdam): Bürgerkrieg in den Köpfen. Der Konflikt um die Notstandsgesetzgebung als deutsch-deutsche Sicherheitsgeschichte

Kommentar: Christoph Nübel (Potsdam)

Panel 4: Innere Sicherheit und soziale Integration

Dominik Rigoll (Potsdam): Sicherheitsgarant und Sicherheitsrisiko. Der Aufbau des Bundesgrenzschutzes als Problem der inneren, äußeren und sozialen Sicherheit

Jutta Braun (Potsdam): Vom Troublemaker zum Integrationsstifter? Gewalt und Gewaltprävention im deutschen Fußball vor und nach 1989

Kommentar: Marcus Böick (Bochum)

Abschlusskommentar
Eckart Conze (Marburg)

Anmerkungen:
1 Siehe zum Beispiel: Renate Köcher, Das Sicherheitsgefühl der Deutschen erodiert, in: FAZ online vom 24.08.2016, URL: http://www.faz.net/aktuell/politik/kampf-gegen-den-terror/terror-angst-der-deutschen-nimmt-laut-allensbach-studie-zu-14402481.html (18.12.2018) oder Jan Kixmüller: Die Angst vor der Angst der anderen, in: Potsdamer Neueste Nachrichten online vom 24.01.2018, URL: https://www.pnn.de/wissenschaft/potsdamer-tagung-zur-angst-die-angst-vor-der-angst-der-anderen/21293322.html (18.12.2018).
2 Nicht zuletzt durch die beiden Sonderforschungsbereiche „Dynamiken der Sicherheit. Formen der Versicherheitlichung in historischer Perspektive“ (Marburg / Gießen) und „Bedrohte Ordnungen“ (Tübingen). Siehe hierzu zuletzt als konziser Überblick über das dynamische Forschungsfeld: Eckart Conze, Geschichte der Sicherheit. Entwicklung – Themen – Perspektiven, Göttingen 2018.