HT 2021: Deutungskämpfe am Lebensende – Zur Dialektik von Individualisierung und Standardisierung beim Sterben, Trauern und Erben im 20. Jahrhundert

HT 2021: Deutungskämpfe am Lebensende – Zur Dialektik von Individualisierung und Standardisierung beim Sterben, Trauern und Erben im 20. Jahrhundert

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
hybrid (München)
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.10.2021 - 08.10.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Tobias Meßmer, Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte, Universität Augsburg

Bei kaum einer Fachsektion des diesjährigen Historikertags dürfte der Aktualitätsbezug durch Covid-19 derart ausgeprägt gewesen sein wie bei dem von DIETMAR SÜSS (Augsburg) moderierten Panel „Deutungskämpfe am Lebensende – Zur Dialektik von Individualisierung und Standardisierung beim Sterben, Trauern und Erben im 20. Jahrhundert“. Die Pandemie habe, so argumentierten JÜRGEN DINKEL (Leipzig) und FLORIAN GREINER (Heidelberg/Augsburg) in ihrer Einleitung, Probleme am Lebensende stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Erstaunlich sei, dass Fragen zum Sterben, Trauern und Erben in der Forschung zum 20. Jahrhundert bisher nur selten beachtet und kaum miteinander in Verbindung gesetzt würden. Dabei müssten die unterschiedlichen Phasen am menschlichen Lebensende analytisch als eine Einheit begriffen werden, da sie untrennbar miteinander verwoben seien – und als Spiegel zentraler gesellschaftlicher Verschiebungen gemeinsame Deutungskämpfe provozierten.

Um das Thema analytisch fruchtbar zu machen, sei es erstens – so ihre These – notwendig, die spezifische Zeitlichkeit zu berücksichtigen, denn die Planung des Lebensendes beziehe sich stets auf eine unbekannte Zukunft. Zweitens sei der Tod im 20. Jahrhundert immer zwischen den Polen der Individualisierung und Standardisierung verhandelt worden. Der Blick auf die Praktiken des Lebensendes erlaube somit den Zugriff auf verborgene Aushandlungsprozesse beispielsweise zwischen Staat und Individuum oder Öffentlichem und Privatem. Drittens mache die Betrachtung von Sterbe-, Trauer- und Erbpraktiken soziale Ungleichheiten sichtbar: Im Tod waren eben doch nicht alle Menschen gleich.

Mit dem Wandel der Friedhofs-Trauerkultur um 1900 eröffnete ANNA GÖTZ (Hamburg) den empirischen Teil der Sektion. Vorangestellt wurde ein Blick auf Begräbnispraktiken des 19. Jahrhunderts, deren Wandel sich stark mit dem sozialen Aufstieg des Bürgertums verband. Eine zentrale Entwicklung sei die Verlegung der Friedhöfe aus dem Stadtkern in die Peripherie gewesen. Dieser Schritt wurde vorrangig aus Platzmangel in europäischen Stadtzentren durchgeführt und verringerte den Einfluss der Kirche auf Bestattungs- und Trauerkultur vor Ort, was dem aufstrebenden Bürgertum die Möglichkeit eröffnet habe, eine individuelle Trauerkultur durch Monumente und individualisierte Grabsteine zu schaffen. Diese Praxis war zuvor Adel und Klerus vorbehalten gewesen, die restliche Bevölkerung in Schichtgräbern bestattet worden.

Der Trend in der Bestattungskultur hin zum repräsentativen Einzel- oder Familiengrab, der auf die Ungleichheit im Tod verweist, sei weiterhin von einem Wandel in der Trauerkultur begleitet worden, die sich in der Grabsteingestaltung manifestierte. Wenn diese auch nur in seltenen Fällen wirklich individuell war – die meisten Motive stammten aus Kostengründen aus Katalogen – erlaubten sie, so Götz, doch erstmals eine bürgerliche Trauer- und Gedenkkultur, die über christlich oder antik angehauchte Symboliken eine Kommunikation mit den Hinterbliebenen ermöglichte. Der teils langwierige und früh einsetzende Planungsprozess vor allem der Familiengräber verweise dabei auf die verlängerte zeitliche Dimension des Todes, die aus einem Mangel an Egodokumenten vor allem anhand einer Vielzahl von zeitgenössischen Werbebroschüren dargestellt wurde. Bemerkenswert war dabei der geschlechtergeschichtliche Blick auf die gängigen Motive der Grabverzierung. Vielfach wählten männliche Verstorbene hier um 1900 Darstellungen von Frauen mit Anlehnung an christliche oder antike Erzählungen, während ihre Gattinnen nur selten ein Memento erhielten, dafür aber sowohl im Trauern als auch im Sterben strengen Regeln unterworfen waren.

Insgesamt sah Götz als zentrale Änderung in der Bestattungskultur um 1900 vor allem den Wandel von einem Standes- zu einem Leistungsprinzip. Begräbnisse und Grabanlagen seien durch die Verschiebungen in der Friedhofskultur nicht länger einer ständischen, sondern einer finanziellen Logik unterworfen gewesen. Im abschließenden kurzen Ausblick ins frühe 20. Jahrhundert ließ sich erahnen, wie vielversprechend eine weitere Untersuchung der Bestattungskultur in der Zeitgeschichte sein dürfte, denn mit den beiden Weltkriegen sei auch die Friedhofskultur ein weiteres Mal intensiv neugeordnet worden.

Um ein konkretes Fallbeispiel ging es im zweiten Vortrag von JÜRGEN DINKEL (LEIPZIG): das Erbe der Maria S. Deren Nichte Therese Jahn war in den 1930er-Jahren zu ihr ins bayerische Vilsbiburg gezogen, um sie im Alter zu pflegen. Als übliche Gegenleistung für die Pflege bis zum Lebensende hatte die Tante ihr das Erbe bestehend aus zwei Grundstücken mit Wohnhäusern zugesichert. Nach dem Tod der Tante im Jahr 1951 konnte Jahn aber nicht vom Erbe profitieren, das nach dem Zweiten Weltkrieg erheblich an Wert gewonnen hatte, sondern wurde von den beiden Brüdern der Tante in einen 15 Jahre andauernden Rechtsstreit verwickelt. Diesen gewann sie zwar letztinstanzlich 1966 – in der Zwischenzeit 69 Jahre alt – aber vom Erbe ihrer Tante war nichts mehr übrig und sie hatte nach einem früheren Urteil gar selbst für sechs Monate im Gefängnis gesessen.

Zumindest die Praxis „Pflege gegen Erbe“ stellt dabei, wie Dinkel argumentierte, keine Besonderheit dar, sondern war in der städtischen Mittelschicht in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gängig. Gleichzeitig verwiesen derartige, meist informelle Absprachen auf Modelle persönlicher Nahbeziehungen jenseits der klassischen Kernfamilie und auf klare wirtschaftliche Ungleichheiten und Abhängigkeiten: Es seien vor allem Frauen mit geringen finanziellen Mitteln gewesen, die sich in derartige Pflegeverhältnisse begaben. Diese Absprachen basierten wiederum in der Regel nicht auf Arbeitsverträgen und regelmäßigen Lohnzahlungen, sondern auf geteilten Werten und Normen häuslicher Pflege sowie gegenseitigem Vertrauen. Die Absprachen und damit verbundenen Erbtransfers würden damit auf Eigentumshandeln jenseits eines engen und klassischen Ökonomiemodells verweisen. Sie gewährten Einblick in die Grundlagen und Funktionsweisen der moral economy ihrer Zeit und zeigten die enge Verflechtung von Familie und Ökonomie auch für das 20. Jahrhundert auf. Schließlich lasse sich aus dem Schicksal von Therese Jahn – deren Prozess im Verlauf der 15 Jahre bundesdeutsche Aufmerksamkeit erlangt hatte – auch die enge Verknüpfung von Pflegebedürftigkeit am Lebensende und Sozialstaat sichtbar machen. Denn durch den Ausbau von letzterem im Zusammenhang mit der stärkeren privaten Vermarktung der Pflege als Dienstleistung sei das Konzept „Pflege gegen Erbe“ seit den 1960er-Jahren immer mehr zum Randphänomen geworden. Eindrücklich zeigten sich an diesem Beispiel die unterschiedlichen Zeitlichkeiten am Lebensende, denn das Sterben von Maria S. prägte das Leben ihrer Nichte tatsächlich über 30 Jahre lang.

Einen 1990 von der Bild-Zeitung ausgerufenen „Religionskrieg“ wählte FLORIAN GREINER (Heidelberg/Augsburg) als Aufhänger des dritten Vortrags zum Kampf um das richtige Sterben in München. Befeuert worden sei dieser Konflikt von einem Wandel des Sterbens im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts. Wo zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch Infektionskrankheiten eine Mehrheit der Todesfälle in Deutschland verantwortet hätten, seien in den 1970er-Jahren mehr als 80 Prozent der Todesfälle auf chronische Krankheiten zurückzuführen, was in einem erheblich verlängerten und verteuerten Sterbeprozess resultierte. Daran entzündete sich eine Debatte um den gesellschaftlich-ethischen und finanziellen Umgang mit dem Lebensende, die in München verhältnismäßig früh – bereits Ende der 1970er Jahre – begann.

Als Reaktion auf diese Entwicklung erfolgte ein Rückgriff auf das im englischsprachigen Raum entwickelte Konzept des Hospizes. An dessen Umsetzung arbeiteten seit Mitte der 1980er-Jahre in München gesellschaftliche und politische Akteure gemeinsam mit den beiden christlichen Kirchen und ihren Wohlfahrtsverbänden. Dass die katholische Seite sowohl die evangelischen als auch die städtischen Träger aus dem Projekt drängte, führte schließlich Anfang der 1990er-Jahre dazu, dass auf städtisches Bemühen hin sogar ein zweites stationäres Hospiz in der Stadt geschaffen wurde. Bei beiden Einrichtungen handelte es sich formell indes um Palliativstationen, die an Krankenhäuser angegliedert waren. Zwar habe dieser Umstand einen rein finanziellen Hintergrund gehabt, da hospizliche Leistungen damals schlicht nicht über das Gesundheitssystem abrechenbar waren, sie seien jedoch wegen der Gegnerschaft der Hospizbewegung gegenüber der modernen Massenmedizin kontrovers gewesen. Denn die Hospizidee reagierte gerade auf medizinische Missstände im Umgang mit Todkranken in Klinken und versuchte, das Individuum wieder stärker in den Fokus zu nehmen. Wenngleich das „Münchner Modell“ deshalb nicht kopiert wurde, nahm die Entwicklung in der bayerischen Landeshauptstadt so letztlich die bundesweit in den 1990er-Jahren erfolgte Einbettung des Hospizgedankens in sozialstaatliche Strukturen vorweg.

Deutlich abzulesen am Münchner Beispiel ist das Ringen zwischen geistlichen und weltlichen Interessengruppen um die Deutungshoheit über das Lebensende und Fragen der Sterbebegleitung. Hier sahen zu dieser Zeit gerade die Kirchen eine Möglichkeit, ihren zunehmenden Bedeutungsverlust zu kompensieren. Und in der Tat seien Tod und Sterben allem wissenschaftlichen Fortschritt zum Trotz weiterhin ungelöste Probleme geblieben, die in den 1980er-Jahren zunehmend für Verunsicherung sorgten. Gleichsam war es bezeichnend, dass kaum eine der oft medizin- und gesellschaftskritischen Stimmen in der Debatte um ein „gutes Sterben“ die eines Sterbenden selbst gewesen sei. Die Lebenden rangen um dieses Konzept, und das – so Greiner – „fraglos im Bewusstsein, dass wir letztlich alle Sterbende sind“.

In ihrem Kommentar hob SIMONE DERIX (Erlangen-Nürnberg) noch einmal die örtlichen Unterschiede der besprochenen Perspektiven auf das Lebensende hervor und führte die unterschiedlichen Ansätze zusammen, um so einige Aspekte der Frage diskutieren zu können, die auch in der abschließenden Diskussionsrunde im Fokus stand: Was waren die Besonderheiten des Sterbens im 20. Jahrhundert? Dabei hob Derix erstens hervor, dass sich durch die Zukunftskomponente beispielsweise eines Testaments oder durch die prozesshafte Teilhabe am Lebensende von Hospizbewohnern unterschiedliche Zeitkonzepte des 20. Jahrhunderts erschließen lassen. Zweitens rücke das Panel die verstärkt ökonomische Grundierung des Sterbens in den Fokus, die ein Schlüsselelement jener Epoche darstelle und die vielleicht gerade bei einer individuellen Gestaltung des Lebensendes essenziell sei. Daraus werde drittens eine klare Verbindung der Elemente Zeit und Geld ersichtlich: Nur wer über ein entsprechendes Vermögen verfügte, konnte das eigene Andenken auf einem Friedhof über den eigenen Tod hinaus aufrechterhalten, und nur weil sie wohlhabend war, war es Maria S. möglich, die Lebenszeit ihrer Nichte für Pflegeleistungen zu erkaufen. Letztlich sei es viertens notwendig die unterschiedlichen, sich teils überlagernden Dimensionen von Ungleichheit stärker herauszuarbeiten. Denn diese erschöpften sich nicht allein in einer sozialen Komponente. Das Fallbeispiel des Münchner Hospizes habe die Differenzen zwischen Religion und Wissenschaft (Medizin) klar aufgezeigt, während in der Friedhofskultur um die Jahrhundertwende Geschlechterungleichheit abzulesen seien, denn Frauen wurden keine Prunkbauten gewidmet. Gleichsam verdeutliche der Fall Therese Jahn, dass es oft Frauen waren, die die Hauptlast der Bewältigung des Sterbens in Pflege und Sterbebegleitung tragen mussten. Mit der These, dass gerade die Institutionalisierung des Lebensendes im 20. Jahrhundert, die sich in der Gegenwart in Form von Pflegeheimen und neuen Care-Arrangements niederschlägt, es ermögliche, den Wandel in diesen Ungleichheitsbeziehungen zu erfassen, setzte Derix am Ende noch einen wichtigen zeitgeschichtlichen Impuls.

Abschließend lässt sich als Fazit der Sektion festhalten, dass es zum einen gelungen ist, die gesamte Spannbreite des 20. Jahrhunderts abzudecken. Zum anderen wurden die räumlich, zeitlich und inhaltlich diversen Themenkomplexe erfolgreich fokussiert und durch die eingangs aufgestellten Thesen gezielt gebündelt. Soziale Ungleichheit prägte die Menschen eben nicht nur in ihrem Leben, sondern auch in ihrem Sterben. Der Tod warf zudem stets auch die Frage nach der eigenen Lebensleistung und -erinnerung als zentrales Moment der Sinnstiftung auf, und verband so gleichsam Sterbende und Lebende in unterschiedlichen Lebensabschnitten. Nicht zuletzt die sich am Horizont anbahnende historische Aufarbeitung der Corona-Pandemie, die uns allen die Problematik des Lebensendes noch deutlicher als sonst vor Augen geführt hat, dürfte zukünftig dafür sorgen, dass den Themenkomplexen Sterben, Trauern und Erben in der Zeitgeschichte verstärkt Aufmerksamkeit geschenkt wird.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Jürgen Dinkel (Leipzig) / Anna-Maria Götz (Hamburg) / Florian Greiner (Heidelberg/Augsburg)

Florian Greiner (Heidelberg/Augsburg) / Jürgen Dinkel (Leipzig): Einleitung

Anna Götz (Hamburg): Der Friedhof als Bühne – Bestatten, Tod und Trauer in Hamburg um 1900

Jürgen Dinkel (Leipzig): Ein gefälschtes Testament? – Die prekäre Absprache „Pflege gegen Erbe“

Florian Greiner (Heidelberg/Augsburg): Ein moderner „Religionskrieg“? Der Kampf um das richtige Sterben in München 1978-1997

Simone Derix (Erlangen-Nürnberg): Kommentar

Kommentar: Dietmar Süß (Augsburg)