Perspektivwechsel – Protokolle und Oral History-Interviews als Quellen einer Neuen Geschichte (der Arbeit)

Perspektivwechsel – Protokolle und Oral History-Interviews als Quellen einer Neuen Geschichte (der Arbeit)

Organisatoren
Professur für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Katja Patzel-Mattern, Universität Heidelberg
Ort
Heidelberg
Land
Deutschland
Vom - Bis
11.02.2019 - 12.02.2019
Url der Konferenzwebsite
Von
Theresa Jacobi, Historisches Seminar, Universität Heidelberg

Protokolle und Oral History werden in der aktuellen Forschung zur Geschichte der Arbeit immer präsenter und stellen HistorikerInnen vor Herausforderungen und Chancen zugleich. Der Workshop, der im Rahmen des Forschungsprojekts „Aushandlung und Teilhabe im Programm ‚Humanisierung des Arbeitslebens‘“ der Hans-Böckler-Stiftung stattfand, diskutierte methodische Fragen im Umgang mit diesen beiden Quellengattungen, sowie deren Potentiale. Als ExpertenInnen führten Nina Kleinöder (Marburg) und Knud Andresen (Hamburg) durch die zwei Workshop-Tage und bereicherten durch ihre Inputvorträge die Diskussionen. Während am ersten Tag die Protokolle im Vordergrund standen, befasste sich der zweite Tag mit der Oral History. Die Abschlussdiskussion führte die Erträge zusammen. Da die Veranstaltung als Workshop konzipiert war, bot sich nach den jeweiligen Vorträgen viel Raum für Diskussionen, Anmerkungen und weiterführende Fragen.

Der Workshop begann mit einem Input von NINA KLEINÖDER (Marburg). In ihrem Einstiegsvortrag, der als ein Plädoyer für die Quellengattung Protokoll verstanden werden kann, arbeitete die Historikerin sorgfältig die Chancen und Komplexität dieser Quelle heraus. Protokolle dienten vor allem dazu, soziale Prozesse und Hierarchien zu fixieren, die es rückblickend zu rekonstruieren gälte. Wichtig sei es jedoch, sich der Subjektivität der Protokolle bewusst zu sein. Kleinöder forderte einen sorgfältigeren Umgang mit der Quellengattung, deren Analyse schon in der äußeren Form, also der Frage nach der Reproduktion, der Protokollmacht, den Adressaten und der Zugänglichkeit beginne. Die Digitalisierung der Protokolle helfe, soziale Netze sichtbar zu machen und eine genauere Suche nach Personen oder Begriffen zu ermöglichen. Kleinöder spannte den Bogen zur Oral History, in dem sie sich dafür aussprach, dass es bei der Analyse der Protokolle hilfreich sein könne, die an ihrer Entstehung beteiligten Personen zu befragen. Drei Aspekte, so das Fazit der Historikerin, seien bei der Analyse der Protokolle unumgänglich: 1. die Auseinandersetzung mit sozialen Aspekten, darunter fallen die Akteure, ihre Beziehungen und deren Inszenierung, sowie die Art des Sprechens; 2. die Dynamik, genauer die Entwicklung der protokollierten Inhalte und ihr Zeitverlauf und 3. der Inhalt. Hier seien insbesondere die angesprochenen Themen und Entscheidungen in den Mittelpunkt zu rücken.

Die nächste Rednerin, CHRISTINA LIPKE (Hamburg), führte aus, dass es einerseits von Vorteil für ihr Projekt sei, dass die Revolution in Hamburg sehr bürokratisch gewesen sei und sie daher über eine gute Quellenlage verfüge. Andererseits warf Lipke eine Schwierigkeit des Protokolls auf, dessen Relevanz in der darauffolgenden Debatte von den MitdiskustantInnen bestätigt wurden: die große, vorhandene Anzahl der Schriftstücke und die damit erschwerte systematische Sichtung für das eigene Forschungsvorhaben. Weiter stellte die Historikerin fest, dass Protokolle als Quelle nicht alleine ausreichend seien, vielmehr müssten sie durch andere Quellenarten ergänzt werden, die der notwendigen Kontextualisierung dienen. Neben Fragen der Quellenauswahl und -systematisierung, wurde in der Diskussion die Quellenkritik thematisiert. Zu dieser gehöre zum einen die Auseinandersetzung mit einer zunehmenden Standardisierung von Protokollen, zum anderen das Herausarbeiten von Emotionen.

Daran schloss sich ARNE SCHOTT (Heidelberg) mit seinem Vortrag an. Die Herausforderung im Umgang mit den Niederschriften der Humanisierungsprojekten ist die Parteilichkeit der WissenschaftlerInnen. Im Sinne der Aktionsforschung verfolgten sie eine eigene Agenda, die sie anfertigten. Hinzu kommt, dass die Protokolle mit zeitlichem Abstand zum Geschehen niedergeschrieben wurden. Schott sieht aber auch Chancen in dieser Art von Quelle. So werden die historischen Akteure greifbar, dadurch dass sie lebendig beschrieben werden, Konflikte und Haltungen aufgezeigt und Informationsgefälle sichtbar werden. Zudem können Arbeitsabläufe detailliert rekonstruiert werden. Es stellt sich jedoch auch die Frage, welche Informationen in den Gedächtnisprotokollen zurückgehalten wurden. Als Ergebnis wurde erarbeitet, dass vor allem das soziale und hierarchische Verhältnis zwischen den verschiedenen Akteursgruppen aus den Quellen herauszulesen sei. Auch sprachliche und formale Veränderungen der Protokolle lassen sich aufgrund der großen Zeitspanne des Humanisierungsprojekts in Peine erkennen. Dadurch zeige sich obendrein eine Eigendynamik im Umgang mit der Protokollaufzeichnung.

Der Beitrag von ANNE LENA MEYER (Hamburg) befasste sich vor allem mit der Frage, wie sich Beziehungen und Konflikte aus den Niederschriften des Revolutionsgremiums herauslesen lassen. Meyers Projekt stehen überwiegend Verlaufs- und Ergebnisprotokolle zur Verfügung. Insbesondere Letztere stellten die Historikerin vor Herausforderungen, da diese für die Öffentlichkeit bestimmt waren und, vermutlich um die Beteiligten zu schützen, weder Namen nennen, noch Diskussionsverläufe abbilden. Dennoch können aus den Protokollen Motivationen des Wirtschaftsrats sowie Konflikte und Beziehungen zwischen dem Wirtschaftsrat und dem Arbeiter- und Soldatenrat herausgelesen werden. Dazu ist es notwendig, den Weg der Aufzeichnungen nachzuvollziehen. So muss beispielsweise herausgefunden werden, wer Zugang oder Einfluss auf die Dokumente hatte. Mayer konkludiert, dass den Schriftstücken die besondere Rolle der Beweisführung zukam und als Machtmittel effektiv eingesetzt wurden. Im Gespräch nach Meyers Vortrag wurde herausgearbeitet, dass insbesondere die Machtverteilung durch präzise Analyse innerhalb der Räte nachvollzogen werden kann.

KATHARINA TÄUFERT (Bochum) stellte in ihrem Vortrag ihre qualitative Argument- und Debattenanalyse der Protokolle der DGB-Kongresse vor. Bei den zu analysierenden Aufzeichnungen handelt es sich um in Buchform publizierte Wortprotokolle mit Fotodokumentation. Anhand der Quelle lassen sich thematische Komplexe und Schwerpunkte gewerkschaftlicher Arbeit sichtbar machen, vor allem Reaktionen und Meinungen zur gesellschaftlichen und politischen Lage aus der Sicht des DGBs sowie sprachliche und argumentative Veränderungen der medialen Darstellung. Nach Meinung Täuferts benötige es allerdings weiterer Überlieferungen anderer Verbände, um zu einer realistischen Einordnung gelangen zu können. Die Diskussion im Anschluss an ihre Präsentation hob noch einmal hervor, wie wichtig ein reflektierter Umgang mit politisch motivierten Quellen ist. Da auch die gewählten Themen der Kongresse ein Politikum darstellten, muss ebenso gefragt werden, welche Themen nicht aufgenommen wurden. Überdies gilt es zu prüfen, ob es Schriftstücke zu informellen Absprachen und nicht öffentlich geführten Debatten gibt.

Der zweite Workshop-Tag, der sich dem Thema der Oral History widmete, wurde von KNUD ANDRESEN (Hamburg) moderiert. Mit seinem Impulsvortrag führte Andresen in den Umgang mit dieser Quellengattung ein. Die Oral History ist ein biografischer Zugang, der personale Akteure in den Vordergrund rückt und der HistorikerInnen an der Entstehung der Quelle selbst beteiligt. In den Zeitzeugengesprächen behält der Interviewte während des Gesprächs die Oberhand, da dieser entscheidet, was er preisgeben möchte und was nicht. Erinnerungen sind dabei keine Sachaussagen sondern subjektive und emotionale Berichte. Die Nach- und Aufarbeitung obliegt jedoch wieder dem Interviewer. Andresen führt an, dass es bei dieser Methode schwierig sei, etwas über den Alltag zu erfahren, da dieser oft in Vergessenheit gerät. Thematisiert werden dagegen häufig Erinnerungen an starke Emotionen. Andresen mahnt zu einer gesunden Skepsis gegenüber dem Erzählten, weil Akteure dazu neigen, ihre Biografien im Nachhinein in einen Sinnzusammenhang zu stellen, um eine Kohärenz des eigenen Lebenslaufes zu schaffen. Außerdem würden sie von medialen Diskursen oder ihrem Milieu beeinflusst. Man müsse sich in die Geschichte des Interviewten „verlieben“ und eine gesunde Neugier mitbringen, schließt der Historiker seinen Input.

Darauf folgte SANDOR MOLNÁR (Debrecen) mit seinem Vortrag. Er stellt das persönliche Schicksal des Pastors Deme Lázslóig in den Mittelpunkt seiner Forschung. Dieser stehe stellvertretend für das pastorale Leben in Ungarn im frühen 20. Jahrhundert. Als Quellenmaterial stehen Molnar ein aufgezeichnetes Interview aus einem Nachlass sowie Presbyteriumsprotokolle und ein handschriftliches Tagebuch zur Verfügung. Auch der Interviewer konnte ausfindig gemacht werden. Ein Hindernis in der Forschung in Ungarn sei es, dass viele Quellen verschollen oder noch nicht zugänglich sind bzw. sich im privaten Besitz befinden. Die Debatte zu Molnárs Vortrag bezog sich vorrangig auf die Herausforderung im Umgang mit dem Recht an Tonbandaufnahmen und Interviews. Dazu wurde angemerkt, dass Quellen in jedem Land einer eigenen Gesetzgebung unterliegen und man diese berücksichtigen muss. Auch wird die Frage nach dem Verhältnis zwischen Transkript und Interview gestellt, die im folgenden Vortrag von Laura Moser intensiv verhandelt wird.

LAURA MOSER (Heidelberg) führte zu Forschungszwecken selbst die Interviews im Feld der Fürsorgearbeit. Eigentliches Forschungsziel der Historikerin war es, mit Hilfe von Interviews mehr über die Praktiken der frühkindlichen Erziehung zu erfahren. Insgesamt wurden dazu 16 Interviews mit Tagesmüttern geführt. Während der Gespräche musste die Interviewerin feststellen, dass sie weniger über Erziehungspraktiken, sondern viel mehr über den „Beruf“ der Tagesmutter an sich erfuhr. Die darauffolgende Debatte bestätigte, die von Andresen zuvor aufgestellte These, dass die Interviewten bei Gesprächen die Oberhand behalten und dem Experten nur jene Informationen liefern, die sie im Moment des Gesprächs preisgeben wollen. So kann es vorkommen, dass Interviewergebnisse sich nicht mit dem eigentlichen Forschungsinteresse decken. Dadurch können jedoch auch innovative Forschungsfragen und Zugänge ermöglicht und neue historische Narrative geschaffen werden. Andresen merkte dazu an, man müsse sich auf die Irritation einlassen. Mit dem Blick auf die Dokumentation wurde festgehalten, dass es in Oral History-Forschungsprojekten wichtig sei, ergänzend zur Verschriftlichung der Interviews auch die Transkriptionsleitfäden mit zu überliefern, um Transparenz über das Vorgehen zu schaffen.

Eine andere Quellenart stellte ERDOGAN GEDIK (Frankfurt) in seinem Vortrag vor. Sein Habilitationsprojekt stellt Einzelschicksale von Gastarbeitern in der Zeit von 1950–1980 durch die Aufarbeitung und Analyse von Tonbandbriefe in den Mittelpunkt. Tonbandbriefe wurden von türkischen Gastarbeitern auf Kassetten aufgenommen und an die in der Türkei lebenden Familien geschickt. Dies sei eine Möglichkeit gewesen, den Verwandten in der Heimat über das Leben in Deutschland zu berichten. Die zurückgelassene Familie konnte ebenfalls Botschaften an den in Deutschland lebenden Gastarbeiter senden. So entstand eine einzigartige Quellenart, die, neben Beruf und alltäglichem Leben auch gesellschaftliche Konstrukte, Fragen nach der Rolle der Frau und gesellschaftlichen Normen im Wandel, aufzeigt. Die Tonbandbriefe haben eine besondere Bedeutung, da sie helfen die subjektiven Erfahrungen der Gastarbeiter zu verstehen und für den Sender, wie den Empfänger sehr emotional waren. In den anschließenden Fragen erklärte er, dass sich auch die Themen und Stimmlagen verändern, je nach dem für welches Publikum der Tonbandbrief gedacht war. Eine Problematik dieser Quellenart ist die Sprachbarriere, denn die Aufnahmen sind in Kurdisch, Zazaki und Türkisch verfasst, was auch die Übersetzung in die deutsche Sprache erschwert.

Die Abschlussdiskussion machte deutlich, dass Protokolle und Oral History neue Erkenntnisgewinne für die Geschichtswissenschaft liefern. Sie müssen jedoch durch weitere Quellen ergänzt werden, um ein komplexes Bild einer Neuen Geschichte der Arbeit liefern zu können. Letztlich sollte am Ende einer wissenschaftlichen Arbeit die Konstruktion eines Narratives mitgeliefert werden. Die Chance besteht darin, sich von der „Geschichte der Großen“ abzuwenden und die Pluralität von Leben und Arbeit sichtbar zu machen. Während des Workshops wurde deutlich, dass es für HistorikerInnen mehr denn je von Bedeutung ist, sich der Geschichte derer zu öffnen, die bisher oft in Vergessenheit gerieten, weil sie keine klassischen, schriftlichen Quellen hinterließen, aber dennoch maßgeblich zur wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und sozialen Entwicklung beitrugen. Die bisher in der Wirtschafts- und Sozialgeschichte meist privilegierte Makroebene wird durch persönliche Perspektiven und alltagspolitische Dynamiken erweitert. Neue und differenzierte Blicke auf eine Geschichte der Arbeit werden möglich.

Konferenzübersicht:

I. Teil: Protokolle

Nina Kleinöder (Universität Marburg): Die Dokumentation von Sprach- und Handlungsakten als methodische Herausforderung der Quellenarbeit.

Christina Lipke (Universität Hamburg): Revolutionärer Alltag? Protokolle als Zugang zur Alltagsgeschichte der Revolution 1918/19.

Arne Schott (Universität Heidelberg): Zwischen Widerständikeit und Anpassung. Die Humanisierungsprojekte in der Peiner AG als Herausforderung für das mittlere Management.

Anne Lena Meyer (Museum für Hamburgische Geschichte): Konflikt und Einigung? Zur Beziehung zwischen Wirtschaftsrat und Arbeiter- und Soldatenrat in Hamburg 1918/19.

Katharina Täufert (Universität Bochum): Inmitten medialer Selbstdarstellung, gewerkschaftlicher Auseinandersetzung und parteipolitischer Nähe – Armut und Arbeitslosigkeit als Themen der DGB-Bundeskongresse.

II. Teil: Oral History
Knud Andresen (Universität Hamburg): Erfahrungsberichte als Zugang zu Handlungsmotivationen personaler Akteure.

Katharina Bothe (Universität Bremen): Arbeitskulturen im Wandel: Werften im Zeichen von Globalisierung und Migration.

Sándor Molnár (Universität Debrecen): „Ich möchte die wahre Geschichte erzählen, aber bin ich nicht sicher, ob ich darüber alles mitteilen darf“ – Die persönliche Geschichte der Reformierten Pastoren im Sozialismus.

Laura Moser (Universität Heidelberg): „Solche Sachen soll man nicht für Geld machen“ – Professionalisierung und Praktiken häuslicher Kleinkindbetreuung in den 1970er-Jahren.

Erdogan Gedik (Universität Frankfurt): From Opel-Rüsselsheim with Love: Tonbandbriefe von Gastarbeitern als neue Quelle der Oral History.


Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Klassifikation
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts