Instabile Konstruktionen – 3. Jahrestagung des Graduiertenkollegs 2227 „Identität und Erbe“

Instabile Konstruktionen – 3. Jahrestagung des Graduiertenkollegs 2227 „Identität und Erbe“

Organisatoren
DFG-Graduiertenkolleg 2227 „Identität und Erbe“
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
21.11.2019 - 22.11.2019
Url der Konferenzwebsite
Von
Michael Karpf / Katharina Rotté / Oliver Trepte, DFG-Graduiertenkolleg 2227 „Identität und Erbe“, Bauhaus-Universität Weimar

Am 21. und 22. November 2019 fand an der Technischen Universität Berlin die dritte Jahrestagung des Graduiertenkollegs 2227 „Identität und Erbe“ der Bauhaus-Universität Weimar und der Technischen Universität Berlin statt. Es handelte sich zugleich um die Abschlusstagung der Kollegiat/innen der ersten Förderphase, die hier ihre Forschungsergebnisse der letzten drei Jahre vorstellten. Unter dem Titel „Instabile Konstruktionen“ thematisierten die Beiträge das Spannungsfeld zwischen scheinbar stabiler Erbefiguration materieller Artefakte und kultureller Praktiken einerseits und kontingenter sozialer Deutungen oder Funktionen andererseits. Die Vorträge machten noch einmal den interdisziplinären Anspruch des Graduiertenkollegs deutlich, das die Fächer Architektur und Denkmalpflege sowie die Sozial-, Kunst- und Kulturwissenschaften umfasst.

Eröffnet wurde die Tagung mit einer Einführung durch die beiden Sprecher/innen des Kollegs GABI DOLFF-BONEKÄMPER (Berlin) und HANS-RUDOLF MEIER (Weimar), die auf die vermeintliche Widersprüchlichkeit des Tagungstitels verwiesen. Im Hinblick auf die unterschiedlichen Perspektivierungen der Vorträge deuteten sie Instabilität jedoch als positive Qualität und unterstrichen ihren produktiven Wert für die Beforschung von kulturellen Vergangenheitsbezügen. HEIKE HANADA (Berlin) führte dann mit ihrer Keynote zum Begriff des Monumentalen in das Forschungsfeld ein und argumentierte hauptsächlich für eine identitätsfördernde Bedeutung von monumentaler Architektur, die sie anhand einer Werkschau erläuterte.

Die erste Sektion der Tagung thematisierte die Unterschiedlichkeit und den Wandel von Vergangenheitsbezügen in der Architektur. Zunächst zeichnete SIMONE BOGNER (Berlin) den architekturtheoretischen Erinnerungsdiskurs der Nachkriegskongresse des Congrès Internationaux d’Architecture Moderne (CIAM) nach. Hinsichtlich der dort entstandenen Stadt- und Architekturtheorie fragte Bogner, inwiefern Architektur als eine Praxis des Erbens mit eigenen Ein- und Ausschlusskriterien betrachtet werden kann. Sie verwies hierbei auf architektonische Identitätskonstruktionen, die durch die Ausweisung von Orten als (soziale) Räume des Erinnerns entstünden. OXANA GOURINOVITCH (Berlin) zeigte an Fallstudien aus den Sowjetrepubliken Litauen und Weißrussland, wie die dortige Architektur der 1970er- und 1980er-Jahre zur Geltendmachung von lokalen, regionalen und nationalen Identitäten genutzt wurde, indem sie baulich auf imaginierte Vergangenheiten rekurrierte und konkrete Erinnerungsnarrative formierte.

In der zweiten Sektion standen die Verräumlichung von Erinnerungsdiskursen und -praktiken sowie damit einhergehende, zeitlich veränderbare Deutungsmuster im Fokus. Am Beispiel des Militärhistorischen Museums der Bundeswehr in Dresden zeigte JOCHEN KIBEL (Berlin), wie sich institutionelle Selbstverständnisse und Vergangenheitsbezüge in Architektur einschreiben und damit sichtbar gemacht werden können. CLAUDIA JÜRGENS (Berlin) behandelte am Beispiel des „Kangurang“ in Senegambia die Musealisierung von immateriellem Kulturerbe. Sie beschrieb unterschiedliche Visualisierungs- und Materialisierungsbedürfnisse von Erinnerungsgemeinschaften, die eine Sicherung von Tradition für die Zukunft ermöglichen sollen. Jürgens verwies darauf, wie die visuelle Dokumentation eines unsichtbaren Ritus zur Stabilisierung von Identitätskonstruktionen führen kann.

In der dritten Sektion ging es um die Vielfalt der Aushandlungsprozesse von Identitätskonstruktionen und Vergangenheitsbezügen. GEORG KRAJEWSKY (Darmstadt) zeigte am Fall des Runden Tisches „Koloniales Erbe“ in Hamburg, an dem Vertreter/innen verschiedenster Interessengruppen bzw. Erinnerungsgemeinschaften zusammenkommen, die Ein- und Ausschlusskriterien von Erbe-Aushandlungen auf. GÜLSAH STAPEL (Berlin) machte auf die Erinnerungen türkischstämmiger Menschen an den Mauerfall in Berlin aufmerksam und kritisierte damit eine vereinfachte, rein deutsch-deutsche Erinnerungstradition. Mit Blick auf die praktische Umsetzung eines allgemeinen „Rechts auf Erbe“ legte sie die Exklusivität kultureller Identitäts- und Erbekonstruktionen offen, die im Moment der Sichtbarwerdung marginalisierter Perspektiven eine Instabilität erzeuge und neue Konstellationen von inklusivem Erbe ermöglichen könnten. Anschließend zeigte ZOYA MASOUD (Berlin) anhand der Zerstörung der Altstadt Aleppos, wie durch den vollständigen Verlust von materiellen Erinnerungsträgern ein neues Bewusstsein von individuellen und kollektiven Identifikationspunkten mit Raum ermöglicht wird. Raum sei hierbei nicht nur als Ort der Identifikation zu begreifen, sondern auch als ein sozialer Aushandlungsort für die Konstruktion von Identität und Erinnerung. MARIA FRÖLICH-KULIKs (Weimar) Beitrag behandelte die chancenreiche Instabilität von Nutzbauten, die ihre Funktion verloren haben. Sie legte einen Entwurf zur nachhaltigen Landschaftsentwicklung entlang der thüringischen „Pfefferminzbahn“ vor, der Landbahnhöfe als raumstrukturierende Orte bestimmt und sie ausgehend von ihrem Funktions- und Bedeutungsverlust wieder als nutzbare Ressource einer sozialen Strukturentwicklung vorschlägt.

Die vierte Sektion behandelte Praktiken der Vergangenheitsaufarbeitung von ephemeren bzw. anhand von verlorenen Materialitäten. SARAH ALBERTI (Weimar) zeigte, wie Via Lewandowskys Beitrag zum Ausstellungsprojekt „Die Endlichkeit der Freiheit“ (1990) das historische Ereignis der Wiedervereinigung von BRD und DDR in Geschichtsbildern darstellte. Durch die Offenlegung von sich überlagernden Zeitschichten an den Ausstellungsorten und in den Kunstwerken selbst erläuterte Alberti die Bedeutung von Vergangenheitskonstruktion für die Herstellung eines kollektiven Selbstverständnisses als Erinnerungsgemeinschaft. WOLFRAM HÖHNE (Weimar) rekonstruierte – mit Blick auf den eigenen Forschungsprozess zum Raumflug-Planetarium in Halle – wie das Verschwinden von Materialität die Forschungspraxis beeinflussen kann. Er legte dar, wie wissenschaftliches Erzählen von Vergangenheit, hier am Beispiel der Geschichte einer konkreten vergangenen Materialität, selbst als narrative (Re-)Konstruktion zu begreifen ist. In der erzählerischen Verbindung von „lauter Geschichte“, in greifbaren Quellen und „leiser Geschichte“, im Raum des verlorenen Gegenstands, zeigte er Möglichkeiten auf, die Entstehung und den Verlust des Dargestellten nochmals zu reflektieren. Danach präsentierte KONSTANTIN WÄCHTER (Berlin) eine bautypologische Untersuchung der Berliner Gemeindesynagogen im deutschen Kaiserreich und arbeitete die Wechselwirkung von Identitätskonstruktionen der jüdischen Gemeinde und der baulichen Ausprägung ihrer Gemeindebauten heraus. Neben dieser architektonischen Identitätskonstruktion verwies er auf die historisch bedingten Strategien der Nicht-Repräsentation jüdischen Lebens im öffentlichen Raum durch die Synagogen, deren Gestaltung sich zwischen den beiden Polen Integration und Selbstbehauptung aufspanne. ELENA RADOI (Weimar) zeigte abschließend in einem theoretisch angelegten Vortrag zum Begriff der Lücke, wie Absenz selbst eine anwesende Abwesenheit generiere. Die Lücke wurde hierbei als ein eigenständiger ikonologischer Informationsträger begriffen, der in der Restaurierung eben nicht negiert, sondern bewahrt werden sollte.

Die fünfte und letzte Sektion widmete sich der Geschichte und Theorie der Denkmalpflege. Zunächst beleuchtete LUISE HELAS (Weimar) anhand des bürgerschaftlichen Engagements für das baukulturelle Erbe in Dresden zur Zeit der DDR, in welchem Umfang sich eine Vielzahl von Initiativen und Interessensverbänden für die Sicherung und den Erhalt baukultureller Substanz einsetzte. Demnach existierte in Dresden eine besonders engagierte, ehrenamtlich organisierte Denkmalpflege, die sich – durch die Identifikation mit dem historischen Stadtbild motiviert – den materiellen Hinterlassenschaften annahm, um einen (späteren) Wiederaufbau zu ermöglichen. Eine präzise Rekonstruktion der Entstehung des Denkmalpflegegesetztes 1975 in der DDR und dessen Bedeutung für die staatliche Denkmalpflege legte BIANKA TRÖTSCHEL-DANIELS (Weimar) vor. Das Gesetz markierte ihr zufolge eine Zäsur in der Geschichte des sozialistischen Landes: von der auf die Zukunft ausgerichteten Phase des Aufbaus und der Erneuerung hin zu einer auf die Vergangenheit gerichtete Stabilisierung zur Legitimation der eigenen politischen Zukunft. Abschließend hinterfragte BENJAMIN HÄGER (Berlin) die Kriterien und Legitimationsmuster der amtlichen Denkmalpflege in der theoretischen Ausdifferenzierung der Begriffe Denkmal und Erbe. Er bestimmte Denkmale als soziale und materielle Konstruktionen, die zur Stabilisierung von Wissens- und Wertregimen sowie Identitätsvorstellungen dienen. Das Denkmal lasse sich so als spezifische Form eines Erbes begreifen, das über die Denkmalpflege in einen politischen Diskurs der Aushandlung und Aneignung eingebunden und kodifiziert sei.

Mit der Keynote von URSULA RENZ (Klagenfurt) und einer begriffstheoretischen Bestimmung, was überhaupt „kulturelle Identität“ sei, wurde die Tagung beschlossen. Renz näherte sich kritisch über die Transzendentalphilosophie dem Begriff der kulturellen Identität an, um kulturelle Prägungen als kontingente aber grundsätzlich notwendige Elemente der Identitätsbildung zu beschreiben.

Insgesamt bildete die Tagung die Vielfalt der im Graduiertenkolleg 2227 „Identität und Erbe“ bearbeiteten Themen und fachlichen Zugänge ab. Anhand des roten Fadens der „instabilen Konstruktionen“ – die jedem Identitäts- und Erbemodell innewohnen – zeigte sich, dass der interdisziplinäre Dialog für die kritische Befragung dieser Modelle sowohl theoretisch als auch gegenstandsbezogen fruchtbar gemacht werden kann. Somit vermittelten die vorgebrachten Thesen und Argumente der Referent/innen einen Eindruck davon, wie die „ansonsten parallel verlaufenden Diskurse und unterschiedlichen Fächerkulturen“ zu einer gemeinsamen Theoriebildung beitragen können, indem man einen „realienkundlichen mit einem kritischen, gesellschaftsbezogenen Ansatz“1 verfolge. Allerdings muss eingeräumt werden, dass die fachkulturelle und thematische Vielfalt eine gemeinsame Diskussion vor allem über fachspezifische Ansätze ermöglicht. Diese erscheint jedoch eher hinderlich für eine interdisziplinäre Erarbeitung der gemeinsamen Grundbegriffe Identität und Erbe, die sich gerade durch ihre Ambiguität und Bedeutungsvielfalt auszeichnen. Die Beiträge der Tagung haben jedenfalls gezeigt, dass sowohl die Fragen nach „Erbe“ als auch nach „Identität“ stetiger Aushandlung und Reflexion bedürfen. Sie müssen die an die konkreten Subjekte, Orte, Artefakte, Praktiken gebunden bleiben, um gesellschaftliche, kulturelle oder politische Debatten um materielle und immaterielle Vergangenheitsbezüge in ihrer gegenwärtigen Fassung zu verstehen.

Konferenzübersicht:

Eröffnung der Konferenz

Gabi Dolff-Bonekämper (Berlin) / Hans-Rudolf Meier (Weimar): Begrüßung und Einführung

Heike Hanada (Berlin): Keynote „Monumente“

Vergangenheiten bauen

Simone Bogner (Berlin): Architektur als Erbepraxis? Vergangenheitsbezüge in den Debatten der Congrès Internationaux d’Architecture Moderne (CIAM) der Nachkriegszeit

Oxana Gourinovitch (Berlin): The Presence of the Past: Soviet Modernism and Construction of National Nostalgias. Case Study Lithuanian SSR and Belorussian SSR

Konstrukte figurieren

Jochen Kibel (Berlin): Identität durch iterative Nicht-Identität? Der instabile Kollektivierungsdiskurs der Bundeswehr und seine Verräumlichung im Militärhistorischen Museum in Dresden

Claudia Jürgens (Berlin): Iconic Coherence of an Initiation Rite in Senegambia. Visualized Historicities of an Invisible and Intangible Cultural Heritage

Erbe neu verhandeln

Georg Krajewsky (Darmstadt): Erbe konstruieren, Erbe verhandeln. Eine soziologische Untersuchung des Runden Tisches „Koloniales Erbe“ in Hamburg

Gülşah Stapel (Berlin): Ist das türkisch oder kann das weg? Städtische Erbekonstruktionen in Berlin

Zoya Masoud (Berlin): Snapshots of Memorycide and Moments of Self-Identification with Invisible Monuments in the Old City of Aleppo

Maria Frölich-Kulik (Weimar): Bestand ohne Halt? Landbahnhöfe als Ressourcen nachhaltiger Landschaftsentwicklung

Verlorenes Erzählen

Sarah Alberti (Weimar): Zur Lage des Hauptes. Via Lewandowskys Beitrag zum Ausstellungsprojekt „Die Endlichkeit der Freiheit“ – ein ephemeres Einheitsdenkmal im Jahr 1990

Wolfram Höhne (Weimar): Die Erzählung als Denkmal. Nachbilder einer zerstörten Materialität

Konstantin Wächter (Berlin): Die Berliner Gemeindesynagogen im Deutschen Kaiserreich. Integration und Selbstbehauptung

Elena Radoi (Weimar): Parasiten – die konstruierte Instabilität der Lücken

Denkmalpflege positionieren

Luise Helas (Weimar): Das Bürgerengagement für Dresdens instabiles baukulturelles Erbe 1949-1990

Bianka Trötschel-Daniels (Weimar): Das Erbe und das Recht – Stabilität per Gesetz. Zum Denkmalpflegegesetz der DDR von 1975

Benjamin Häger (Berlin): Denkmal als Konstruktion. Identität und Erbe in der amtlichen Denkmalpflege

Ursula Renz (Klagenfurt): Keynote „Kulturelle Identität“? Eine Fehlbezeichnung und ihre Folgen

Anmerkung:
1 Graduiertenkolleg 2227 „Identität und Erbe“, Forschungsprogramm, https://www.identitaet-und-erbe.org/forschungsprogramm (03.12.2019).