HT 2021: Umstrittene „Globalisierung“. Die Durchsetzung von Verflechtungsdiagnosen in der westlichen Politik seit den 1970er Jahren

HT 2021: Umstrittene „Globalisierung“. Die Durchsetzung von Verflechtungsdiagnosen in der westlichen Politik seit den 1970er Jahren

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
hybrid (München)
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.10.2021 - 08.10.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Carina Moser, SFB 923 "Bedrohte Ordnungen", Eberhard Karls Universität Tübingen

Der Gedanke einer rasant zunehmenden Verflechtung aller Weltregionen ist gegenwärtigen Beobachter:innen des Zeitgeschehens nicht fremd. Seien es die Finanzmärkte, neue Kommunikationstechnologien, der Aufstieg des Populismus oder auch die Verbreitung der Corona-Viren um den Globus – die unterschiedlichsten Phänomene unserer Lebenswelt werden seit Mitte der 1990er-Jahre mit dem Begriff der „Globalisierung“ in Verbindung gebracht. In seinen einleitenden Worten zur Sektion betonte JAN ECKEL (Freiburg), dass Verflechtungsdiagnosen wie die Rede von der „Globalisierung“ oder von „Interdependenz“ in den 1970er-Jahren ein historisches Produkt darstellten, welches Historiker:innen nicht unreflektiert übernehmen sollten. Die Vorträge der Sektion sollten aufzeigen, wie die Historisierung der einflussreichen Wahrnehmungsfigur einer sich zunehmenden verflechtenden Welt gelingen kann.

Eine frühere Sicht auf Verflechtung bezeichnete MARTIN DEUERLEIN (Tübingen) in seinem Vortrag als „hochmodernes“ Interdependenzdenken, welches im späten 19. Jahrhundert entstand und bis in die 1970er-Jahre prägend war. In den Siebzigern sei es, so Deuerlein, unter dem Begriff der „Interdependenz“ nicht nur zu einer neuen Konjunktur von Verflechtungsdiagnosen, sondern auch zu einem grundlegenden Umbruch in der Sicht auf globale Verflechtungen gekommen. Dafür habe es mehrere Ursachen gegeben. Erstens und am offensichtlichsten die Zunahme von Welthandel und Kapitaltransfer; zweitens die Annahme der zeitgenössischen Akteur:innen, dass etablierte Begriffe und Theorien nicht mehr auf eine neue Wirklichkeit passten; sowie drittens die voranschreitende Entspannung zwischen Ost und West seit den 1960er-Jahren, die Raum für neue Themen und Akteur:innen in der internationalen Politik schuf.

Wie eng diese Gegenwartsdiagnose und politische Entwicklungen verwoben waren, führte Deuerlein am Beispiel der „ersten Ölkrise“ ab Oktober 1973 und der anschließenden Debatten um eine neue Weltwirtschaftsordnung aus. „Interdependenz“ galt Politiker:innen und Sozialwissenschaftler:innen nicht länger als theoretisches Konzept, sondern als akutes politisches Problem. Die Annahme einer verflochtenen Welt sei von da an politisch handlungsleitend und zum Ausgangspunkt der Außenpolitik geworden, wie Deuerlein am US-amerikanischen Beispiel exemplifizierte. Die Regierung Carter nahm an, dass die globale amerikanische Führungsrolle nicht mehr auf Hegemonie beruhen könne, sondern die USA als Koordinator globaler Verflechtungsprozesse agieren müsse. In den 1980er-Jahren sei der weltpolitische Ansatz der „Interdependenz“ jedoch wieder von Kategorien des Kalten Krieges überlagert worden.

ARIANE LEENDERTZ (München) schlug mit ihrem Vortrag einen Bogen von den Debatten über Verflechtung zu deren politischer Gestaltung. Ebenso wie Deuerlein verwies sie auf die Wahrnehmung der Zeitgenoss:innen, dass man am Beginn eines neuen Zeitalters stehe, das von zunehmenden transnationalen Verflechtungen, wechselseitiger Abhängigkeit und einer multipolaren internationalen Ordnung geprägt sei. Ein zentrales Projekt, welches Entwürfe und Empfehlungen für die politische Praxis formuliert habe, sei das 1980s Project gewesen. Durchgeführt wurde es zwischen 1974 und 1980 von der amerikanischen außenpolitischen Denkfabrik Council on Foreign Relations. Am Beispiel des 1980s Project zeigte Leendertz, wie Akteur:innen Konzepte entwickelten, um den relativen Macht- und Ansehensverlust der USA nach dem Vietnamkrieg aufzufangen und die neue internationale Ordnung in ihrem Sinne prägen zu können. Zwei Aspekte hob sie dabei besonders hervor: Erstens stammte die Mehrzahl der am 1980s Project beteiligten Akteur:innen aus den USA oder anderen Industrienationen. Für diese habe außer Frage gestanden, dass die Kooperation zwischen allen Staaten vertieft werden müsse, um die internationale Ordnung zu stabilisieren und im Sinne der westlichen Industrienationen zu organisieren. Zweitens betonte Leendertz, dass sich die Wahrnehmung und Bewertung der als neuartig angesehenen Verflechtungsstrukturen im Lauf des Jahrzehnts veränderten. Zu Beginn der 1970er-Jahre hätten politische und wissenschaftliche Akteur:innen diese zunächst als Einengung nationalstaatlicher Handlungsspielräume angesehen, die die Autonomie der USA zu verringern drohten. Zum Ende der Dekade habe „Interdependenz“ hingegen als Steuerungsinstrument und politisch gestaltbare Machtressource gegolten. Die Expert:innen des 1980s Projekt hätten maßgeblich dazu beigetragen, dass sich die deskriptive Verflechtungsdiagnose zu einer analytischen Theorie der „Interdependenz“ entwickelte und legten damit die theoretischen Grundlagen der Vorstellung von „global governance“.

In den 1980er-Jahren habe die Regierung Reagan erkannt, so Leendertz, dass sich über internationale Organisationen die zunehmende Verflechtung der Welt gestalten ließ. Die Regierung Reagan nutzte daher etwa den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank als Hebel, um ihre marktliberale Agenda international durchzusetzen und schuf so die institutionellen Voraussetzungen für die Zeit nach dem Ende des Kalten Krieges, welche von den Zeitgenoss:innen als beschleunigte, „neoliberal“ geprägte Globalisierung wahrgenommen wurde. Als besonders prägend für diesen grundlegenden Politikwechsel benannte Leendertz Finanzminister James Baker, der ab 1985 im Amt war und der mit seinem „Baker Plan“ angestoßen habe, dass der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank ihre Kredite und Förderungen in Entwicklungs- und Schwellenländern an marktliberale politische Reformen knüpften.

Deutungsumbrüche und -verschiebungen ließen sich auch bei nichtstaatlichen Akteuren wie der internationalistischen Linken in den 1980er- und 1990er-Jahren beobachten. LUKAS HEZEL (Mannheim) zeigte, dass das bis in die 1980er-Jahre dominierende Deutungsmuster eines „territorialen Imperialismus“ erste Risse bekam und allmählich von neuen Ordnungsvorstellungen verdrängt wurde, welche die internationalistische Linke ab Mitte der 1990er-Jahre unter dem Begriff der „Globalisierung“ subsumierte. Hezel veranschaulichte diesen Bruch am Beispiel der Kampagne gegen die Jahrestagung des IWF und der Weltbank in West-Berlin im September 1988. Seine Befunde bündelte Hezel in vier Thesen und fokussierte sich dabei auf die ideengeschichtliche Dimension der Proteste.

Ab den 1980er-Jahren, so die erste These, habe sich die Idee durchgesetzt, dass das Kapital transnational und frei um den Globus zirkuliere. Diese Annahme habe den Dreh- und Angelpunkt eines neuen Antiimperialismus gebildet, der entterritorialisiert und nicht mehr nationalstaatlich gebunden gewesen sei. Durch die Transnationalisierung des Kapitals hätten sich die Kampfbedingungen verändert, der Nationalstaat hatte scheinbar seine agency verloren. Zweitens hätten die Autonomen die starke Konzentration des „alten“ Internationalismus auf nationale Befreiungsbewegungen kritisiert. Nicht nur der Nationalstaat sei neu verhandelt und in der Theorie neu verortet worden, ebenso sei ein neues revolutionäres Subjekt definiert worden. Dementsprechend seien, drittens, die national strukturierten „Klassen“ und „Völker“ als „Kollektivsubjekt“ abgelöst worden. An deren Stelle sei nun ein „Weltproletariat“ getreten, das so unterschiedliche soziale Gruppen wie landlose Bauern in Lateinamerika, Prostituierte in Südostasien und Sozialhilfeempfänger in Osteuropa zusammenfasste. Ebenso wie das Kapital sei nun auch das Proletariat „ortlos“ gewesen. Auch die letzte These steht in Zusammenhang mit Territorialität, denn die bis dahin geltende territoriale Ordnung der Nationalstaaten, die Einteilung und das Denken in „Zentrum und Peripherie“, habe sich in der konvergierenden „Einen Welt“ aufgelöst.

Diese Thesen über einen neuen Antiimperialismus hätten sich als handlungsleitende Ideen in der unmittelbaren Praxis der Akteur:innen niedergeschlagen. Durch die theoretische Neuorientierung der antiimperialistischen Linken habe sich der Fokus ihrer Angriffe verschoben. Nationalstaaten hätten als Gegner an Bedeutung verloren und seien nur noch eingeschränkt als Problemlöser wahrgenommen worden. Sowohl die Kritik als auch die Suche nach politischen Lösungsstrategien habe sich nicht mehr auf nationalstaatlicher, sondern auf supranationaler Ebene bewegt. Obwohl sich innerhalb der Linken der allmähliche Paradigmenwechsel auf Ebene der Weltordnungsvorstellungen bereits gegen Ende der 1980er-Jahre abgezeichnet habe, sei mit dem Ende des real existierenden Sozialismus 1989-1991 ein offener Bruch eingetreten.

JANNES JAEGER (Tübingen/Freiburg) trat mit seinem Vortrag noch einen Schritt näher an die Gegenwart heran und wandte sich der allerjüngsten Zeitgeschichte zu. Er beleuchtete realpolitische Auswirkungen von Globalisierungsdiskursen und präsentierte Überlegungen zum Zusammenhang zwischen der Rede von Globalisierung und Sozialstaatsreformen in Großbritannien und Deutschland um das Jahr 2000. Die Rede von der Globalisierung habe nicht nur dazu gedient, eine sich rasant verändernde Welt zu erklären, sondern ebenso auf politische Prozesse zu reagieren, diese zu legitimieren und gegebenenfalls Einfluss auf sie auszuüben. Die national geführten Debatten über den Zusammenhang von Globalisierung und Sozialstaat subsumierten sich in der Bundesrepublik unter dem Schlagwort Reformprojekt Agenda 2010 und in den Großbritannien unter Labours welfare-to-work-Programmen. Beide sozialdemokratisch geführten Regierungen hätten ihre Reformprojekte mit ähnlichen grundsätzlichen Argumenten legitimiert. So hätten sie argumentiert, die sich globalisierende Welt schaffe „neue Realitäten“ und der Umbruch auf globaler Ebene erfordere wirtschafts- und sozialpolitische Anpassungen.

Um die zeitdiagnostische Wirkmacht der Globalisierungsrede besser einordnen zu können, plädierte Jaeger dafür, die Perspektive zu weiten und verwies auf die bereits seit den frühen 1990er-Jahren bestehende Debatte über „Globalisierung“ in den Sozialwissenschaften. Der Rekurs auf die Globalisierung in der politischen Argumentation sei nicht in einem ideengeschichtlichen Vakuum entstanden. In den Sozialwissenschaften habe sich die Globalisierung als ein einflussreiches zeitdiagnostisches Narrativ durchgesetzt und die theoretische Leerstelle zu besetzten vermocht, die sich nach dem Ende des Systemkonflikts aufgetan hatte. Ein Forum der Debatte habe die von dem Soziologen Ulrich Beck und dem Suhrkamp-Verlag geschaffene Edition Zweite Moderne dargestellt, die sich mit den vermeintlich neuen gesellschaftlichen Realitäten um die Jahrtausendwende auseinandersetzte. Es sei zwar die Intention der Sozialwissenschaftler gewesen, Impulsgeber für politische Debatten zu sein, allerdings sei ein Großteil der soziologischen zeitdiagnostischen Globalisierungsanalyse in ihren Handlungsempfehlungen eher vage geblieben. Jaeger betonte, dass kein Kausalzusammenhang zwischen den sozialwissenschaftlichen Diskursen und politischen Reformen bestand, aber die Debatten um Globalisierung in Wissenschaft wie Politik in einem gemeinsamen Diskursfeld stattgefunden hätten. Gemeinsam sei ihnen gewesen, dass die „Globalisierung“ als unumgänglicher Prozess und als Signum der Gegenwart benannt wurde. Jaeger entkräftete den oft vorgebrachten Einwand, dass es sich bei der Rede von der Globalisierung um reine Rhetorik gehandelt habe. Unter Zeitgenoss:innen habe ein bemerkenswerter Konsens darüber bestanden, dass es sich bei der Globalisierung um einen gegenwärtigen Fundamentalprozess handele. Nicht die Globalisierung selbst, sondern wie darauf reagiert werden sollte, habe zur Debatte gestanden. Im Konzept der Globalisierung hätten sich verschiedenste Deutungen der Gegenwart mit politischen Strategien und Gestaltungsansätzen verbunden und gegenseitig verstärkt. Die Rede von der Globalisierung habe für die Zeitgenoss:innen stets auch die grundsätzliche Akzeptanz einer sich im Umbruch befindenden Welt bedeutet – und die Intention, diesen Wandel mitzugestalten.

Die Sektion vermaß die wichtigsten Verflechtungsdiagnosen der jüngsten Zeitgeschichte. Nach einem kurzen Rückblick auf erste Wahrnehmungen sich intensivierender Verflechtung um 1900, spannten die Vortragenden einen zeitlichen Bogen von den „Interdependenz“-Debatten der 1970er-Jahre zu den Globalisierungsdebatten der 1990er-Jahre und boten Ausblicke in die Gegenwart. Gerade die 1980er-Jahre und für die USA die Regierung Reagan, so zeigte Leendertz, stellten eine wichtige Übergangsphase zwischen den beiden Hochphasen von Verflechtungsdiagnosen dar. Dabei ist besonders die Frage interessant, weshalb der Gedanke von „Interdependenz“ im Laufe der 1980er-Jahre zunehmend weniger wirkmächtig wurde, aber für die Regierung Reagan dennoch Elemente von Verflechtungsdiagnosen politisch handlungsleitend blieben. Die Vorträge von Hezel und Jaeger offenbarten ein Spannungsfeld hinsichtlich der Rolle des Nationalstaats, der von unterschiedlichen Gruppen zeitgleich zum Verlierer und Gestalter des globalen Zeitalters stilisiert wurde. Während einerseits im „Zeitalter der Globalisierung“ die Deutung an Relevanz gewonnen habe, dass Nationalstaaten vermeintlich an Problemlösungskompetenzen eingebüßt hätten (Hezel), wurde andererseits aufgezeigt, dass es gerade nationalstaatlichen Regierungen gelang, tiefgreifende Reformen mit dem Anpassungsdruck der Globalisierung (Jaeger) zu legitimieren.

Die in der Sektion präsentierten Forschungsergebnisse verdeutlichen die Wichtigkeit für Historiker:innen, nicht der Attraktivität und der scheinbaren Logik von Verflechtungsdiagnosen anheimzufallen, sondern die „Globalisierung“ als Wahrnehmung von Akteur:innen zu verstehen und als solche zu analysieren.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung/Einleitung: Jan Eckel (Freiburg)

Martin Deuerlein (Tübingen): Interdependenz. Globales Denken und internationale Politik in den langen 1970er Jahren

Ariane Leendertz (München): Die USA und die ‚interdependente‘ Weltordnung in den 1970ern

Lukas Hezel (Mannheim): Vom ‚Antiimperialismus‘ zur ‚Globalisierungskritik‘. Deutungskämpfe in der internationalistischen Linken 1988-2001

Jannes Jaeger (Tübingen/Freiburg): ‚Globalisierung‘ und Sozialstaatsreform in Großbritannien und Deutschland


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