Nationalsozialismus in Kärnten – Wege der Forschung

Nationalsozialismus in Kärnten – Wege der Forschung

Organisatoren
Johannes Dafinger / Dieter Pohl, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt
Ort
Klagenfurt
Land
Austria
Vom - Bis
27.09.2019 -
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Von
Alexandra Pulvermacher, Institut für Geschichte, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt

Obwohl der NS-Gau Kärnten vergleichsweise klein war, spielte er im „Dritten Reich“ eine bedeutende Rolle. NS-Funktionäre aus Kärnten waren besonders einflussreich: Die Kärntner Gauleiter übten ab 1941 auch die Herrschaft in Teilen der besetzten Gebiete im heutigen Slowenien sowie ab 1943 in Norditalien aus, die Verwaltung sowie der Polizei- und Repressionsapparat in diesen Gebieten waren großteils mit Kärntnerinnen und Kärntnern besetzt. Darüber hinaus hatten einige Nationalsozialisten aus Kärnten zentrale Positionen im nationalsozialistischen Herrschafts- und Repressionsapparat im besetzten Europa inne.

In den letzten Jahren sind neue Untersuchungen zur Geschichte des Nationalsozialismus in Kärnten publiziert worden, insbesondere zu einzelnen Institutionen in Kärnten, zu Kranken- und Behindertenmorden, zum Antisemitismus sowie zur Enteignung und Verfolgung der jüdischen Kärntnerinnen und Kärntner, zur Verfolgung der Kärntner Sloweninnen und Slowenen, zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus sowie Regionalstudien. Zum Workshop wurden Autorinnen und Autoren dieser Studien eingeladen, um eine Fortführung und Verbreiterung dieser Ansätze zu diskutieren.

Nach den einleitenden Begrüßungsworten von JOHANNES DAFINGER (Klagenfurt) skizzierte DIETER POHL (Klagenfurt) in seiner Einführung den Stand der NS-Forschung in Kärnten: Im Vergleich zu anderen Bundesländern sei dieses Thema wenig systematisch, eher punktuell erforscht, was nicht zuletzt an der fehlenden Institutionalisierung der Zeitgeschichte in Kärnten liege. Zu den Forschungsdesiderata zählten unter anderem die Themen Kärntner SS, Antiziganismus und Antisemitismus sowie die sowjetischen Kriegsgefangenen in den Lagern Wolfsberg und Spittal, die in Kärnten die größte NS-Opfergruppe darstellten. Es fehle außerdem an einer Gesellschaftsgeschichte mit einer längerfristigen Perspektive, etwa vom Ersten Weltkrieg bis in die 1970er-Jahre.

Das erste Panel setzte sich mit dem Thema Herrschaft und Gesellschaft im Kärntner Nationalsozialismus auseinander. PETER PIRKER (Wien) demonstrierte, wie sich im Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Kärnten regionale und transnationale Handlungskontexte überschnitten. So beschäftigte er sich mit den Versuchen des britischen Geheimdienstes S.O.E. („Special Operations Executive“), seine Agenten mit Hilfe der Kärntner Partisanen nach Österreich einzuschleusen. In seiner kürzlich erschienenen Monographie „Codename Brooklyn“ recherchierte Pirker die Geschichte dreier jüdischer Agenten sowie eines Tiroler Wehrmachtsdeserteurs, die im Rahmen der „Operation Greenup“ dem amerikanischen Geheimdienst OSS Informationen aus der „Alpenfestung“ Innsbruck liefern sollten. Die „Operation Greenup“ sei, so Pirker, ein Beispiel für transnationalen Widerstand, der jedoch nach 1945 stark „renationalisiert“ worden sei.

Im Zentrum von DANIEL WEIDLITSCHs (Klagenfurt) Vortrag stand die Deutsche Arbeitsfront in Kärnten. Diese habe insbesondere bei der Organisation und Disziplinierung jener Arbeiterinnen und Arbeiter, die der „Volksgemeinschaft“ zugerechnet wurden, eine bedeutende Rolle gespielt. Erschwert werde die Erforschung dieses Themas durch die mangelhafte Quellenlage. Daher sei es unbedingt notwendig, Zugang zu Quellen von Kärntner Unternehmen, wie zum Beispiel der Firma Neuner, der Bleiberger Bergwerksunion, der Donauchemie in Brückl zu erhalten.

Im zweiten Panel „Verfolgung und Massenmord“ widmete sich BRIGITTE ENTNER (Klagenfurt) dem Thema Kärntner Sloweninnen und Slowenen als Opfer der NS-Verfolgung, bei dem sich ein verengter Blick auf die Jahre 1938 bis 1945 ergebe. Um die volle Tragweite der nationalsozialistischen Repressionspolitik gegenüber der slowenischen Minderheit zu erfassen, sei eine Einordnung in einen zeitlich viel weiter gespannten Rahmen vonnöten. So habe etwa Alois Maier-Kaibitsch bereits in der Zwischenkriegszeit Listen von Kärntner Sloweninnen und Slowenen erstellen lassen, die von den Nationalsozialisten ab 1938 verwendet wurden. Auch in der Forschung nach 1945 sei die Ausgrenzung von Kärntner Sloweninnen und Slowenen aus der Mehrheitsgesellschaft so „selbstverständlich“ gewesen, dass diese in der historischen Forschung schlicht nicht mitgezählt worden seien, wenn Gesamtzahlen von Kärntner NS-Opfern genannt werden. So seien zum Beispiel zahlreiche der slowenischen Minderheit angehörende Priester und Theologen in der NS-Zeit verhaftet worden, die in der Opferbilanz jedoch nicht als Kärntner Slowenen angeführt wurden.

Den Abschluss der Vormittagspanels bildete der Vortrag von CHRISTIAN KLÖSCH (Wien) über die Gefangenen des Stalags XVIII A in Wolfsberg. Neben Briten, Australiern, Amerikanern, Franzosen, Italienern und 303 Überlebenden des Warschauer Aufstandes wurden im Winter 1941 1.750 sowjetische Kriegsgefangene im Lager untergebracht. Letztere seien auch „rassenkundlich“ vermessen worden – die dabei erstellten Unterlagen seien im Naturhistorischen Museum archiviert. Mitte 1940 lebten von diesen 1.750 sowjetischen Kriegsgefangenen nur mehr 450, 1.300 waren vermutlich einer Typhusepidemie zum Opfer gefallen. In den letzten Jahren habe sich im Zusammenhang mit dem Kriegsgefangenenlager eine sehr rege Erinnerungskultur entwickelt.

Das dritte Panel fokussierte auf Rassen- und Jugendpolitik. Im Mittelpunkt von WERNER KOROSCHITZ’ (Villach) Vortrag stand die von ihm organsierte Ausstellung „Vermessen“, die 2018/2019 in St. Jakob im Rosental zu besichtigen war. Wenige Monate nach dem Anschluss waren in St. Jakob im Rosental 3.200 Gemeindebürgerinnen und -bürger „vermessen“ und anschließend in die Kategorien „arisch“ und „nicht arisch“ eingeteilt worden. Ein Teil der dabei von den NS-Anthropologen angefertigten Unterlagen – Bilder und Messdatenblätter – konnten, so Koroschitz, im Archiv des Anthropologischen Instituts in Wien ausfindig gemacht werden. Diese pseudowissenschaftlichen „rassenkundlichen Vermessungen“ sollten die nationalsozialistische Expansion sowie die geplante Deportation als „rassisch“ minderwertig erachteter Bevölkerungsteile legitimieren.

ALEXANDER VERDNIK (Wolfsberg) ging der Frage nach, inwieweit sich Dokumente der ehemaligen Hauptschule St. Andrä im Lavanttal als Quelle der NS-Forschung eigneten. Ein von 1880 bis 1947 reichendes Dokumentenkonvolut liefere unter anderem aufschlussreiche Informationen zum NS-Alltag. Es entstehe dabei ein Bild der Lehrerin/des Lehrers als Propagandistin/Propagandist sowie der Schule als Mittel der nationalsozialistischen Gleichschaltung und Indoktrinierung. Neben einer sehr detaillierten Dokumentation zahlreicher Gedenkfeiern enthalte die Sammlung auch Belege dafür, dass die Schulkinder von ihren Lehrerinnen und Lehrern überwacht und ideologisch bewertet wurden.

LISBETH MATZER (Köln) erörterte in ihrem Vortrag die Rolle der NS-Jugendorganisationen für die Mobilisierung der slowenischen Jugend in Oberkrain. Der Aufbau der Kärntner Volksbundjugend, aus der sich die Hitlerjugend entwickeln sollte, sei in Oberkrain viel langsamer verlaufen, als etwa im Mießtal. BDM- und HJ-Kader seien nach Oberkrain entsendet worden, um „Aufbauarbeit“ unter der gesamten Oberkrainer Jugend zu leisten. Matzer nannte in diesem Kontext zwei Sonderfälle: die Entsendung von Lehrerinnen und Lehrern aus Salzburg, Wien und Kärnten nach Oberkrain sowie den sogenannten „Oberkrainer Landdienst“, den Oberkrainer Jugendliche für ein Jahr auf Kärntner Bauernhöfen zu leisten hatten, um nach ihrer Rückkehr HJ- und BDM-Gruppen in ihren Heimatorten zu gründen. Beide Maßnahmen seien in Hinblick auf ihre flächendeckende und systematische Umsetzung einzigartig in den deutsch besetzten Gebieten gewesen. Insgesamt sei der Aufbau von NS-Jugendorganisationen in Oberkrain jedoch vor allem aufgrund der mangelhaften Sprachkenntnisse gescheitert. Ein beträchtlicher Teil der umworbenen Jugendlichen habe sich später den Partisaninnen und Partisanen angeschlossen.

Das vierte und letzte Panel widmete sich den Kärntner NS-Netzwerken und den besetzten Gebieten. MICHAEL WEDEKIND (München) analysierte, wie junge Wissenschaftsdisziplinen, wie die Sozial- und Bevölkerungswissenschaft, der (NS-)Politik Raum- und Identitätskonzepte verfügbar machten, die die „Neuordnung“ des Alpen-Adria-Raumes, also Umsiedlungen, Deportationen, Germanisierungspolitik, etc. legitimieren sollten. Als Beispiel für Akteure, die eine solche wissenschaftlich orientierte Politikberatung anboten und die (völkisch grundiertes) sozial- und kulturwissenschaftliches Herrschaftswissen generierten, führte Wedekind das Institut für Kärntner Landesforschung an. Er betonte dabei, dass einige dieser Wissenschaftler, wie beispielsweise Eberhard Kranzmayer und Karl Dinklage, die Politik gezielt beeinflussen wollten und dass ihnen der Nationalsozialismus als annehmbare Variante eigener Wertvorstellungen erschien. Abschließend wies Wedekind darauf hin, dass diese Wissenschaftler ab den 1950er-Jahren wieder Stellen besetzten und sogar Preise bekamen.

RENÉ MOEHRLE (Trier) setzte sich in seinem Vortrag mit der Darstellung von Gewalt in der Operationszone Adriatisches Küstenland (OZAK) in zwei nationalsozialistischen Propagandazeitungen – der Deutschen Adria-Zeitung und der Adria Illustrierten – auseinander. Dabei zeigte er Beispiele von physischer, psychischer und symbolischer Gewalt in den Bildern und mehrsprachigen Texten der beiden Zeitungen. Die deutsche Propaganda, so Moehrle, sei in der OZAK aus Sicht der Nationalsozialisten doch kein völliger Misserfolg gewesen, wie die Forschung lange argumentiert hatte.

BERTRAND PERZ (Wien) rückte Odilo Globocnik und dessen Mitarbeiterstab in den Fokus. Nachdem Globocnik als Wiener Gauleiter selbst für die Nationalsozialisten untragbar geworden war, wurde er nach Lublin versetzt. Dort organisierte er gemeinsam mit seinem aus Wien mitgebrachten Mitarbeiterstab im Rahmen der sogenannten „Aktion Reinhard“ die Ermordung von ca. 1,8 Millionen Jüdinnen und Juden. Da Globocniks nachfolgendes Projekt, die Aussiedlung ethnischer Polen aus der Region um Zamość, zu einer Explosion des polnischen Widerstands führte, wurde er 1943 nach Triest versetzt, wo er als Höherer SS- und Polizeiführer in der OZAK eingesetzt wurde. Globocnik habe sich vehement dafür eingesetzt, seinen Mitarbeiterstab dorthin mitnehmen zu können. Dem Umstand, dass sich zahlreiche Kärntnerinnen und Kärntner darunter befanden, sei weniger Bedeutung zuzumessen als der Tatsache, dass Globocniks Leute eine eingeschworene, ihrem Vorgesetzten loyal ergebene Gruppe bildeten.

In der abschließenden Diskussion wurden zentrale Fragen, welche den Workshop begleitet hatten, nochmals aufgegriffen und intensiv diskutiert. Unter den Teilnehmenden herrschte Konsens darüber, dass einzelne Aspekte der Geschichte des Nationalsozialismus in Kärnten sehr gut erforscht seien, gleichzeitig jedoch gravierende Forschungslücken vorherrschten. Um diese schließen zu können, sei einerseits die Finanzierung von Tagungen und Übersetzungen sowie die Initiierung von Kooperationen, andererseits eine intensivere, möglichst unbürokratische Kooperation mit dem Kärntner Landesarchiv vonnöten. Die Geschichtswissenschaft müsse die Kärntner Politik stärker in die Pflicht nehmen, vor allem wenn es darum geht, Initiativen zur Institutionalisierung der NS-Forschung und ihrer Vermittlung in Kärnten anzustoßen.

Die interessanten Beiträge bewiesen, dass es in der Kärntner Regionalforschung allen widrigen Umständen zum Trotz sehr innovative Ansätze gibt. Einzelne Beiträge, wie beispielsweise von Peter Pirker, Lisbeth Matzer, Michael Wedekind, Rene Moehrle und Bertrand Perz, demonstrierten den Einfluss des Kärntner NS-Gaus und seiner Funktionärinnen und Funktionäre weit über die heutigen Grenzen Kärntens hinaus. Diese Ansätze gilt es zu fördern und Initiativen anzustoßen, um den mehrfach erwähnten Forschungsdesiderata entgegenzuwirken.

Konferenzübersicht:

Johannes Dafinger (Klagenfurt): Begrüßung

Dieter Pohl (Klagenfurt): Einführung

1. Panel: Herrschaft und Gesellschaft
Moderation: Johannes Dafinger

Peter Pirker (Wien): Nationalsozialismus im Oberen Drautal. Von lokalen zu transnationalen Forschungsperspektiven im Alpen-Adria-Raum

Daniel Weidlitsch (Klagenfurt): Regionale Forschungen zum Nationalsozialismus am Beispiel der Deutschen Arbeitsfront in Kärnten 1938–45

2. Panel: Verfolgung und Massenmord
Moderation: Dieter Pohl

Brigitte Entner (Klagenfurt): Kärntner Sloweninnen und Slowenen als Opfer der NS-Verfolgung

Christian Klösch (Wien): Die Gefangenen des Lagers Stalag XVIIIA und seiner Arbeitslager 1939–45

3. Panel: Rassen- und Jugendpolitik
Moderation: Johannes Dafinger

Werner Koroschitz (Villach): Vermessen („Rassenkundliche“ Untersuchungen im Rosental)

Alexander Verdnik (Wolfsberg): Ideologie und Schule. Die Dokumente der ehemaligen Hauptschule St. Andrä im Lavanttal als Quelle der NS-Forschung

Lisbeth Matzer (Köln): Grenzüberschreitende Jugendmobilisierung - Die Kärntner Hitler-Jugend und die Besatzung Sloweniens

4. Panel: Netzwerke und besetzte Gebiete
Moderation: Dieter Pohl

Michael Wedekind (München): Die Kärntner Wissenschaft und die Neuordnung des Alpen-Adria-Raumes

René Moehrle (Trier): Gewalt in der Operationszone Adriatisches Küstenland im Spiegel der NS-Propaganda

Bertrand Perz (Wien): Eine Frage der Herkunft? Kärntner in der Dienststelle des SS- und Polizeiführers Lublin und ihre Beteiligung an „Germanisierung“ und Judenmord

Abschlussdiskussion
Moderation: Johannes Dafinger


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