Wahrheitspraktiken

Organisatoren
Bernhard Kleeberg (Professur für Wissenschaftsgeschichte, Universität Erfurt) und Laurens Schlicht (Institut für Kulturwissenschaft, Humboldt-Universität zu Berlin) in Zusammenarbeit mit Larissa Fischer und Bettina Paul (Forschungsprojekt „Vom Polygraphen zum Hirnscanner“)
Ort
Erfurt
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.04.2019 - 26.04.2019
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Von
Bernhard Kleeberg, Max-Weber-Kolleg, Universität Erfurt / Laurens Schlicht, Humboldt-Universität zu Berlin

Die Veranstaltung hatte es sich zum Ziel gesetzt, Wahrheit ausgehend von Praktiken zu diskutieren, die im Rahmen konkreter Situationen oder Situationstypen mobilisiert werden, um bestimmte Ziele zu erreichen. Klassische Felder, in denen Wahrheit immer wieder auf unterschiedliche Weise in Entscheidungsprozesse eingebunden ist, sind die Rechtsprechung und die exekutiven und administrativen Funktionen des Staates wie bspw. die Polizei. Während ein inhaltlicher Schwerpunkt der Veranstaltung in diesem Bereich lag, wurde auf der analytischen Ebene der Fokus auf die Untersuchung von Situationen gelegt, in denen die Feststellung, Anrufung oder Widerlegung von Wahrheit funktional ist.

In seiner Einleitung wies BERNARD KLEEBERG (Erfurt) auf den Untersuchungsrahmen hin, der zur Ausrichtung des Tagungsprogramms motiviert hat. Er stellte den Ansatz einer „Praxeologie der Wahrheit“ (Kleeberg/Suter) vor, der Wahrheit als Praxisphänomen bzw. -effekt analysiert und damit eine andere Perspektive auch auf die jüngsten Debatten um Fake-News und Post-Truth bereitstellt: Nicht erkenntnistheoretische, sondern Fragen der Aufmerksamkeitsökonomien, der sozialen (Des-)Integration und der Identitätspolitik rückten damit ins Zentrum. Kleeberg diskutierte die Transformation von Wahrheitsregimes hin zu neuen Formen einer Wahrheit 3.0, die mit neuen, exemplarischen Wahrheitsfiguren wie dem „Fakten-Checker“ einhergehen und klassische Wahrheitsfiguren und ihre je spezifischen Praktiken zunehmend ablösen.

BETTINA PAUL und LARISSA FISCHER (Aachen) stellten ihr Projekt zur soziologischen Erforschung gegenwärtiger Praktiken des Einsatzes des Polygraphen (Lügendetektor) vor. Sie konnten zeigen, dass trotz gegenteiliger Rechtsprechung die Lügendetektion vor Gericht in Deutschland derzeit eine Konjunktur erlebt. Zentral für die Verschiebungen der rechtlichen Praktiken sei eine neue Definition des Verhältnisses von Technik und rechtlichem Subjekt: Wurde Lügendetektion vor den 1980er-Jahren noch als Eingriff in einen zu schützenden Bereich des Innenlebens begriffen, sei dieses Verfahren seitdem zusehends ins Zentrum gerückt. So sei ein (Re-)Legitimierungsprozess der Lügendetektion im Vergleich mit anderen juristischen Begutachtungsverfahren in Gang gesetzt worden, in dem sich ein neues Verhältnis zwischen Rechtssubjekt, Technik und ExpertInnen artikuliere.

MARTIN WIESER (Berlin) untersuchte die sogenannte Operative Psychologie des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR. Als explizit für das MfS etablierte Disziplin sollte die Operative Psychologie dem zweifachen Ziel zuarbeiten, Hilfestellung bei der Zersetzung von Gegnern zu leisten sowie Erkenntnisse über die Zusammenarbeit mit Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) zu liefern. Auf der Basis von Schulungsmaterial der Juristischen Hochschule in Potsdam aus den 1970er- und 80er-Jahren zeigte Wieser, wie die Operative Psychologie Wissen über den Aufbau, die Aufrechterhaltung und Bewertung von zwischenmenschlichen Beziehungen zur Verbesserung der Zusammenarbeit mit IM bereitstellte. Eine minimalkonfrontative Form der Kontaktgewinnung und ein nicht-persuasives Verhalten sollte, so das Schulungsmaterial der Juristischen Hochschule, hierbei ein andauerndes Vertrauensverhältnis zwischen IM und MitarbeiterInnen des MfS ermöglichen.

Am Gegenstand der Weiblichen Kriminalpolizei (WKP) zeigte LAURENS SCHLICHT (Berlin), wie sich diese in den 1920er-Jahren gegründete Sondereinheit der Kriminalpolizei zwischen Polizeiarbeit, Fürsorge und psychologischem Wissen positionierte. Anhand des Nachlasses der Angehörigen der WKP Berta Rathsam aus Regensburg und einer Diskursanalyse von Zeitschriften beschrieb der Referent, wie auf Basis von aussagepsychologischem Wissen Vernehmungssituationen in der WKP gestaltet wurden, die zur Ermittlung der Wahrheit von Kinderaussagen führen sollten. Hierbei stellte er heraus, dass für die Gestaltung solcher Vernehmungssituationen subjektspezifische Konstruktionen des Kindes und der Frau eine ebenso zentrale Rolle spielten wie die Positionierung in einem administrativ-wissenschaftlichen Feld konkurrierender Wahrheitsakteure (Jugendamt, Jugendgericht, Sozialarbeit, LehrerInnen, Psychologie).

MARIA CHRISTINA MÜLLER (Augsburg) untersuchte anhand von Krankenakten der heutigen Klinik für Psychiatrie Kaufbeuren psychiatrische Praktiken des Feststellens von Wahn im Zeitraum 1849–1939. Auf der Basis dieser Krankenakten konnte sie zeigen, welche Wahnthemen im Untersuchungszeitraum Konjunkturen erlebten und welche dominanten Prozeduren zur Feststellung einer Patientenerzählung als Wahn zur Verfügung standen. Sie stellte fest, dass innerhalb der Anstalt die PatientInnennarrative selbst das wichtigste Kriterium waren, um Wahn von Wirklichkeit zu unterscheiden.

DAVID KELLER (Lübeck) beschäftigte sich mit psychologischen Techniken der Beurteilung von „Persönlichkeit“ in den USA der 1920er- und 30er-Jahre. Er widmete sich einem epistemisch und sozial heterogenen Feld der Persönlichkeitsbewertung, das von akademischen AkteurInnen bis zu alltagsweltlich verbreiteter Ratgeberliteratur reichte und in dem ausgehandelt wurde, wer legitimerweise die Wahrheit über die Persönlichkeit sprechen konnte. Mit einem Schwerpunkt auf den Beiträgen von Knight Dunlap, Glen Clayton und Katherine Blackford zeichnete der Referent nach, in welcher Weise epistemische Ideale und die Anrufung von Wahrheit in diesem Abgrenzungsprozess unterschiedlicher Bewertungsinstanzen der Persönlichkeit funktional tragende Rollen übernahmen.

SOPHIE LEDEBUR (Berlin) erweiterte das Gegenstandsfeld des Workshops mit ihrem Beitrag über das späte 18. Jahrhundert. Als Teil einer Geschichte der Dunkelfeldforschung diskutierte sie, ob und wie staatliche Systeme Techniken bereitstellen, um Wissen über noch unentdeckte Verbrechen zu erzeugen. Am Fall des sogenannten Konstanzer Hans, der 1782 in Konstanz verhaftet worden war und in Vernehmungen eine Vielzahl von „Jaunern“ namhaft machte, konnte die Referentin zeigen, wie sich am Ende des 18. Jahrhunderts Systeme der Kontrolle von zukünftigen Verbrechen entwickelten, die u. a. unter Mithilfe von Vigilanten und mittels der Konstruktion einer drohenden Gefahr die Regierung des Unbekannten möglich machen sollten. Auf der Grundlage dieses Falles beschrieb sie zudem neue Techniken der staatlichen Informationsgewinnung im Zuge der aufklärerischen „Humanisierung“ des Strafens. Wie zuvor schon Wieser und Schlicht konnte auch Ledebur deutlich machen, dass im Zuge dieser neuen Auffassung von Strafen und Verbrechenskontrolle Foltergeständnisse problematisch und Praktiken der Informationsgewinnung in emotionalen Situationen wie der Beichte glaubwürdiger wurden, ebenso wie Praktiken des quantitativen Erfassens zur Optimierung der Strafverfolgung. Letztere zeigten wiederum, dass diesem Kontrollstreben der Moderne immer auch ein unzählbarer und unentdeckbarer Rest (Dunkelziffer) entgehen musste.

SUSANNE KRASMANN (Hamburg) richtete den Blick wieder auf die Gegenwart, und zwar auf automatisierte und computergestützte Erfassungspraktiken. Die „Welt der Datafizierung“, so die Referentin, folge einer „Logik der Oberfläche“, die das Versprechen einer umfassenden Datensammlung zur Generierung einer Welt ohne Geheimnisse artikuliere. Algorithmen maschinellen Lernens verschöben ähnlich wie die klassische Statistik die Suche nach Ursachen hin zu der nach Korrelationen und dienten dazu, Repräsentationen einer Welt der Zukunft zu erzeugen, die verschiedenen Zielen dienen können. Unter anderem seien von der Polizei neue Techniken entwickelt worden, die menschliches Verhalten vorhersagten, ohne es verstehen zu wollen. So sei die Wahrheit der Algorithmen – angelehnt an Nietzsches Formulierung – ein „bewegliches Heer von Parametern und Signaturen“, das verstanden werden müsse.

Am Beispiel des Österreichischen Verwaltungsgerichtshofs referierte PETER BECKER (Wien) über Entscheidungsverfahren in Prozessen wegen „beleidigender Schreibweise“, die wegen des Verhaltens von BürgerInnen gegenüber der Verwaltung angestrengt worden waren. Das Gericht musste in diesen Verfahren eine Grenze zwischen berechtigter Kritik und Beleidigung ziehen und bewerten, ob bestimmte mutmaßlich beleidigende Aussagen möglicherweise auch als wahrheitsfähige Sätze über Tatbestände zu begreifen seien. In den Prozessen des Verwaltungsgerichtshofs der 1990er-Jahre sei Sachlichkeit typischerweise dem Verwaltungshandeln zugeschrieben worden, während den angeklagten BürgerInnen tendenziell Unsachlichkeit unterstellt wurde. Becker konnte zeigen, dass die Prozesse wegen beleidigender Schreibweise im Sinne eines emotion work nicht zuletzt der Selbstdisziplinierung der Verwaltung dienten, die sich nicht emotionalisieren sollte.

Anhand einer Untersuchung von brasilianischen Verification Commissions stellte SARAH LEMPP (Bayreuth) Praktiken der Verifizierung im Rahmen von Affirmative Action Policies vor, die seit 2014 im öffentlichen Dienst einen Vorteil für Personen einräumen, die sich selbst als "negro" klassifizieren. Wegen des Verdachts der möglichen Erschleichung von Vorteilen begannen Verification Commissions 2016, diese Selbstkategorisierung zu überprüfen. Auf Basis ihrer ethnographischen Studien analysierte Lempp die konkreten Praktiken dieser Kommissionen, die es sich zum Ziel setzen, im Rahmen der kurzen Überprüfungen des Äußeren von KandidatInnen mithilfe eines trained eye und eines skilled gaze die eyes of the society zu repräsentieren. Im Rahmen dieser Affirmative Action Policy müssen die Kommissionen so zwangsläufig die rassifizierten Kategorien reproduzieren und einen rassifizierten Blick reinstallieren, disziplinieren und formalisieren, dessen Kritik die ursprüngliche Motivation der Einrichtung der Kommissionen war.

Im Schlussvortrag eröffnete MARIIA ZIMINA (Budapest) eine kritische Perspektive auf den Begriff sowjetischer Objektivität. Beginnend mit Marx und Lenin, arbeitete sie die verschiedenen Konzeptionen von Objektivität in verschiedenen Phasen der historischen Entwicklung der Sowjetunion heraus. Zimina machte drei vorherrschende Begriffe von Objektivität und Wahrheit aus: 1912–1953 Pravda, 1953–1964 Scientific Authority und 1964–1985 Staged Truth. Anhand einer Untersuchung des Diskurses der Presse und öffentlichen Medien analysierte die Referentin die Grenzverläufe zwischen Wahrheit und Propaganda und argumentierte, dass auch Glasnost kein Regime der völligen Offenheit installierte.

Als Ergebnis der Tagung wurde im Hinblick auf weitere Forschungen zur Wahrheitsproblematik festgehalten, dass es gewinnbringend ist, Situationen bzw. Szenen, in denen AkteurInnen Wahrheit in den genannten unterschiedlichen Funktionen mobilisieren, in einer sowohl diachron als auch synchron komparativen Herangehensweise zu untersuchen. So wird es möglich, sowohl die kulturellen Kontinuitäten unterschiedlicher Wahrheitsfiguren als auch die Spezifika bestimmter Funktionen von Wahrheit aufzuzeigen.

Konferenzübersicht:

Bettina Paul (Aachen) / Larissa Fischer (Aachen): Wahrheit unter dem Vergrößerungsglas – Über die Bestimmung von Technik, Körper und Subjekt in der deutschen Rechtsprechung zur Polygraphie

Martin Wieser (Berlin): Miteinander reden – aber wie? Zur Problematik des „Aussageverhaltens“ in der Operativen Psychologie des MfS

Laurens Schlicht (Berlin): Vernehmungstechniken der Weiblichen Kriminalpolizei

Maria Christina Müller (Augsburg): Wahn oder Wirklichkeit – Das wichtigste psychopathologische Urteil

David Keller (Lübeck): Auf dem Prüfstand: kulturelles Wissen, diagnostische Praktiken und die Konstitution legitimen psychologischen Wissens über ‚Persönlichkeit‘ in der Psychologie der 1920er und 1930er Jahre

Sophie Ledebur (Wien): Liegt die Prävention im Dunklen? Verfahren des Hervorbringens des unbekannten Verbrechens

Susanne Krasmann (Hamburg): Das Verdikt der Algorithmen. Über Wahrheitsproduktion in Zeiten von Big Data

Peter Becker (Wien): Bürokratische Sprechakte in der Kritik. Wahrheitsansprüche, beleidigende Schreibweise und der Verwaltungsgerichtshof

Sarah Lempp (Bayreuth): With the Eyes of Society? Doing Race in Affirmative Action Practices in Brazil

Marija Zimina (Budapest): Staged Truth: The Notion of Soviet Objectivity