Forum: Rez: J. Dülffer: Zum Stand der Rezensionen in den Geschichtswissenschaften. Einige Beobachtungen als Teilnehmer

Von
Jost Dülffer, Historisches Institut, Universität zu Köln

„Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Rezensent“, befand Johann Wolfgang von Goethe in der letzten Zeile eines Gedichts vom März 1774. Das wurde seither häufig ironisch zitiert; vorangegangen war in dem Poem der Bericht über einen „Kerl“ als Goethes Gast, der sich bei gutem Essen und Trinken den Magen vollschlug und dann beim Nachbarn über eben dieses Essen herzog. Marcel Reich-Ranicki hat in der Frankfurter Anthologie hervorgehoben, dass es sich hier um ein Gleichnis zum Literaturbetrieb handelte und der Dichterfürst sich nicht gerade zimperlich oder uneitel gegenüber einem oder mehreren Kritikern zeigte. Ein Zeitgenosse replizierte demnach auch gleich: „Schmeißt in todt, den Hund! es ist ein Autor der nicht kritisiert will sein (sic).“1 Ein ewiges Thema, ein unauflöslicher Prozess? Wohl kaum, wenn man von Eitelkeiten und Empfindlichkeiten aller Art absieht, die zur Kommunikation dazu gehören.

Was für den Literaten galt und immer noch gelten mag, dessen poetische oder schöngeistige Produktion auch mit ästhetischen oder moralischen Maßstäben bewertet zu werden pflegt, gilt gewiss für Kulturwissenschaftler:innen nur eingeschränkt. Da gibt es einen relativen Stand der Wissenschaft, an dem gemessen und gewichtet werden kann, welcher der schönen Literatur fremd ist. Aber immerhin: Kritik zu formulieren und diese dann zu ertragen, gehört wohl zu den konstitutiven Bedingungen von Wissenschaftlichkeit, auch wenn sie nicht immer mit Freude, Gleichmut oder Einsicht der Autor:innen Hand in Hand geht. Was idealiter sine ira et studio von Rezensent:innen formuliert wurde, wird nicht unbedingt von Autor:innen auch so rezipiert. Hier könnten Reflexion über die je eigene Standortgebundenheit helfen, den Charakter wissenschaftlicher Auseinandersetzungen und zumal von Rezensionen besser zu verstehen.

Die folgenden Beobachtungen stammen von einem Menschen, der im letzten halben Jahrhundert ziemlich viele Rezensionen verfasst hat, es dürfte eine kleine vierstellige Zahl sein. Die Ausführungen können daher keine teilnehmende Beobachtung wie in der sozialen Feldforschung sein, sondern sie bieten eher eine beobachtende Teilnahme – und dies naturgemäß primär für den Ausschnitt der eigenen fachlichen Interessen und Forschungen aus dem gesamten Fach der Geschichtswissenschaft.2 Es geht also eher um Impressionen als um empirisch fundierte Urteile.

1. Überhaupt Aufmerksamkeit generieren

Rezensionen haben die unterschiedlichsten Funktionen – intendiert oder in ihren tatsächlichen Wirkungen. Sie sind Teile eines allgemeinen wissenschaftlichen Diskurses, dessen Bedingungen, Mechanismen, Wirkweisen und Problematik hier gleichfalls Thema sind. Im Vordergrund sollte sicher stehen – und das steht auch hier im Zentrum –, ihre Rolle als Hilfsmittel und Instrument des sich permanent entwickelnden wissenschaftlichen Diskurses. Aber zunächst einmal generieren sie Aufmerksamkeit. Das ist angesichts der Flut an neuen Monographien, Sammelbänden, aber auch Aufsätzen eine zentrale Funktion. Kaum ein Mensch kann wohl alles lesen, was zu einem eigenen Forschungsfeld oder geplanten Beitrag erschienen ist. Damit helfen sie bei der Reduzierung der Fülle von Information und helfen so die eigene, begrenzte Zeit zu strukturieren.3 Sie sind aber auch ein Teil der Werbekette, die vom Verlag bis zur Lektüre der Community (die kleiner als der gängige Allgemeinbegriff der Historikerzunft ist) reicht, und die überhaupt erst einmal dafür sorgt, dass eine Publikation zur Kenntnis genommen wird. Die altehrwürdigen Jahresberichte für die deutsche Geschichte erfassten seit dem späten 19. Jahrhundert zwar so ziemlich alles, was zum Thema relevant war, sie wurden jedoch 2015 eingestellt: zu langsam und zu umfangreich. Die Rubrik „Eingegangene Bücher“ etwa der Historischen Zeitschrift, des Historisch-Politischen Buches oder gegenwärtig noch der Sehepunkte liefern heute noch Hinreichendes. Nur eine elektronische Zeitschrift wie die Sehepunkte ist schnell genug, um mit aktuellen Listen auf Neuerscheinungen aufmerksam zu machen, H-Soz-Kult hat das aufgegeben, da es wohl zu zufällig war, welche Bücher von Verlagen eingereicht wurden. Wichtiger aber noch: Verlage versenden zunehmend weniger Rezensionsexemplare ins Blaue hinein. Selbst bei von Redaktionen angeforderten Exemplaren sind Verlage zunehmend zögerlich oder liefern keine Druck-, sondern nur E-Ausgaben; bei englischsprachigen Verlagen für Rezensionen in Deutschland scheint das gleichfalls immer schwieriger zu sein. Aber auch Verlage anderer nicht-deutschsprachiger Länder liefern kaum. Das dürfte den Kosten immer teurer werdender Bücher geschuldet sein, aber auch den ausgefeilteren Marketingstrategien. Insbesondere für ausländische Verlage stellt sich die Frage: wozu eine Rezension in Deutschland?

Auf der Seite der Wissenschaft kommt etwas hinzu: auch wenn vom Verlag Rezensionsexemplare vergeben werden, erscheinen oft keine Rezensionen. Das kann so weit gehen, dass potenzielle Rezensent:innen über einschlägige Redaktionen Exemplare serienweise bestellen. Vor ungefähr dreißig Jahren erläuterte mir in diesem Sinne der Leiter eines renommierten Wissenschaftsverlages mit einer langen Liste von ausgegebenen Rezensionsexemplaren ohne spätere Resonanz, warum er einer gleichfalls renommierten Rezensionszeitschrift keine Bücher auf Anforderungen mehr zur Verfügung stelle (der Autor dieser Zeilen sollte als zuverlässiger Rezensent ausgenommen bleiben). Die Rückforderung von Rezensionsexemplaren bei Nicht-Besprechung durch Redaktionen und Verlage scheint außer Gebrauch gekommen zu sein, eher wird erst gar kein Exemplar zur Verfügung gestellt.

2. Inhalte vermitteln

Halten wir also fest, dass nächst dem Verlagsmarketing und professionell erstellter Literaturlisten Rezensionen zunächst einmal Aufmerksamkeit für die Existenz neuer Publikation erzeugen und zwar in der jeweiligen Community oder Blase, die ein Rezensionsmedium abdeckt. Eng damit verwandt ist die zweite Funktion, das Bekanntmachen mit dem Inhalt. Es ist kein Geheimnis, dass manche Rezensent:innen nur ein besseres Inhaltsverzeichnis anfertigen, gelegentlich eng angelehnt an den Klappentext und die Verlagswerbung. Das trifft vor allem auf kürzere Besprechungen zu; einige Zeitschriften haben sich auf solche Formate spezialisiert und hier gilt: je kürzere Texte in derartigen Organen möglich sind, desto seltener kann eine kritische Auseinandersetzung tatsächlich stattfinden.

Das Historisch-Politische Buch lebte lange Jahre von einer überwiegenden Zahl von viel zu knappen 20/30-Zeilen-Besprechungen, hat mittlerweile aber sehr viel breiter gefächerte Formate wie mehrere Leitbesprechungen; das Jahrbuch Extremismus und Demokratie bietet nach wie vor eine Fülle knappster Buchanzeigen, die nicht beanspruchen auch Rezensionen zu sein. Gerade im Sektor der landesgeschichtlichen Zeitschriften, aber auch in thematisch oder methodisch sektoral angelegten Zeitschriften scheint Vollständigkeit der Erfassung von Neuerscheinungen durch knappe Rezensionen ein wichtiges Anliegen zu sein, das dann auch oft gut ausgefüllt wird. Anderswo geht es dann aber stärker um die Kriterien der Auswahl.

3. Wissenschaftliche Rezensionen und Diskurse

Damit sind wir bei den eigentlichen Rezensionen angelangt. Sie erfüllen die genannte Aufmerksamkeitsfunktion ebenso wie die Inhalte, sollen aber mehr leisten. Was eine gute Rezension ausmachen sollte, benenne ich am Ende von Abschnitt 5. Wenn nicht alles täuscht, dann ist in den letzten Jahrzehnten in den großen Printmedien, Wochen- oder Tageszeitungen, der Platz für einschlägige Rezensionen geschrumpft. Dasselbe gilt für die öffentlich-rechtlichen Hörfunksender, bei deren Umstrukturierung von linearen zu online-Formaten gerade Rezensionen auf der Strecke zu bleiben drohen (oder dort neue Chancen bekommen). Im Print hatte Die Zeit ein ganzes Blatt mit Buchbesprechungen aller Art – jetzt gibt es im Politischen Buch oder Sachbuch oft nur einen historischen Titel. Auch in Der Spiegel findet sich wenn überhaupt nur ein Titel und dann häufig zum redaktionellen Beitrag verarbeitet. In den großen Tageszeitungen haben die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Süddeutsche Zeitung sowie Die Welt ihre regelmäßige wöchentliche Seite an Politischen Büchern aufrechterhalten, jedoch hat sich nach meinem Eindruck der Anteil genuin historischer Bücher gegenüber aktuellen politischen Themen verkleinert, das journalistisch-publizistische Sachbuch, aber auch die populäre Darlegung größerer Zusammenhänge durch renommierte Wissenschaftler:innen findet gegenüber dem eigentlich wissenschaftlichen Buch stärkere Beachtung. Und – wie jüngere Erfahrungen aus meinen neueren Arbeitsgebieten ergeben – es geht dann bisweilen nicht um wissenschaftliche Qualität, sondern um den Neuheits-, ja Sensationscharakter von Veröffentlichungen.4 Das allgemeine Verhältnis von zusammenfassenden Buchformaten zu eher spezialisiert oder methodisch innovativen gehört hier nicht zum Thema.

4. Rezensionen und Antragskultur

Die eigentliche kritische Auseinandersetzung mit Büchern findet traditionell in umfänglicheren Rezensionen statt und hier stellt sich die Frage, ob diese Beobachtung nicht modifiziert werden muss. Denn schon mit Beginn von drittmittelfinanzierten Einzel-, noch mehr von Kollektivprojekten hat sich eine Antrags- und daraus folgend Begutachtungsflut ergeben, in die gleichsam von den ersten Ideen zu einem Werk externe Einflüsse und damit Modifikationen eingehen. Reichte zu Zeiten des Beginns meiner wissenschaftlichen Laufbahn vielfach für eine Dissertation noch die Absprache mit bzw. oft Themenvergabe durch eine Professorin bzw. einen Professor und daraus folgend die mehr oder weniger intensive bilaterale, nicht schriftlich fixierte Betreuung bis zur dann durch eine Fakultät organisierten Begutachtung, so haben sich seit langem viele formelle und informelle Begleitungen und Stationen eingebürgert, die zu einem laufenden mündlichen wie verschriftlichten Evaluationsprozess von Seiten der Autor:innen ebenso wie der Betreuer:innen ergeben. Strukturierte Graduiertenschulen, aber auch Mentoring bei Habilitationsschriften wie überhaupt die Tatsache, dass viele, wenn nicht die allermeisten historischen Arbeiten Teile größerer Forschungsprojekte sind, haben die wissenschaftliche Arbeit grundlegend verändert. Dieser permanente und vielfältige Prozess der Erstellung von Forschungsprogrammen, Zwischenschritten, Evaluationen bietet andere Chancen der Horizonterweiterung, der Differenzierung, Klärung und Korrektur von Arbeitsmethoden und -inhalten als das überkommende Verfahren. Mehr oder weniger engmaschige Begleitung verbindet sich immer wieder mit einer Einschätzung von Geleistetem und noch zu Leistendem.

Es kann keine Frage sein, dass gerade in der universitären Situation von Qualifikationsarbeiten ein großes Maß an Energie in diese Top-down- wie Bottom-up-Prozesse investiert wird. Die laufende Qualitätskontrolle führt jedoch möglicherweise nicht nur zur Steigerung der Qualität, sondern beansprucht Ressourcen, die dann nur bedingt in das Endprodukt der Kommunikation, der (Buch-)Publikation eingehen: Hauptsache endlich fertig! Diese könnte dann wiederum als Folge ihres strukturierten Entstehungsprozesses gar nicht mehr die allgemeine öffentliche Würdigung und kritische Auseinandersetzung finden, um die es doch wohl eigentlich gehen sollte.

Mir ist unbekannt, ob die anregende und kontrollierende Begleitung zur qualitätvolleren Produktion beiträgt, oder ob diese gelegentlich geradezu darin hindert, dass buchförmige Endprodukte die Öffentlichkeit erreichen und dort ihre eigentliche Wirkung entfalten können. Darin steckt auch die Anfrage an das Rezensionswesen. Ich kenne ausgewiesene Wissenschaftler:innen, die sich sehr bewusst nicht in diesem als sekundär angesehenen Feld der nachträglichen, wenn auch vielleicht nach vorn weisenden Bereich der Rezensionen einlassen. Überlastung scheint mir nur einer der Gründe dafür zu sein. Der Zwang zur Einwerbung von Drittmitteln in ritualisierten Anträge bindet kritische und kreative Phantasie in einem früher nicht dagewesenen Grad, ja hat – wie Margit Szöllösi-Janze gerade dargelegt hat5 – die Universitäten als solche verändert und neu geprägt.

5. Neue Diskussionsformen und -foren

Was hat das mit den Rezensionen zu tun? Ein zentraler Unterschied des Antrags- und Evaluationswesens und von Rezensionen liegt darin, das erstere Absichten und Ziele begleiten, während letztere auf das fertige Produkt zielen. Mir liegen keine Daten vor, wie stark die Praxis, Forschung fortlaufend zu evaluieren die Fertigstellung von Büchern fördert oder durch den Aufwand gar hindert. Aber bei aller Begleitung von historischer Forschung inklusive der (internen) Gutachten, ist der öffentliche Diskurs doch etwas Anderes und weiter Reichendes. Wenn ich recht sehe, spielen u.a. in den Naturwissenschaften laufende Begutachtungen bei den dort gängigen Formaten der Veröffentlichung, hier oft in Zeitschriften, eine entscheidende Rolle; aber auch in den Geschichtswissenschaften haben diese in den einschlägigen Zeitschriften eine wichtige, wenn auch geringere Bedeutung, wenn sie einen gewissen Qualitätsstandard zu garantieren scheinen.

Über den genaueren Beitrag von Blogs und anderen aktuellen Formaten zur wissenschaftlichen Urteilsbildung möchte ich mich nicht auslassen. Diese neueren Medien müssen an sich keinen Niveau- oder Argumentationsverlust bedeuten. In vielen Fällen können sie jedoch dem Anspruch auf niederschwelligen Informationszugang oder der wissenschaftsbürokratischen Forderung nach anwendungsbezogener Vermittlung von Wissenschaft Vorschub leisten. Hierin stecken eher Gefahren der Verflachung und Vermarktung, als dass sich Chancen der Förderung innovativer Wissenschaft durch angemessene Kritik böten. Die Bedeutung von Blogs dürfte daher dennoch bis auf Weiteres primär für die oben genannten Kategorien des Bekanntmachens von Themen und Inhalten wichtig sein. Ein anderes Format hat an Fahrt aufgenommen und beansprucht die Aufmerksamkeit: öffentlichen Buchvorstellungen gab es schon immer, jedoch haben durch entsprechende Portale, besonders markant L.I.S.A der Gerda-Henkel-Stiftung, die Möglichkeiten zur öffentlichen Nachverfolgung zugenommen, sei es in Wort, Ton oder auch Bild. Das können Streitgespräche und Symposien sein, in vielen Fällen scheinen es jedoch Chancen zur freundlichen Selbstdarstellung von Autor:innen, verbunden mit Frage- und Antwortrunden, zu sein, die diesen Möglichkeiten zu pointierter Präsentation geben.

Mein Fazit also soweit: Einige Funktionen von Rezensionen wie Aufmerksamkeit für Titel oder deren Inhalt zu erzeugen, werden in einer sich differenzierenden wissenschaftlichen Welt auch von anderen Medien übernommen, es ist eine vielfältige Konkurrenzsituation entstanden. Es bleibt jedoch die eigentliche öffentliche und kritische Funktion der Buchbesprechungen erhalten, die auf Dauer gestellt ist. Linear selektives Lesen ist immer noch leichter, als bei Ton- oder Bild-Medien einen selektiven Überblick durch Vor- oder Zurückspulen zu erlangen. Worin die kritische Funktion elaborierter Rezensionen liegen kann, ist vielfältig: Überprüfung der Methodik, Einordnung in den Forschungsstand mit Herausarbeitung des Geleisteten und Übersehenen oder Fehlenden, Verbindung zu anderen Forschungen, Anregung für weitere Arbeiten und Vernetzungen und manches mehr. Je nachdem, wie viel Platz für eine Rezension zur Verfügung stand, habe ich mich bemüht, diesen Ansprüchen zu genügen. Ich stelle mir vor, dass die geäußerten weitergehenden Anregungen von der entsprechenden Community auch wahrgenommen worden sind. Aber in der Frage, welche Wirkung sie im entsprechenden Diskurs gefunden haben, bin ich skeptischer geworden. Solche weiterführenden Überlegungen müssen doch wohl eher mindestens in einem eigenen Aufsatz formuliert werden, damit sie auch zitiert werden; Gedanken aus Rezensionen wirken eher kurzzeitig. Wenn überhaupt werden Rezensionen zumeist nur als solche zitiert, kaum deren spezifische Argumente.

6. Außerwissenschaftliche Motive für Rezensionen

Unterschwellig erfüllen Rezensionen eine weitere Funktion, die gar nicht so selten sein dürfte, aber selten so offen ausgesprochen wird, wie sie etwa der Historiker und Politikwissenschaftler Hans-Peter Schwarz zu seiner 1962 erschienenen Habilitationsschrift (über Ernst Jünger) berichtete, nämlich dass der ihm befreundete Kollege Kurt Sontheimer dazu einen Lobesbrief an das Niedersächsische Kultusministerium schrieb und dann noch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung „eine ausgezeichnete, fast überschwängliche Rezension“ verfasste, ein Lob das maßgeblich zu seinem, Schwarz‘ erstem Ruf nach Osnabrück beigetragen habe.6 Freundlich gesagt, ist das Rezensionspolitik pur et simple und damit ein dirty word für Ansprüche an Wissenschaftlichkeit, aber doch wohl nach wie vor als Erscheinung gang und gäbe, wenn es auch unterhalb der öffentlichen – veröffentlichten – Kommunikationsschwelle liegt.

Das führt zur Frage der Befangenheit, Gefälligkeit oder gezielter Selbstbestätigung von Netzwerken oder ganzen „Schulen“. Sie spielt überall im Wissenschaftsbetrieb eine Rolle, besonders jedoch in der öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Werk von Kolleg:innen, unbeschadet etwa der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft vorgelegten und vorgeschlagenen Standards.7 Gerade die vermeintlich „kleine“ Form der Rezension legt Redaktionen und Rezensent:innen eine große Verantwortung auf. Grundsätzlich beanspruchen Redaktionen bzw. einzelne Redakteur:innen, auf die es zumeist ankommt, ihr Recht auf eigenständige Auswahl und Auftrag an Rezensent:innen. In vielen Fällen werden aber auch programmatisch gern Anregungen bzw. Anfragen durch an Rezensionen interessierte Personen angenommen. In den großen, auf die allgemeine Öffentlichkeit zielenden Printmedien oder des Hörfunks sind das zumeist wissenschaftlich einschlägig gebildete Redakteur:innen, die mit ihrer Vergabepolitik von Rezensionen durch Erzeugung von Aufmerksamkeit bisweilen Wissenschaftspolitik machen.

7. Interdependenz von Rezensionen

Das gilt ganz besonders für Besprechungen, die, auf Grund der Druckvorlagen noch vor dem fertigen Buch erstellt, zeitgleich oder zeitnah zur Buchveröffentlichung erscheinen. Derartige Besprechungen und ihre Bewertung eines Buchs können die nachfolgenden eigentlichen fachwissenschaftlichen Rezensionen in Fachpublikationen beeinflussen. Wenn ich etwa aus dem englischsprachigen Bereich ein unbekanntes Buch oder von einem unbekannten Autor zur Rezension angeboten bekomme, suche ich im Internet neben der Verlagsankündigung nach bereits in britischen oder amerikanischen Zeitungen erschienene Rezensionen. Das erleichtert die Antwort auf die Frage Annahme oder Ablehnung – und strukturiert die dann nachfolgende Lektüre des Bandes selbst hoffentlich nicht. Auch elektronische Medien wie H-Soz-Kult oder Sehepunkte sind demgegenüber deutlich langsamer. Traditionelle Printzeitschriften hinken oder hinkten über längere Zeiträume bisweilen mehrere Jahre hinter den Veröffentlichungen von Büchern hinterher und verlieren damit an Bereitschaft zur Kenntnisnahme, waren diese doch in der Zwischenzeit längst in die einschlägigen Forschungsgebiete eingegangen. Gerade große, alle Epochen abdeckende Zeitschriften wie die Historische Zeitschrift sind naturgemäß langsamer; die sektoral auf Westeuropa zielende Perspectivia.net als Online-Medium kann da schneller reagieren.

Es gibt nach meinem Eindruck eine wechselseitige Rezeption von frühen und nachfolgenden Rezensionen. Oft setzen sich Rezensent:innen nicht nur mit dem je besprochenen Buch auseinander, sondern implizit, aber auch explizit mit den von vorangegangen Rezensionen vertretenen Auffassungen. Darin liegt ihr besonderer Wert für den wissenschaftlichen Diskurs, droht jedoch auch als „Buch im Gespräch“ einer vorgängig erzeugten Aufmerksamkeit der Medien zu erliegen. Besonders hilfreich sind in diesem Zusammenhang größere Forschungsberichte, die einige Zeitschriften wie die Neue Politische Literatur, aber auch H-Soz-Kult pflegen. Das gibt die Gelegenheit, ebenso wie für entstehende Forschungsfelder Aufmerksamkeit zu wecken wie auch für viel bearbeitete Felder – etwa aus Gründen von Gedenktagen – zusammenfassende Orientierung zu bieten. Geschichte in Wissenschaft und Unterricht übernimmt es hier, seit Jahrzehnten zu standardisierten Epochen oder Regionen alles paar Jahre Forschungsberichte einzuwerben. Sehr nützlich sind Mehrfachrezensionen, Symposien, in denen sich mehrere Rezensionen aneinanderreihen. Das scheint im deutschen Sprachbereich selten zu sein, findet aber gelegentlich in Sehepunkte und in H-Soz-Kult statt. Im englischsprachigen Bereich stechen solche Roundtables hervor, die etwa im US-amerikanischen H-Net auf H-Diplo Neuerscheinungen beurteilen und zwar mit einer zusammenfassenden Einleitung eines sachkundigen Moderators, gefolgt von zwei bis fünf langen Besprechungen und einer abschließenden dankenden oder widersprechenden Stellungnahme von Autor:innen. Das ergibt in den pdf-Versionen schon einmal über 30 Seiten. Da die Roundtables durchnummeriert sind, kann man erkennen, dass in den 22 Jahren der Existenz dieser Sammelrezensionen mindestens einmal wöchentlich ein solches Format veröffentlicht wurde. Das ist seriöser, wird aber durch ein Ton-und/oder-Bild-Format ergänzt, denn einige Aufmerksamkeit generieren auch regelmäßige Podcasts, die mit mehreren Personen in einiger Regelmäßigkeit mehrere Neuerscheinungen en bloc durchaus kritisch diskutieren. Das Historische Quartett des ZZF Potsdam ist eines davon, im IfZ München finden regelmäßig themenbezogene Runden statt; demnächst könnte theirstory.de willkommene Beiträge leisten. Ich halte das für ein zukunftsträchtiges Format, das auch verstärkt praktiziert werden könnte. Freilich: Gedruckte Mehrfachrezensionen machen viel Arbeit und die sind bei vielfach ehrenamtlichen Redaktionen kaum in der erforderlichen Intensität an Begleitung und Kommunikation zu leisten.

8. Redakteure und Rezensenten

Das A und O guter Rezensionsarbeit liegt zunächst einmal in der Auswahl der zu besprechenden Bände überhaupt aus einer immer größeren Menge einschlägiger Publikationen. Dabei kommt es aber vor allem auf das Verhältnis von Redaktionen und Rezensent:innen an. Redaktionen behalten sich grundsätzlich die Autorität der Vergabe vor und das ist auch gut so; sie vergeben Rezensionen an ihrer Meinung nach sachkundige Autor:innen. Aber die Redakteurinnen und Redakteure müssten ihrerseits sachkundig in der jeweiligen Forschungslandschaft sein. Bei der Verteilung der Redaktion auf viele Schultern wie in H-Soz-Kult und Sehepunkte scheint das in der Regel gut zu klappen. Aber viele Redaktionen sind auch dankbar, wenn sie auf Bücher und/oder Rezensent:innen hingewiesen werden – zumeist als Selbstangebot. Auch wenn es sich dabei nicht um Befangenheit oder Verstoß gegen gute wissenschaftliche Praxis im Sinne der DFG handelt, ist die Nähe von Autor:innen und Rezensent:innen dennoch oft leicht zu erkennen. Gerade wenn man viele Rezensionen geschrieben hat, ist es eine gängige Praxis, dass Buchautor:innen mit dem Anliegen kommen, „Sie haben doch Beziehungen zu Zeitung x, Zeitschrift y, könnten Sie das da nicht rezensieren?“ Recht häufig versenden Verlage (auch auf Wunsch von Autor:innen) gefragt oder ungefragt Buchexemplare an mögliche Multiplikator:innen, sprich: auch Rezensent:innen.

Das heißt, die Aufmerksamkeitsökonomie wird nachdrücklich auf diesen spezifischen Titel und deren Inhalt gelenkt, und es wäre wenig realistisch anzunehmen, dass Rezensent:innen nicht ihrerseits gegebenfalls neugierig bis hin zu einer Rezension würden. Es wäre weltfremd, solche Zusammenhänge kategorial auszuschließen; aber es gibt wohl genug „Gefälligkeitsrezensionen“, deren Korrektiv nächst den redaktionellen Bearbeitungen der allgemeine Ruf von Rezensent oder Rezensentin ist, wenn sie oder er in einer doch überschaubaren Community des engeren Forschungsfeldes über einen befreundeten Kollegen oder eine Kollegin Lobeshymnen verfasste.

Wenn ich selbst ältere Rezensionen von mir aus den Anfängen meiner wissenschaftlichen Arbeit zu Gesicht bekomme, staune ich selbst gelegentlich über die Nähe zu den rezensierten Autor:innen, damals mit bestem Gewissen über eigene Unabhängigkeit. Es mag wohl auch umgekehrt so gewesen sein, dass sich aus Rezensionen, die Verständnis für Ziele und Leistungen eines Autors zeigten, auch persönliche Beziehungen entwickelt haben, aber die Regel war das nicht. Mit einem mir bis dahin persönlich unbekannten Autor entwickelte sich nach Gesprächen auf Grund meiner ersten eigenen Rezension in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung eine persönliche Freundschaft. Ich bilde mir ein, damals wie heute, durchaus auch und gerade kritische Punkte etc. benannt zu haben; wieweit das gelang, müssen Andere entscheiden.

9. Rezension und Innovation

Es kommt aber im Rückblick auf die eigene Tätigkeit noch etwas Grundsätzlicheres hinzu. Das ist die Wahrnehmung, was in eigenen Forschungsfeldern überhaupt für neu und interessant gehalten wird. Gerade hier beobachte ich nachträglich, dass ich in eigenen, zunächst recht engen Forschungsfeldern nicht nur, wie es sich gehört, „alles“ gelesen haben wollte, sondern daher vieles auch rezensiert habe, um es künftig leichter zur Hand zu haben. Dass dazu neben Würdigung auch und gerade der den eigenen, vorläufigen Erkenntnissen zuwiderlaufende „Verriss“ des für unzureichend Gehaltenen gehört, sei in diesem Zusammenhang vermerkt. Ich habe jedoch als junger Wissenschaftler oft (noch) nicht gesehen, wie wenig sich aus meinem eigenen engeren Innovationsbedürfnis die grundsätzlich methodisch oder auch thematisch neuen Ansätze entwickeln konnten. Zugespitzt: der junge Wissenschaftler ging inhaltlich, quellenmäßig wie methodisch von einem recht begrenzten Blick des hellen, fokussierten Sehens aus, während das gesamte Gebiet in Grau- oder Schwarzzonen blieb. Erst im laufenden wissenschaftlichen Prozess konnte sich die Zone helleren Sehens erweitern oder mit anderen entsprechenden Zonen verbunden werden und aus der Zone unendlichen Nichtwissens vernetzte Strukturen des Doch-Wissens, wie immer in aller Vorläufigkeit der Wissenschaft bilden. Genau das dürfte wohl auch die Fähigkeit bestimmt haben, neue Bücher in engere und weitere Zusammenhänge einzuordnen.

Das führt zurück zur schwierigen Aufgabe jeder Rezensionsredaktion: genau solche Zusammenhänge der hinreichenden Nähe des Rezensenten zu Thema und Methode eines Buches zu kennen, aber zugleich die mögliche fruchtbare Distanz zu einer Richtung oder wissenschaftlichen Schule. Das wiederum macht Redaktionen zu Weichenstellern in den wissenschaftlichen Auseinandersetzungen, die den schmalen Grat von Nähe und Distanz der Rezensent:innen zu Autor:innen abwägen sollten – und sich dann dennoch in dieser oder jener Richtung überraschen lassen könnten. Es gibt eine Tendenz, primär oder gar nur die eigenen wissenschaftlich-methodischen Ansichten wahrzunehmen und abweichende Richtungen nicht mehr ins scharfe Sehen aufzunehmen. Je nach Thematik oder sektoralem Bezug eines Publikationsorgans kann die Breite von Rezensionen hier ein wichtiges Korrektiv bilden. Soweit mein international vergleichender Horizont reicht, scheinen mir im deutschen System im Vergleich vornehmlich zu englisch- und französischsprachigen Organen relativ viele klientelistische Strukturen eine Rolle zu spielen. Rezensionen bieten nicht zuletzt die Chance, dass sich Rezensent:innen selbst mit der eigenen wissenschaftlichen Meinung gezielt in Szene setzen.

Von ehrenamtlichen Personen, auch wenn sie je unterschiedlich in Redaktionen und deren Beiräten Hilfe erhalten, bedeutet die Auswahl geeigneter Rezensent:innen einen Prozess des ständigen Abwägens, der keine Patentlösungen kennt. Aber dennoch lässt sich nicht allzu selten die persönliche Kompetenz von Redakteur:innen erkennen, wenn es diesen gelingt, kompetente Rezensent:innen für die Besprechung eines Werkes zu gewinnen, das deren eigener Schule oder Community fern steht. Nicht nur, aber gerade in dieser Konstellation erfüllen dann Rezensionen nach wie vor eine zentrale Funktion im wissenschaftlichen Erkenntnisprozess. Die Rezensent:in nicht als totzuschlagender Hund, aber auch nicht als Lobredner des Kolleg:innen, sondern als ein durch Buchbesprechungen zum wissenschaftlichen Diskurs beitragende Autor:in kann und soll in einer heute medial ganz anders als vor 50 Jahren breiter aufgestellten Szene eine wichtige Rolle spielen.

Dieser Beitrag erschien als Teil des Diskussionsforums über Buchrezensionen in den Geschichtswissenschaften. https://www.hsozkult.de/debate/id/diskussionen-5234
Übersicht zum Forum "Buchrezensionen in den Geschichtswissenschaften"

Anmerkungen:
1 Marcel Reich-Ranicki, „Der Rezensent“ von Johann Wolfgang von Goethe, in: Frankfurter Anthologie, 24.01.2014: <https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/frankfurter-anthologie/marcel-reich-ranicki-in-der-frankfurter-anthologie-rezensent-von-johann-wolfgang-von-goethe-12751793.html> (21.05.2021). - Unter den zu diesem Beitrag geführten Gesprächen waren die mit Simone Derix und Andreas Hilger besonders hilfreich.
2 19.–21. Jahrhundert, Internationale Geschichte, Historische Friedens- und Konfliktforschung.
3 Analytisch scharf und witzig in einem Vortrag von Valentin Groebner, Muss ich das lesen? Wissenschaftliche Texte mit Ablaufdatum. Vortrag 1.2.2013, auf L.I.S.A. Gerda Henkel Stiftung auf der Tagung #RKB, <https://lisa.gerda-henkel-stiftung.de/muss_ich_das_lesen_wissenschaftliche_texte_mit_ablaufdatum?nav_id=4209> (21.05.2021).
4 Gemeint ist die Unabhängige Historikerkommission zur Geschichte des Bundesnachrichtendienstes, dessen Mitglied der Verfasser ist: <http://www.uhk-bnd.de/?page_id=207> (21.05.2021).
5 Margit Szöllösi-Janze, Archäologie des Wettbewerbs. Konkurrenz in und zwischen Universitäten in (West-)Deutschland seit den 1980er Jahren, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 69,2 (2021), S. 241–276 (bes. S. 263–268).
6 Hans-Peter Schwarz, Von Adenauer zu Merkel. Lebenserinnerungen eines kritischen Zeitzeugen, hrsg v. Hanns Jürgen Küsters, München 2018, S. 176f.
7 15 Regeln, DFG-Vordruck 10-201 – 4/10; DFG-Leitlinien zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis. Kodex (von 2019) <https://www.dfg.de/download/pdf/foerderung/rechtliche_rahmenbedingungen/gute_wissenschaftliche_praxis/kodex_gwp.pdf> (21.05.2021).

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