Zwischen Tradition und Wandel. Pädagogische und religionspädagogische Initiativen im „langen 19. Jahrhundert“

Zwischen Tradition und Wandel. Pädagogische und religionspädagogische Initiativen im „langen 19. Jahrhundert“

Organisatoren
Antje Roggenkamp, Lehrstuhl für Praktische Theologie und Religionspädagogik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster; Johannes Wischmeyer, Referent für Studien- und Reformfragen der Kirche in der Evangelischen Kirche in Deutschland, Hannover; Arbeitskreis für historische Religionspädagogik (AKHRP)
Ort
digital (Münster)
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.02.2021 - 24.02.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Katharina Biermann / Alexander Baimann, Seminar für Praktische Theologie und Religionspädagogik, Evangelisch-Theologische Fakultät, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Die diesjährige Tagung des Arbeitskreises für historische Religionspädagogik (AKHRP) befasste sich mit Modernisierungsprozessen der schulischen und kirchlichen Bildung im „langen 19. Jahrhundert“ (Hobsbawm). An der ursprünglich für April 2020 angesetzten, aufgrund der Corona-Fallzahlen verschobenen Tagung nahmen Forscher:innen unterschiedlicher Disziplinen (Geschichte, Theologie, Religionspädagogik) teil. Vorbereitet wurde sie vom Seminar für Praktische Theologie und Religionspädagogik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.

Das 19. Jahrhundert gehört forschungsgeschichtlich zu den gut erschlossenen Jahrhunderten, was Pädagogik und Bildungsgeschichte betrifft, jedoch bieten die in den letzten Jahren verbesserten Zugänge zu Quellen und Akten in Form digitalisierter Medien, wie Antje Roggenkamp einleitend betonte, neue Möglichkeiten, sich den pädagogisch einschlägigen Vorstellungen in Theorie und Praxis zu nähern. Der inhaltliche Fokus sollte auf den Dynamiken und Rezeptionsprozessen im langen 19. Jahrhundert liegen, erweitert um die Perspektive eines Transfer- und Ländervergleichs sowie einer methodologischen Reflexion. Die einzelnen Beiträge, die sowohl die Bildungsmedien (Katechismen, Schulbücher, Fibeln, Biblische Historien, Kirchengeschichtsbücher) als auch die institutionelle Verankerung der neuzeitlichen Schule zwischen Staat und Kirche, die ideengeschichtlichen Modernisierungsschübe einzelner Pädagog:innen und Theolog:innen, regionalgeschichtliche Wandlungsprozesse sowie konfessionsspezifische Eigenheiten behandelten, spiegelten entsprechende Potentiale wider. Längsschnitte zu ideengeschichtlichen Entwicklungen und Rezeptionen ebenso wie Querschnitte auf der Mikroebene zu spezifischen und regionalen Entwicklungen eröffneten einen vielschichtigen Blick auf diesen Zeitraum.

Ein erster Schwerpunkt thematisierte die Institutionalisierung von Bildung, deren Ausgestaltung im 19. Jahrhundert zwischen Kirche und Staat neu ausgehandelt wurde. Die gesellschaftliche Öffentlichkeit erhielt einen nicht unmaßgeblichen Einfluss.

GUIDO ESTERMANN (Zug) reflektierte in seinem Vortrag die geistliche Schulaufsicht und deren Einfluss auf die Schulstruktur in der Schweiz. Er zeigte, dass sowohl der helvetische Kulturkampf als auch die päpstliche Enzyklika von 1871 sowie Spannungen zwischen ultramontanen und katholisch-liberalen Kräften innerhalb der katholischen Kirche die historisch-religiösen Entwicklungen der Pädagogik in der Schweiz prägten. In diesem Kontext entwickelten Pädagogen und Lehrerbildner wie Henrich Baumgartner (1846–1904), Fridolin Noser (1849–1908) oder Franz Xaver Kunz (1847–1910) pädagogische Konzepte, die zwischen natürlichen und übernatürlichen Erziehungszielen differenzierten und einen offenbarungstheologischen Unterricht in der Lehrerausbildung und in den Volksschulen als Form der natürlichen pädagogischen Erziehung implementierten. Bemerkenswert ist der Einfluss dieses Gedankens auf die konfessionsfreien Staatsschulen der Schweiz. Die Vorstellung der Heilsnotwendigkeit für die als erlösungsbedürftig angesehenen Menschen trug seitens der katholischen Pädagogik nicht nur zur Forderung nach konfessionellen Staatsschulen bei, sondern reichte auch in die Lehren anderer Fächer hinein.

ROBERT SCHELANDER (Wien) verfolgte einen biographisch-institutionellen Ansatz. Er zeigte auf, inwiefern der protestantisch geprägte, ursprünglich aus Mitteldeutschland stammende Theodor Vernaleken im Rahmen der Lehrerfortbildung in das katholische Wien gelangte und – als Protestant – die Entwicklung des österreichischen Schulwesens mitgestaltete. Gilt Vernaleken insofern als Grenzgänger zwischen den Konfessionen, so erklärte die zeitgenössische Literatur diesen Befund mit einem temporären Konfessionswechsel. Schelander wies mit seiner exemplarischen Analyse auf die Problematik der zum Teil noch schlecht erschlossenen Quellen zur Modernisierung des österreichischen Schulwesens hin und machte darauf aufmerksam, dass und inwiefern biographische Zugänge zur Erforschung der historischen Entwicklung von Schule und Religionspädagogik ertragreich sind. Die Vorstellung eines homogen katholischen Österreichs verschleiere die Wahrnehmung der konfessionellen Differenzen in der Schulbildung.

ANTJE ROGGENKAMP (Münster) zeigte die Bedeutung des staatlichen Einflusses auf das Schulwesen und die Konstituierung einer Nation im Rahmen von Bildungsprozessen in transnationaler Perspektive auf. Sie verglich Stellung und Funktion der Religion für das Selbstverständnis der Länder Schweiz, Frankreich sowie Deutschland und legte dar, dass sowohl in den Verfassungen als auch im schulischen Umgang mit Religion diachrone Gemeinsamkeiten, aber auch synchrone Unterschiede deutlich werden. Letztere erweisen sich als identitätsstiftende Merkmale des nationalen Selbstverständnisses, das insbesondere im Umgang mit Religion deutlich hervortritt. Sichtbar wird dies sowohl in den jeweiligen Verfassungen, der Umsetzung von Religion im Schulwesen sowie in Selbstzuschreibungen. Roggenkamp wies darauf hin, dass entsprechende Beobachtungen auf vielschichtige Aspekte zurückzuführen sind, die die Bedeutung der transnationalen Bildungsforschung für die Diskussion über Nationwerdung hervortreten lassen.

Die Tagung fokussierte in einem zweiten Schwerpunkt die Bedeutung von Schule als Fluchtpunkt der Institutionalisierung, die im 19. Jahrhundert neu gedacht wurde und sich nicht vollständig in die Verwaltungsstruktur des Staates eingliederte. Dazu trug die föderative Struktur Deutschlands in einem nicht unbedeutenden Maße zusätzlich bei.

ALEXANDER BAIMANN (Münster) legte anhand einer Mikroanalyse des Soester Archigymnasiums dar, wie Inhalte, Methoden und Ziele des Religionsunterrichts im langen 19. Jahrhundert auch regional und von unten kritisch reflektiert und erneuert wurden, indem einzelne Akteure Spielräume nutzten. Ausgehend von einer Auswertung lokaler Schulschriften der Soester Rektoren bzw. Konrektoren und Lehrer Leopold Ernst Sachse, Johann Christian August Nöbling sowie Albert Christian Meineke, zeichnete er vielfältige Veränderungen in der dortigen Diskussion über den Religionsunterricht von 1750 bis 1809 nach. Baimann wies deren Prägung durch Ideen des Philanthropismus und der Neologie nach, die sich inhaltlich in einer von den Verfassern je unterschiedlich vorgenommenen Verhältnisbestimmung von Vernunft, Verstand und Religion widerspiegelten.

MICHAEL LAPP (Frankfurt am Main) erörterte die Bedeutung der geistlichen Schulaufsicht und insbesondere die Zusammenarbeit der Pfarrer mit den lokalen Lehrern der Volksschulen in Kurhessen. Die in der Schulaufsichtsfrage erkennbar werdende Symbiose zwischen Kirche und Staat war stets von individuellen Personen, ihren pädagogischen Fähigkeiten und deren Einschätzung durch Vorgesetzte abhängig. Lapp verdeutlichte, dass evangelische Pfarrer bis 1918 auch die Schulvisitationen der jüdischen Volksschulen durchführten. Auf der Grundlage einer exemplarischen Analyse in der preußischen Provinz Hessen-Nassau wies er eine enge Zusammenarbeit von jüdischem Lehrer und evangelischem Pfarrer nach. Das Purim-Fest wurde gemeinsam gefeiert, und auf Vorschlag des evangelischen Pfarrers erhielt der jüdische Lehrer in Meerholz einen preußischen Orden.

Auch bei MICHAEL WERMKE (Jena) und VIKTORIA GRÄBE (Hildesheim) stand das höhere jüdische Schulwesen in Deutschland im Fokus. Sie gingen von der Beobachtung aus, dass neben den konfessionell-christlichen Schulen im Verlauf des 19. Jahrhunderts jüdische Realschulen entstanden, die eine Vielzahl jährlicher Schulschriften herausgaben, die bislang unbeachtet geblieben sind. An zwei jüdischen Realschulen in Frankfurt am Main zeigten sie exemplarisch auf, dass Programmschriften nicht nur von der preußischen Schulverwaltung als Form der Aufsicht und Reglementierung des Schulwesens genutzt wurden, sondern auch der Schulleitung die Möglichkeit eröffneten, sich selbst der Öffentlichkeit zu präsentieren.

JOHANNES WISCHMEYER (Hannover), Referent für Studien- und Reformfragen der Kirche in der EKD, stellte das bislang kaum beachtete Entwicklungspotential verschiedener Bildungskonzepte in Konkurrenz zu ausländischen Traditionen dar. Auf der Grundlage einer ausgiebigen Analyse bislang unerschlossener handschriftlicher Akten im Landeskirchlichen Archiv Stuttgart konnte er nachweisen, dass sich aus dem Modell der Sonntagsschule verschiedene weiterführende Diskussionen im Spannungsfeld von Schule und Kirche sowie Pädagogik und Gottesdienst ergaben, die mit einer Verkirchlichung freiwillig mitarbeitender Laien einhergingen. Das angelsächsische Modell der Sonntagsschule bildete den Anlass für Wandlungsprozesse der in Württemberg im 19. Jahrhundert verbreiteten Kinderlehre (Katechismusgottesdienste). Wischmeyer verwies auf die Bedeutung von transnationalen Vergleichen für die kirchlich-schulischen Entwicklungsprozesse.

Unabhängig von Analysen der lokalen Schulwirklichkeit wurde ein dritter Schwerpunkt auf das institutionelle Zusammenspiel von Kirche, Staat und lokaler Schule im Kontext der Professionalisierung kirchlich-pädagogischer Berufsprofile sowie der Medien gelegt.

NORBERT FRIEDRICH (Kaiserswerth) beschäftigte sich mit der „Kaiserswerther Lehrdiakonie im 19. Jahrhundert”. Ausgehend von einem Überblick über das spannungsreiche Verhältnis zwischen Kirche, Schule und Staat, das sich durch Disziplinierung, Modernisierung und Verstaatlichung des Schulwesens auszeichnete, skizzierte er Grundzüge der öffentliche Resonanz gewinnenden Inneren Mission. Am Beispiel der pädagogischen Arbeit Theodor Fliedners in der Kaiserswerther Diakonissenanstalt analysierte er, inwiefern sich die Innere Mission mit pädagogischen und religionspädagogischen Fragen auseinandersetzte. Im Zentrum stand Fliedners doppelte Ausbildungsstrategie, die einerseits die Ausbildung der Diakonissen sowohl für die Arbeit in der Krankenpflege als auch für die Erziehungsarbeit sowie andererseits die Ausbildung von Kleinkinder- und Volksschullehrerinnen für eine selbstständige Berufstätigkeit in den später so genannten Lehrstationen beinhaltete. Vor diesem Hintergrund wurde Fliedners christliches Erziehungsverständnis als Gegenmodell zu zeitgenössischen neuhumanistischen Aufbrüchen diskutiert.

DAVID KÄBISCH (Frankfurt am Main) rekonstruierte anhand der von dem Leipziger Pfarrer Johannes Heber 1940 verfassten „Denkschrift über die Erneuerung des evangelischen Kantorenamtes” und der Kantorenausbildung am Kirchenmusikalischen Institut in Leipzig die Veränderung des Kantorenamtes zum Ende des langen 19. Jahrhunderts. Nachdem sich bei einer bestehenden Kopplung von Lehr- und Kantorenamt infolge der Auflösung der staatlichen Lehrerseminare nach dem Ende des Kaiserreichs 1918 sowohl staatliche als auch kirchliche Nachfolgeinstanzen etabliert hatten, kam es teilweise zu Gründungen kirchenmusikalischer Institute wie etwa in Leipzig. Unter der Leitung von Karl Straube übernahm das Kantorenamt sowohl pädagogische als auch kirchenmusikalische Aufgaben und musste während des frühen 20. Jahrhundert infolge kirchlicher und staatlicher Professionalisierungsinitiativen neu gedacht werden.

WERNER SIMON (Mainz) beschäftigte sich mit der Entwicklung der (Erz-)Diözese Mainz am Beispiel des dort verwendeten Katechismus. Mit einem kurzen Rückblick auf die Einführung des Kleinen Katechismus als Diözesankatechismus im Jahr 1599 zeigte Simon auf, welche verschiedenen Katechismen und Katechismusüberarbeitungen in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts und im 19. Jahrhundert Verwendung fanden. Die inhaltlichen Analysen verwiesen auf restaurative Kontinuitäten von Traditionen, aber auch auf Aufbrüche und die Gestaltung neuer Traditionen. Der Katechismus erweist sich als ein die katechetische Unterweisung maßgeblich normierendes Medium für die Kommunikation der kirchlichen Glaubenslehre in einer Zeit der Umbrüche zwischen katholischer Aufklärung und ultramontaner Uniformierung.

STEFAN DIXIUS (Trier) behandelte die Kindermissionszeitschriften aufgrund ihrer hohen Auflagen, ihres Einsatzes in Sonntagsschulen sowie der Befriedigung des „Durstes nach Exotischem” als mögliche Quelle der historischen Religionspädagogik. Am Beispiel der Titel „Der kleine Missionsfreund” aus der Rheinischen Mission (1855), „Hosianna” aus der Berliner Mission (1859) sowie „Die kleine Biene auf dem Missionsfelde” aus der Goßner Mission (1861) zeigte er auf, inwiefern durch persönliche Ansprachen von vornherein zielgerichtet Nähe sowie ein interaktiver Zugang zur Leserschaft aufgebaut wurden. Den Kindern wurden Fremdbilder vermittelt, die Dixius dekonstruierte: Die Mission wurde als Befreiung von Gottlosigkeit und Sklaverei gerechtfertigt, wozu die Stilisierung von Pfarrern als moralisch-sittliche Vorbilder in nicht geringem Maße beitrug. Die Kontrastierung zwischen Selbst- und Fremdbildern sowie die moralische Hervorhebung der missionierenden Pfarrer diente letztendlich der Steigerung der Spendenbereitschaft der europäischen Christen für die Mission.

HARMJAN DAM (Frankfurt am Main) erläuterte mittels Schulbuchanalysen die sich wandelnde Bedeutung der Kirchengeschichte im Religionsunterricht. Ausgehend von einem geschichtlichen Rückblick ins 18. Jahrhundert, zeichnete er den großen Stellenwert der Kirchengeschichte in den Schulbüchern nach. Durch die Verknüpfung von Kirchengeschichte mit biblischer Geschichte zeigte sich im 19. Jahrhundert eine Aufgabenverteilung: Die Kirchengeschichte ging mit Verkündigung, die biblische Historie mit geschichtlicher Wahrheit einher. Bereits um 1900 wurde von einem „geschichtlichen Religionsunterricht” (Ernst Thrändorf) gesprochen, dessen Inhalte seit den 1920er-Jahren immer heroischer dargestellt wurden. Aufgrund einer Diskrepanz zwischen der konzeptionellen Intention einer verkündigenden Unterweisung und den noch vorhandenen historisch ausgerichteten Schulbüchern wurde der Kirchengeschichte später die Rolle eines „Stiefkinds” der Religionspädagogik zugewiesen.

WENDELIN SROKA (Essen) zeichnete eine im 18. Jahrhundert einsetzende Loslösung des Erstleseunterrichts von der Kinderkatechese nach, die das Aufkommen von eigenen Lesefibeln bedingte, die die herkömmlichen Katechismusfibeln als Erstlesebücher abzulösen begannen. Dass sich diese Ablösung als ein langwieriger und von Ungleichzeitigkeit geprägter Prozess entpuppte und sich die Erstlesebücher des 19. Jahrhunderts hinsichtlich ihrer religiösen Stoffe als vielfältig charakterisieren, zeigte Sroka exemplarisch auf: Zum einen kam die in ihren Ursprüngen aus dem 16. Jahrhundert stammende Hahnenfibel in den Blick, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts trotz viel Kritik in ihrer lutherischen Version, aber ebenso in reformierten und katholischen Fassungen auch im (außer-)europäischen Ausland verwendet wurde. Zum anderen erfuhr ein im 18. Jahrhundert entstandener Leseübungstext von Christoph von Schmid („Erster Unterricht von Gott für die lieben Kleinen”) Aufmerksamkeit, der vielerorts auch konfessionsübergreifend vollständig oder in Auszügen Anwendung fand, da er Leseunterricht mit Kinderkatechese zu verbinden verstand.

Ein vierter Schwerpunkt war neuen, für die Pädagogik des 19. Jahrhunderts maßgeblichen Konzeptionen gewidmet.

JÜRGEN OVERHOFF (Münster) skizzierte die Rezeption und den Einfluss des Philanthropen Johann Bernhard Basedow auf die Religionspädagogik des 18. und 19. Jahrhunderts. Er zeichnete nicht nur das religionspädagogische Profil Basedows nach, der sowohl eine menschenfreundliche Pädagogik lehrte, als auch einen Fokus auf die Vernunftbildung im Religionsunterricht setzte, sondern reflektierte auch dessen Konzepte und Theorien mit Blick auf die Praxis. Die von Basedow initiierten Philantropina offenbarten oftmals einen interkonfessionellen und – für die Zeit erstaunlich modernen – interreligiösen Unterricht, bei dem katholische, protestantische und jüdische Schüler in einem gemeinsamen Unterricht die Wertschätzung aller Religionen lernten. Basedows Abkehr vom traditionellen Auswendiglernen des Katechismus sowie seine theoretischen und praktischen Initiativen prägten die Religionspädagogik des 19. Jahrhunderts auf vielfältige Weise, nicht zuletzt, da sie die erste sich selbst als Religionspädagogik bezeichnende Konzeption von Max Reischle in vielen Bezügen beeinflusst haben.

ANDREAS KUBIK (Osnabrück) setzte sich mit der Frage nach einem interkonfessionellen Religionsunterricht auseinander. Er erörterte einen konzeptionellen Entwurf des Aufklärungsphilosophen und -pädagogen Johann Georg Heinrich Feder und die Praxis des „Halberstädter Pestalozzi” und Schulleiters Joseph Theodosius Abs. Feder sprach sich 1786 in einer Schrift für einen überkonfessionellen Religionsunterricht aus, da dieser einen Beitrag zur gegenseitigen Toleranz und zur Förderung der „wahren Religiosität” leiste sowie durch den Verzicht auf Kontroverstheologisches das Wesentliche fokussieren könne. Auch Abs plädierte für eine Fundamentalbildung in den – beiden Konfessionen gemeinsamen – Hauptstücken. Seine Ansichten zur Überwindung konfessioneller Spaltungen wirkten sich auf die Praxis des von ihm betreuten Internats aus, die durch religiöse Rundgespräche, gemeinsame Feste und moralische Selbstkontrolle geprägt war. Sowohl Feder als auch Abs betrachteten den gemeinsamen Unterricht nicht als etwas revolutionär Neues, sondern setzten ihn als bereits bekannt voraus. Schulleitern und Lehrern komme als exemplarischen religiösen Subjekten eine bedeutsame Rolle zu.

GERT FRANZENBURG (Münster) diskutierte am Beispiel des Katechismus von Johann Heinrich Kurtz (1809-1890) historische, biografische und kirchenpolitische Einflüsse auf die religionspädagogischen Ansichten in den russischen Ostseeprovinzen Mitte des 19. Jahrhunderts. Mithilfe einer religionspsychologischen Perspektive zeigte Franzenburg auf, dass das Lehrwerk von Kurtz beeinflusst war von der durch eine Konkurrenz von russischem, lettischem und deutschem Nationalismus geprägten politischen Lage, der durch Choleraepidemien bedingten gesellschaftlichen Situation sowie der durch die Kirchenordnung für das Russische Reich bestimmten Kirchenpolitik. Zugleich ordnete Franzenburg den Katechismus in Kurtz‘ beruflichen Werdegang vom Religionslehrer und Hauslehrer zum Kirchengeschichtsprofessor sowie dessen heilsgeschichtliche Forschungs- und Lehrinteressen ein, die sich durch eine enge Verbindung von biblischer, kosmologischer und Menschheitsgeschichte auszeichneten und von der Frage nach Verdeutlichungsmöglichkeiten der Verwirklichung bestimmt waren.

CHRISTOPHER KÖNIG (Mainz) perspektivierte, dass das 19. Jahrhundert auch ein Jahrhundert der Reform und Kritik war. Im Zentrum standen dabei religions- und bildungskritische Anmerkungen des Pfarrers, Lehrers und Schulseelsorgers sowie Schriftstellers und „Religionsintellektuellen” Arthur Bonus (1864-1941), die König mittels Analysen der kulturprotestantischen Zeitschrift „Die christliche Welt” sowie anhand von Bonus‘ Streitschrift „Vom Kulturwert der Deutschen Schule” und weiterer Zeitschriftenbeiträge rekonstruierte. Da das Christentum zu einer „Fremdsprache” avanciere, plädierte Bonus dafür, statt eines biblisch-katechetisch orientierten Unterrichts Lernprozesse zu initiieren, die die Persönlichkeit und Subjektivität in den Fokus stellen und religiöses Lernen als Kulturarbeit in Form einer selbstständigen Begegnung ermöglichen. In dieser Forderung offenbart sich die Vorstellung eines national-kulturellen Selbstbewusstseins.

Zum Ende der Tagung hatten zwei Nachwuchswissenschaftler:innen die Möglichkeit, ihre Projekte vorzustellen. BENJAMIN AHME (Tübingen) berichtete von seinen netzwerkanalytischen Studien zu Paulo Freire, und ANN-SOPHIE MARKERT (Erlangen) zeichnete sozialgeschichtliche Dynamiken des Ehrenamtes seit dem 19. Jahrhundert nach.

Die verschiedenen Schwerpunkte und Perspektiven der Tagung zeigten, dass das 19. Jahrhundert sowohl im Kontext der Institutionen Schule, Kirche und Staat als auch vor dem Hintergrund seiner Medien und theoretischen Perspektiven zu betrachten ist, wenn man die Prozesse und Entwicklungen der Pädagogik in Theorie und Praxis auf einer möglichst fundierten Basis erarbeiten möchte. Dabei kann ein sukzessives Auseinanderdriften der drei genannten Institutionen beobachtet werden, weil parallel zu einer Intensivierung der kirchlichen Bemühungen um das lokale Schulwesen vor allem ein pädagogischer Anspruch auf die Schule sichtbar wird, der sowohl vom Staat als auch von der Schule selbst ausgeht. Keine lokale Entwicklung ist demnach auf eine einzige Dynamik reduzierbar. Die Vorträge dokumentierten, dass „Verstaatlichung” und „Verkirchlichung” keine getrennten, sondern parallel verlaufende Prozesse waren, die auch im 19. Jahrhundert noch eng miteinander verzahnt blieben und je nach Region unterschiedliche Formen annehmen konnten. Dies gilt umso mehr, als einzelne Fallstudien zu unterschiedlichen regionalen Ergebnissen kamen. Die Dynamik dieses Jahrhunderts kann also keinesfalls als starr und eindeutig klassifiziert werden. Schlagworte wie „Verstaatlichung” und „Verkirchlichung” sind in Einzelfällen zu prüfen. Die Bildungsmedien sind im langen 19. Jahrhundert eng mit der Schulwirklichkeit verzahnt. Ihre Entwicklungen und Konzeptionen spiegeln eine weitere Dynamik dieses Jahrhunderts wider, die es bei den Veränderungsprozessen ernst zu nehmen und zu untersuchen gilt.

Eine sinnvolle und erweiternde Perspektive stellt der Ländervergleich dar, der in den Gesprächen und Diskussionen vor allem mit Fokus auf die Länder und Regionen Schweiz, Württemberg, Preußen, Österreich, Frankreich und Sachsen reflektiert wurde. Als lohnenswert erweisen sich auch biographische Zugänge zu Reformern, zu ihrem länderübergreifenden Handeln sowie zu ihren Einflüssen auf pädagogische Initiativen über Staatsgrenzen hinweg. Eine Fokussierung auf konfessionsübergreifende Themen belegt, dass interreligiöses und interkonfessionelles Lernen sowohl konzeptionell als auch praktisch im 19. Jahrhundert je nach Region zum Teil umgesetzt und – unter anderem im Rückgriff auf Basedow – auch religionspädagogisch rezipiert wurde.

Unabhängig von fachlichen Aspekten zeichnete sich die Tagung vor allem durch ihre Reflexion der Methodik der historischen Religionspädagogik aus. Dabei wurde sowohl die Vielzahl der unterschiedlichen Quellen als Gegenstand und Zugang zur historischen Pädagogik reflektiert als auch die Nutzbarkeit empirischer Methoden für die Auswertung der Materialien erörtert.

Konferenzübersicht:

Antje Roggenkamp (Münster) / Johannes Wischmeyer (Hannover): Begrüßung und Einführung

Erster Schwerpunkt: Institutionalisierung von Bildung

Guido Estermann (Zug): Eine katholische Pädagogik und ihre Wirkung auf die schweizerische Bildungslandschaft im letzten Drittel des 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts

Robert Schelander (Wien): Konfessionalität und Lehrerbildung in Österreich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts am Beispiel Theodor Vernalekens. Theodor Vernaleken (1812-1907) und die Religion. Ein Lehrstück österreichischer Bildungsgeschichtsschreibung

Antje Roggenkamp (Münster): Kultur-, Staats- oder Willensnation? Zur Bedeutung von Religion in Nationalisierungspraktiken

Zweiter Schwerpunkt: Bedeutung von Schule

Alexander Baimann (Münster): Das Archigymnasium in Soest. Der Religionsunterricht am Soester Archigymnasium von 1750 bis 1809

Michael Lapp (Frankfurt am Main): Geistliche Schulaufsicht zwischen persönlichem Wohlwollen und dienstlichem Handeln

Michael Wermke (Jena) und Viktoria Gräbe (Hildesheim): Gegenstand staatlicher Formatierung und Ort öffentlicher Selbstdarstellung. Jahresberichte höherer jüdischer Schulen im „langen“ 19. Jahrhundert

Johannes Wischmeyer (Hannover): Dynamisierung durch transnationale Konkurrenz. Kindergottesdienst und Sonntagsschule in Württemberg

Dritter Schwerpunkt: Das institutionelle Zusammenspiel von Kirche, Staat und lokaler Schule im Kontext der Professionalisierung kirchlich-pädagogischer Berufsprofile sowie der Medien

Norbert Friedrich (Kaiserswerth): Kaiserswerther Lehrdiakonie im 19. Jahrhundert

David Käbisch (Frankfurt am Main): Pädagogische Dimensionen des Kantorenamtes im langen 19. Jahrhundert. Ein Fallbeispiel zu den historischen Dynamiken und Nachwirkungen

Werner Simon (Mainz): Die Geschichte des katholischen Katechismus in der (Erz-) Diözese Mainz im langen 19. Jahrhundert

Stefan Dixius (Trier): Kindermissionszeitschriften als religionspädagogische Initiative des 19. Jahrhunderts

Harmjan Dam (Frankfurt am Main): Wie die Kirchengeschichte zum „roten Faden” des Religionsunterrichtes wurde. Ergebnisse aus der Schulbuchforschung bis 1947

Wendelin Sroka (Essen): Deutschsprachige Katechismusfibeln im 19. Jahrhundert: eine grenzüberschreitende Spurensuche

Vierter Schwerpunkt: Neue, für die Pädagogik des 19. Jahrhunderts maßgeblichen Konzeptionen

Jürgen Overhoff (Münster): Basedows Erziehungslehre und ihre Bedeutung für die Religionspädagogik

Andreas Kubik (Osnabrück): Interkonfessioneller Religionsunterricht um 1800. Theorie-Praxis–Reflexion

Gert Franzenburg (Münster): Zwischen Glücksgöttin und Segensgott. Livländische Katechetik am Vorabend des nationalen Erwachens

Christopher König (Mainz): „Vom Kulturwert der deutschen Schule“. Religionspädagogische Erneuerungsdebatten im Kulturprotestantismus um 1900 am Beispiel von Arthur Bonus

Projektvorstellung der Nachwuchswissenschaftler:innen

Benjamin Ahme (Tübingen): Netzwerkanalytische Studien zu Paulo Freire

Ann-Sophie Markert (Erlangen): Sozialgeschichtliche Dynamiken des Ehrenamtes seit dem 19. Jahrhundert