Forum: Digitales Lehren - Interview mit Laura Rischbieter (Universität Konstanz)

Von
Julia Laura Rischbieter, Fachbereich Geschichte und Soziologie, Universität Konstanz

H-Soz-Kult: Liebe Frau Rischbieter, herzlichen Dank für die Bereitschaft zu diesem Interview. Zunächst einmal: Was sind Ihre bisherigen Erfahrungen als Juniorprofessorin für Globale Wirtschaftsgeschichte an der Universität Konstanz mit digital gestützter Lehre, welche Formate und Inhalte haben Sie bisher genutzt und in welchem Rahmen (zum Beispiel Vorlesung oder Seminar)?

Laura Rischbieter: Ich habe bisher mit unterschiedlichen, jedwede Präsenzlehre unterstützenden Systemen gearbeitet. Dies reichte von im Institut selbst gebastelten Sharing-Lösungen über Moodle bis nun zu ILIAS. Diese Lernplattformen können vielseitig genutzt werden: Ich erstelle hier Audio- und Videodateien mit kurzen Arbeitshinweisen für die Studierenden, nutze die Chatfunktion für Gruppenarbeit sowie Feedbacktools und habe einen Kurs mit drei (zoom-basierten) Webinaren begleitet, um die Projektarbeit der Studierenden zu moderieren. Vor allem dienen mir die Lehrplattformen für die Bereitstellung von Texten und Quellen, die digitale Begleitung bei der Bearbeitung der bereitgestellten Materialen und den Hinweis auf zahlreiche Links zu weiteren digitalen Angeboten von Dritten – von digitalen Quellensammlungen über Hinweise auf Statistiken bis bin zu Blogs.

H-Soz-Kult: Worin bestehen aus Ihrer Sicht die Unterschiede zwischen der klassischen Präsenzlehre und einer digital unterstützten Lehre und davon nochmals abgegrenzt einer ausschließlich digital durchgeführten Lehre?

Laura Rischbieter: Wenn digitale Aspekte der Lehre nicht „nur“ dazu dienen, die Präsenzlehre zu unterstützen, sondern das Digitale als Lehrinhalt mitbehandelt wird, dann herrscht in der Lehre von vornherein eine andere Gesprächssituation. Da hier (noch) kein Repertoire an etablierten digitalen Infrastrukturen zur Verfügung steht, ist der Lehrende mehr herausgefordert, den Studierenden die eigenen Vorgehensweisen als subjektiv und optimierbar zu präsentieren, beispielsweise mit ihnen gemeinsam Quellen zu finden und zu analysieren, deren Authentizität zu debattieren und Kontexte zu recherchieren. Dies ist meiner Erfahrung nach sehr motivierend für Studierende, denn es können nicht einfach die etablierten Daumenregeln “ rezitiert werden – wie zum Beispeil es gäbe „Tradition und Überrest (eine Regel, die sich mir noch nie wirklich in der Praxis erschlossen hat). Ich würde diese Form der Stoffvermittlung von digitalen Ressourcen in den Geschichtswissenschaften aber eher als eine Lehrhaltung bezeichnen, die sich vor allem durch die gegenwärtige Situation ergibt, in der die Geschichtswissenschaften digitale Ressourcen noch kaum als neuen und auch relevanten Lehrinhalt etabliert haben.

Auch eine Lehrveranstaltung, die als digitales Webinar abgehalten wird, lässt sich letztlich im Prinzip genauso durchführen wie die Lehre der letzten Jahrzehnte seit der Einführung von Lehrplattformen wie Moodle und Co., wenn Dozent/innen und Studierende sich an die neue, netzbasierte Gesprächssituation gewöhnt haben. Ein Onlineseminar erfordert es an sich erst einmal nicht, die bisherige Lehre neu zu konzipieren – wünschenswert wäre es natürlich. Digitale Ressourcen in der Lehre zu nutzen und sie selbst zum diskutablen Gegenstand der Lehrveranstaltungen zu erheben, erscheint mir dagegen einen Unterschied zu machen.

H-Soz-Kult: A propos Quellen: Die Arbeit mit den Quellen, respektive die Quellenkritik ist ein elementarer Bestandteil der Geschichtswissenschaften, die Verwendung digitaler Quellen aber mit ihren eigenen Herausforderungen verbunden. Was würden Sie hinsichtlich der Verwendung digitaler Quellen im Sommersemester den Kolleg/innen empfehlen, die sich damit noch nicht eingehender auseinandergesetzt haben?

Laura Rischbieter: Ich habe letztes Wintersemester einen Kurs speziell zu diesen Fragen unterrichtet, der sich den Problemen der digitalen Recherche und Quellenkritik von (nur oder auch) digitalen Quellen widmete am Beispiel geleakter Quellen wie den Panama Papers, Wikileaks und Quellenkonvoluten, die nach medialen Leaks online gestellt wurden. Hierfür war es aber erst einmal nötig, genau mit den Studierenden zu erarbeiten, was „klassische“ Kriterien der Quellenkritik sind, was ein Archiv ist und was die Standards archivalischer Kassierung und Klassifizierung ausmachen. In einem zweiten Schritt folgten dann Lehrinhalte, die sich ganz der Frage des sinnvollen und effizienten Recherchierens im Internet widmeten. Es kann zum Beispiel sehr hilfreich sein, eine Suchmaschine zu benutzen wie Qwant, die keine personalisierten Suchergebnisse liefert. Eine Studentin „entdeckte“ so, dass es in der australischen Nationalbibliothek einen fantastischen Quellenbestand zur deutschen Kolonialgeschichte gibt, der in exzellenter Qualität digitalisiert und fachlich erschlossen ist. Anhand dieses Fundes war es ihr möglich, ein Forschungsprojekt zur Frage der Arbeitsbeziehung in der deutschen Kolonie Samoa zu entwickeln. In einem dritten Schritt widmeten wir uns dann den berühmten Leaks ab den 1970er-Jahren. Ein Ergebnis (unter vielen, auf die ich hier jetzt nicht eingehen kann) war zum Beispiel, dass Fragen der Authentizität und Kontextualisierung von digitalisierten oder gar nur digital existierenden Quellen einen enormen Stellenwert erhalten. Dieser Kurs wird jetzt mithilfe meiner Kollegin Veronika Pöhnl aus dem Referat Lehrfragen, die Erfahrung mit distance learning hat und die technischen Grundlagen beherrscht, zu einem Onlinekurs mit Präsenzlehreanteilen weiterentwickelt als Teil des ADILT (Advanced Data and Information Literacy Track) der Universität Konstanz. Im Rahmen des „Track“ können Studierende aller B.A.-Studiengänge ein Zusatzzertifikat erwerben. Ich halte eine solche interdisziplinäre aber zugleich im eigenen Fach verankerte universitäre Ausbildungsoption für Studierende der Geschichtswissenschaft für äußerst relevant. So können sie sich einen Überblick über die Digitalisierung und die damit verbundenen aktuellen ethischen und technischen Fragen verschaffen sowie eine zertifizierte berufliche Zusatzqualifikation erwerben.

H-Soz-Kult: Welche Besonderheiten sehen Sie für die Wirtschafts- und Sozialgeschichte in dieser Hinsicht?

Laura Rischbieter: Sozial- und Wirtschaftshistoriker/innen haben ja oft von Haus aus einen gewissen Hang zur Auswertung von seriellen Quellen und haben früh mit Digitalisaten gearbeitet und Statistiken computergestützt erstellt, bearbeitet und online bereitgestellt. Es liegt also schon eine Reihe von online auffindbaren Zusammenstellungen von Statistiken zu Preisen, Wachstum, Demographie, sozialer Ungleichheit und vielem mehr vor. Umfassende Datenrepositorien finden sich einige, etwa von den berühmten Historical Statistics for the World Economy (https://www.rug.nl/ggdc/historicaldevelopment/maddison/) über Zusammenstellungen wie HISTAT (https://histat.gesis.org/histat/) bis zu neueren wie dem Macrofinance & Macrohistory Lab (http://www.macrohistory.net/data/). Natürlich ist im Hinblick auf die historische Statistik auch noch viel zu tun, aber ein weiteres Aufgabenfeld erscheint mir relevant, wenn man über digitale Ressourcen für die Geschichtswissenschaft und Lehre nachdenkt: Es lassen sich Unmengen von interessanten Datenbanken im Rahmen von Bibliotheksinitiativen finden, wie zum Beispiel Interviews aus den 1920er- und 1930er-Jahren mit ehemaligen US-amerikanischen Sklaven, die die Libarary of Congress auf ihrer Internetseite veröffentlicht hat. Diese Interviews sind wunderbar ediert und ihre Entstehung wird ausführlich problematisiert. Doch meistens finden sich Datenbanken mit hunderten, wenn nicht tausenden Digitalisaten ohne weitere Erklärung zum Bestand. Je nachdem wie die Forschungsfragen lauten, die wir stellen, findet sich also sehr Unterschiedliches, von divergierender Qualität und oftmals ist nicht klar, wer da was, warum, wie digitalisiert und hochgeladen hat, ganz zu schweigen in welchem Kontext die Quellen entstanden sind und so weiter. All das, was die Einführung in einem klassischen Findbuch eines Archivs für uns leistet, fehlt hier mehrheitlich und dies auch dann, wenn die digitalen Datenbanken von großen Nationalbibliotheken bereitgestellt werden. Einerseits lassen sich also viel leichter weltweit Quellen finden zu sozial- und wirtschaftshistorischen Themenfeldern, andererseits sind sowohl Fragen der internen wie externen Quellenkritik nur sehr erschwert zu beantworten. Hier erscheint es mir in Zukunft eine wichtige Aufgabe der geschichtswissenschaftlichen Lehre zu sein, verstärkt sowohl das Online-Recherchieren als auch die Erschließung von digitalen Ressourcen für Historikerinnen und Historiker zu vermitteln – und auch jenseits der Lehre stellen sich hier noch zahlreiche Herausforderungen.

H-Soz-Kult: Lehrveranstaltungen zeichnen sich in den Geisteswissenschaften vor allem durch die Kommunikation aus. Wie können die kommunikativen Aspekte der Wissensvermittlung und Gruppendiskussion, die ein Seminar oder eine Übung auszeichnen, in den virtuellen Raum transferiert werden? Wie lassen sich intellektuelle Auseinandersetzungen virtuell produktiv führen? Wie könnte die Kommunikation mit unseren Studierenden zu einer Lehrveranstaltung, aber auch über sie hinausgehend aussehen?

Laura Rischbieter: Je nach Empfangsqualität und dem Handling einer Software kann ein Webinar ziemlich gut eine klassische Seminarsituation herstellen. Ich würde aber immer empfehlen, dass unterschiedliche technische Hilfsmittel genutzt werden, um unterschiedliche Kommunikationssituationen herbeizuführen. So kann eine Einführungssitzung erst einmal daraus bestehen, dass die Dozentin ein Video vorbereitend hochlädt, welches die Studierenden begrüßt, inhaltlich in das Seminar einführt und auch die technischen Voraussetzungen erläutert. All das Gesagte, wie der inhaltliche Seminarablauf, die Wahl der technischen Mittel etc. pp. sollte noch mal als gesonderte Texte (z.B. PDFs) in der Lehrplattform zur Verfügung gestellt werden. Ebenso hilfreich ist eine Handreichung zum Ablauf und zur Software von Webinaren bis hin zu Hinweisen zu kostenlosen und der Öffentlichkeit zugänglichen Software-Downloads (von Videoplayern wie dem VLC Media Player für die gängigen mp4-Formate bis hin zu den Angeboten des jeweiligen Bundeslandes und der jeweiligen Universität bzw. Fachhochschule). Fragen zur Quellen- und Textarbeit können beim jeweiligen Dokument auf der Lehrplattform veröffentlicht werden. Nachfragen zu Texten und Quellen können wiederum zu einer festen Uhrzeit über die Chatfunktion der Lehrplattformen genutzt werden. Projektpräsentationen können über die Lehrplattform von den Studierenden bereitgestellt werden als PDF und mit Video- oder Audioinhalten. Zusätzlich halte ich es aber für sinnvoll, regelmäßig das freie Gespräch und die Diskussion zu ermöglichen mittels ergänzender Videokonferenzen.

Je weniger direkte Kommunikation möglich ist, umso mehr müssen technische Lösungen gewählt werden, um den Studierenden und Lehrenden Austausch zu ermöglichen. Grundsätzlich ist die Umsetzung mittels verschiedener technischer Kanäle aber auf jeden Fall arbeitsintensiver, als die Lektüre für eine Sitzung unter den Arm zu nehmen, die Kreide einzustecken und in einen Seminarraum zu gehen. Aber auch ohne das Digitale gab es schon immer Dozent/innen, die jede Sitzung ausführlich didaktisch vorbereitet haben inklusive verschiedener Arbeitsmaterialen, PowerPoint-Präsentation etc. pp. und Dozent/innen, die sehr spontan und ad-hoc lehren. Letztere können zumindest jetzt in der Ausnahmesituation ihren Lehrstil aber ja durchaus beibehalten, indem sie vor allem auf Webinare setzen, wenn die Verbindungsqualität es zulässt.

Im Sommersemester werde ich verstärkt per E-Mail und Telefon mit den Studierenden in Kontakt treten; gerade während der vermutlich chaotischen ersten Wochen des Sommersemesters werde ich versuchen, über die digitale Lehrplattform die Studierenden zu motivieren, miteinander zu kommunizieren, und mittels Telefon in der ersten Semesterwoche mit allen Studierenden einmal zu sprechen. Ob das klappt und realistisch ist, das hängt aber natürlich auch davon ab, wie viele Studierende meine Lehrveranstaltungen „besuchen“ werden. Ich denke aber, dass es auf jeden Fall in der jetzigen Situation, die viele Studierende verunsichern kann, viel mehr motivierender und unterstützender Kommunikation bedarf als üblicherweise.

H-Soz-Kult: Welche Anregungen möchten Sie abschließend den Kolleginnen und Kollegen für die Planung und Durchführung digitaler bzw. digital gestützter Lehre mit auf den Weg geben?

Laura Rischbieter: In Zeiten von Corona und wenn es nur alleine darum geht, die Präsenzlehre für ein Semester auf online basierte Lehre umzustellen, würde ich vorschlagen, die verschiedenen digitalen Angebote und technischen Werkzeuge im Rahmen der an der eigenen Universität schon vorhandenen digitalen Lehrplattformen wie Moodle oder ILIAS spielerisch auszuprobieren, um zu sehen, was für den eigenen Stil am besten passt, und sich auch immer zu fragen, was man alles eben nicht benötigt. Wer allerdings unterrichten will zu digitalen Ressourcen in den Geschichtswissenschaften und den damit verbundenen Problemen und Chancen, der braucht viel Zeit, um sich in den Weiten des Internets zurecht zu finden. Hier fehlt es definitiv an guten Angeboten und es wäre eine wichtige Frage, wie wir hierfür propädeutische Handreichungen entwickeln und Guides bereitstellen können, die nicht schon in dem Moment veralten, in dem sie fertig sind.

H-Soz-Kult: Vielen Dank für dieses Interview!

Laura Rischbieter: Aber gern!