Forum: H. Knoch: Zeitgeschichte vor ihrer Aufgabe. Zur Debatte um die Täternähe der „kritischen Zeitgeschichte“

Von
Habbo Knoch, Historisches Institut, Neuere Geschichte, Universität zu Köln

Auch wenn das Buch von Nicolas Berg nun zum Anlass eines seltenen eigenen H-Soz-u-Kult-Forums wird, bewegt sich die Debatte doch vor allem im engeren fachwissenschaftlichen Diskurs. Gleichwohl ziehen Bergs Vorwürfe die Protagonisten der „kritischen Zeitgeschichte“ in einen Sog, in dem das „Goldhagen-Phänomen“ noch nachwirkt: die mediale Verstärkung des tief in das Gemüt der deutschen Gesellschaft reichenden Vorwurfs einer kollektiven Täterdisposition. Gewiss geht es auch bei den Zeithistorikern um mehr als um eine innerfachliche Generationsdebatte. Aber der Stigmatisierung durch eine vermeintliche „Täternähe“ sollte die wissenschaftshistorisch relevantere und erinnerungskulturell zentralere Frage nach der Entwicklung der öffentlichen Aufgabe der Zeitgeschichte in Deutschland sowie nach ihren Absichten, Möglichkeiten und Versäumnissen nicht vorschnell untergeordnet werden. Im Folgenden wird deshalb zunächst die Genese der Zeitgeschichte aus dieser Perspektive heraus skizziert (I.), vor deren Hintergrund dann die Dynamiken der Debatte um den Vorwurf der „Täternähe“ (II.) betrachtet und Thesen zur zukünftigen Positionierung der NS-Zeitgeschichte (III.) entwickelt werden.

I. Die Genese der Zeitgeschichte
Erst seit den 80er-Jahren ist der Holocaust als eigenständiger Deutungsrahmen dominant gegenüber jenem ursprünglichen Bezugsfeld der deutschen Zeitgeschichte geworden, aus dem der Stil der Sachlichkeit der „kritischen Zeitgeschichte“ erwuchs: dem Versuch, die NS-Zeit als Ganzes in den Blick zu nehmen. Die Perspektiven, Themensetzungen und Ausblendungen der „Generation Broszat“ jedoch, wie Berg es praktiziert, an einem erinnerungsmoralischen Maßstab zu messen, der sich selbst erst in einem mühseligen transnationalen Erinnern als demokratische „civil religion“ Bahn gebrochen hat, wird dem Deutungsraum seiner historischen Akteure nicht gerecht. Bergs zu Recht gestellte Frage, warum der Holocaust im engeren Sinne von so geringer Bedeutung auch in den NS-Studien der kritischen Zeithistoriker war – und nur dies ist eigentlich kontrovers an seinem Buch –, lässt sich allein aus der besonderen Positionierung der deutschen Zeitgeschichte im multiplen Spannungsfeld von politischer Camouflage, medialer Vergangenheitsmythisierung und wissenschaftlicher Abstandnahme zur „Zeitgeschichte“ beantworten. Statt sich zuwenig mit „Erinnerung“ befasst zu haben, wie Berg es ihr vorwirft, war die zweite Generation der Zeithistoriker womöglich gerade zu sehr auf eine Kontrolle und Steuerung der Vergangenheitsverwandlungen der deutschen Gesellschaft bedacht und dadurch an sie gebunden.

Als Hans Rothfels 1953 Zeitgeschichte programmatisch „als Aufgabe“ definierte, schrieb er den Historikern nicht nur eine auch zuvor durchaus wahrgenommene öffentliche Rolle zu. Er sah als ihre „Aufgabe“ vielmehr an, wissenschaftliches Korrektiv der zeitgenössischen Meinungsbildung über die NS-Zeit zu sein. Allein ihr aus historischer Perspektive gewonnener Interpretationsrahmen und eine um Kenntnisse der „Mitlebenden“ zu erweiternde Quellenanalyse galten ihm als Garanten für in seinen Augen unverfälschte Erkenntnisse. Beides diente auch dazu, Zeitgeschichte überhaupt als Wissenschaft gegenüber anderen Epochen und Stilen der Geschichte zu legitimieren. Dem Zeithistoriker räumte Rothfels damit einen Anteil an der Wiederherstellung der Bürgerlichkeit über intellektuelle Trägergruppen ein, die ihre Zunftregeln als Reaktion auf das Versagen des Bürgertums angesichts der „kollektivistischen“ Herausforderungen kräftigen sollten. So galt der Historiker-Ordinarius nicht allein als Experte, sondern als Bürge einer deutschen Rezivilisierung und (nationalkonservativen) Demokratisierung.

Damit war der Zeitgeschichte eine Scharnierfunktion zwischen Geschichtswissenschaft, Politik und Öffentlichkeit zugewiesen. Sie forderte von Beginn an zum Überschreiten und Auflösen, aber auch zum Bestätigen und Verankern der systemspezifischen Codes von Wissenschaft und politischer Meinungsbildung heraus. In ihrer ersten Phase zielte die Zeitgeschichte jedoch kaum darauf ab, die öffentliche Meinung direkt zu gestalten. Vornehmliche Adressaten waren neben bürgerlichen Intellektuellen juristische und politische „Entscheider“. Dies entsprach der habituellen Nähe der ersten Zeithistoriker, die von ihrer Ausbildung her keine waren, zum Nations- und Staatsdenken der deutschen historiografischen Tradition. In ihrer politikhistorischen Ausrichtung sah sich die Zeitgeschichte als Reflexionsinstanz für die nahzeitliche Tiefendimension der bundesdeutschen Rückgewinnung staatlicher Souveränität. Aus der Aktennähe resultierte ein Selbstverständnis zwischen Geheimdiplomatie und Skandalisierungspotential. Gegenüber einer auf Sensationelles aus dem Leben von NS-Prominenten wartenden Öffentlichkeit, die in der Absetzung von den „Bonzen“ ihre private Vergangenheitsbewältigung betrieb, wurde ein durch Ausbildung und Staatsnähe der Zeitgeschichte angelegter methodischer Konservatismus des „Informationsmanagements“ verankert. Solange an Identität und Stabilität dieses Staatswesens noch Zweifel bestanden, blieb die Zeitgeschichte dem eng verhaftet – auch in jenen thematischen Modifikationen und Schwerpunktsetzungen, mit denen sich die „kritische Zeitgeschichte“ der politischen Binnenstruktur des NS-Systems zuwandte.

Mit der Zeit wurde das Bewusstsein, als Nationalhistoriker Wächter und Korrektiv für die historische Sinnstiftung einer bürgerlichen Elite zu sein, von einer Ausdifferenzierung und breiten Verflechtung von Zeithistorikern in die Schnittstellen der verschiedenen Deutungssysteme überformt. Ein wesentlicher Anschub dazu waren die wiederkehrenden Täterdebatten ab Mitte der 50er-Jahre. Die mit ihnen verbundenen Entlarvungen von Tätern und Mittätern waren mit einer Politisierung der zeithistorischen Information verbunden. In ihrer juristischen Sensibilität waren diesbezügliche Aussagen oder gar Belege zunehmend in eine außerwissenschaftliche Informationssteuerung verflochten: Ausstellungsmacher fanden oder nutzten Belege, um Täter zu individualisieren, in den Medien kam es, teilweise auch nach eigenen Recherchen, zu Skandalisierungen, Strafverfolgungsbehörden schritten gegen Veröffentlichungen ein. Der selbsterklärte Expertenstatus der (Zeit-)Historikerzunft stand zur Disposition, zumal mit der konkurrierenden zeithistorischen Beschäftigung in Politikwissenschaft, Pädagogik und Psychologie auch auf Aufklärungsinteressen und frühe mediale Thematisierungslogiken reagiert wurde, in die sich der „lange Blick“ des Historikers nur bedingt fügte. So war die nachgeholte Vergangenheitspolitik der Jahre zwischen 1955 und 1965 auch Inkubationsphase für einen „public turn“ von solchen Zeithistorikern wie Martin Broszat oder Hans Mommsen. Gerade diese trugen dazu bei, das traditionelle Wächteramt des Historikers von einem auf Identitätsstiftung und Sinngebung angelegten Konsensmodell zu einer kritischen öffentlichen Distanzierung von einem Wissenschaft gewordenen Alltagsbild des Nationalsozialismus umzuformen.

Denn nach der ersten Generation vor allem nationaler Sinnsuche prägte die Zeitgeschichte seit den 60er-Jahren eine Streit- und Deutungskultur, für die Polarisierungsdynamiken kennzeichnend waren. In ihnen wurden Interpretationen „mittlerer Reichweite“ wie in der Intentionalismus-Funktionalismus-Kontroverse gegeneinander paradigmatisch akzentuiert. Trotz ihrer Rezeption in der bürgerlichen Öffentlichkeit blieben es im Kern fachinterne Auseinandersetzungen, die nach Mustern der wissenschaftlichen Schulbildung Inklusionen und Exklusionen erzeugten sowie Historikergenerationen voneinander abgrenzten. Diese Kontroversen waren auf das NS-System im Ganzen bezogen, können ohne den medialen „Hitlerismus“ der Zeit nicht verstanden werden und atmeten nicht unbeträchtlich den Geist der 60er und 70er-Jahre: das Vertrauen auf umfassend erklärende „Metanarrative“, die (partielle) Erweiterung politikhistorischer Ansätze um die Kategorie „Gesellschaft“ als Makrocontainer für alles Soziale und die politische Erweiterung der Historikerzunft, in der sich ein wissenschaftlicher Stellvertreterkonflikt um die Reformbedürftigkeit der Bundesrepublik niederschlug. Aber sie blieb dem nationalen und politischen Rahmen des öffentlichen und politischen Deutungsbedarfs eng verhaftet: Als erklärungsnotwendig galt immer noch der Nationalsozialismus als gesamtes System – und damit wurde, verstärkt durch Studentenbewegung, Terrorismus und Rechtsstaatsfrage der 70er-Jahre, die spannungsreiche Pluralisierung der Bundesrepublik indirekt mitverhandelt.

Die erst danach einsetzende gesellschaftliche Etablierung des Holocaust als zentralem Bezugsfeld der Erinnerung ging der entsprechenden historischen Forschung in Deutschland nicht nur begrifflich („Zivilisationsbruch“) um Jahre vorher. Erst die in den 80er-Jahren sich ausbreitende Selbstversicherung, nach den Krisen von „1968“ und „RAF“ über eine krisenresistente und streitfähige demokratische Kultur zu verfügen, und die gleichzeitige Betonung der Zentralität des Holocaust gegen den konservativen Versuch einer nationaldeutschen Identitätsstiftung ließen die Ermordung der Juden als „Zivilisationsbruch“ aus dem Deutungsgeflecht des NS-Systems heraustreten. Zeitgeschichte als Wissenschaft wurde zunehmend mit der öffentlichen Thematisierung verkoppelt und durch sie gesteuert. Hier bahnte sich jene Umkehrung an, die heute den Generationskonflikt ausmacht – jener Paradigmenwechsel, den Holocaust nicht als Fall zu verstehen, der Aufschluss über die Funktionsweise des Nationalsozialismus geben kann und nur aus den Strukturen des gesamten NS-Systems zu erklären ist (wie exemplarisch bei Hans Mommsen), sondern ihn (oder die NS-Verbrechen insgesamt) als genuines Feld zu betrachten, das aus sich selbst eine Fülle eigener Fragen produziert, die nur in Teilen oder bedingt eine Rückkopplung an das NS-System verlangen.

II. Die Dynamiken der Debatte um den Vorwurf der „Täternähe“
Historiografiegeschichtlich ist noch herauszuarbeiten, warum sich seit den späten 80er-Jahren der Holocaust zögerlich als wissenschaftlicher Forschungsgegenstand in Deutschland etablierte. Offensichtlich ist aber, dass die Zeitgeschichte als Wissenschaft hier vor allem reagiert hat. Sie konkurriert in einem vielschichtigen Feld aus interdisziplinären, massenmedialen und politischen Informationsformen über den Mord an den Juden. Der Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung ist im Wesentlichen ein Produkt der Erinnerungskultur selbst – nicht umgekehrt. Gleichzeitig tragen besondere „deutsche“ Formen der Forschung und Erinnerung zu den NS-Verbrechen den Blick immer über den „Holocaust“ hinaus: Zahlreiche Studien zu Konzentrationslagern und anderen Verfolgtengruppen sowie verschiedene Ansätze, den Mord an den Juden in breitere Kontexte der Besatzungsgewalt des „Vernichtungskriegs“ oder der modernen Gewaltgeschichte zu rücken, differenzieren das (selbst uneinheitliche) mediale Feld der Holocaust-Erinnerung erheblich. Auch in der gegenwärtigen Erinnerungskultur ist somit nicht ausgemacht, ob der Holocaust als ein von anderen NS-Verbrechen abgrenzbares oder als ein in sie integriertes Geschehen zu interpretieren ist – und damit bleibt auch die Frage der Einbettung in das NS-System und dessen Strukturen nach wie vor von großer Relevanz. Indem Berg jedoch einen medialen, kommemorativen und transnationalen Prozess, der die menschheitsgeschichtliche Dimension des Holocaust hervorgehoben hat, auf eine Zeit zurückprojiziert, in der man sich dieser Bedeutung auch international gesehen nur in wenigen Ausnahmen bewusst war, operiert er mit dieser Engführung der NS-Verbrechen auf den Holocaust, als ob deren Angemessenheit wissenschaftlich bereits entschieden wäre.

Bergs Vorwurf einer mangelnden Distanz der „kritischen Zeitgeschichte“ zu den Selbstauskünften der Mitläufer und Täter findet Resonanz in einer Öffentlichkeit, die seit einem Jahrzehnt in einem Maße für Fragen der NS-Täterschaft sensibilisiert ist, wie dies nur in der unmittelbaren Nachkriegszeit und um 1960 vergleichbar der Fall war. Indem Berg als Nachwuchshistoriker ausschließlich solche Gründungszeithistoriker angreift, die nicht nur für eine linksliberale Generation prägend waren und als untadelig galten, macht er den schon mit Goldhagen verbundenen, massenmedial verstärkten Generationskonflikt in der Historikerzunft explizit. Bergs Bekundung, es bedürfe nicht des „Pathos der Skandalisierung“, um etwa das Geschichtskonzept der frühen Gesamtdarstellungen von Hans Buchheim und Martin Broszat als „Mitläufer-Erzählungen“ zu deuten, weil beide „in abstrakter Form ausschließlich die gedächtnisgeschichtliche Perspektive derer [explizieren], die mitgemacht haben“ (S. 424), kann denn auch nur rhetorisch gemeint sein: Angesichts des notorischen Skandalisierungspotentials der Zeitgeschichte und einer gewollten Verletzung von Professionstabus war in den eher versteckten und doch scharf formulierten Thesen zur mangelnden Entbindung von den Tätersichten ein fach- und wissenschaftsübergreifender Sensationsüberschuss enthalten, den man nur bei großer Naivität oder Unkenntnis der öffentlichen Sensibilisierungsschwellen übersehen konnte.

Jeder Versuch nun wie im Falle Goldhagens unterhalb der medialen Sensation den Blick vom Buch auf den Streit und vom Anklagegestus auf die Sache zu lenken, sieht sich dem Vorwurf ausgesetzt, die Angegriffenen gegen die Kritik abschotten zu wollen. Bergs Argumentation ist tendenziell selbstimmunisierend: War nicht gerade „Versachlichung“ die diskursive Lösung der Gründungszeithistoriker, um weitergehende (Selbstan-)Fragen an eine ihnen nun vorgeworfene mentale Verstrickung zu vermeiden? Indem Berg die Sachlichkeit der „kritischen Zeitgeschichte“ zu einem biografisch begründeten Distanzierungsmodus erklärt, desavouiert er ein unabhängig von diesen Protagonisten geltendes Wissenschaftsprimat. Das ist an sich nicht zu kritisieren, bedarf aber einer übergreifenden Thematisierung von Objektivitätsstandards. Bergs Kritik dient hingegen sowohl der im Buch eher vage bleibenden Rechtfertigung einer anderen (nicht mehr „sachlichen“?) Holocaust-Forschung, als auch implizit seiner eigenen Art der Kritik, deren unübersehbare Unausgewogenheit Volker Ullrich als früher Rezensent auf das begrüßenswerte Moment persönlichen Zorns und Eifers des Verfassers zurückgeführt hat.1 Doch warum ist es zu begrüßen, wenn durch den Verzicht auf Differenzierung als wissenschaftlichem Distinktionscode die ohnehin richtigerweise permeable Grenze zwischen Zeitgeschichte und öffentlicher Meinungsbildung appellativ aufgelöst wird? Das spricht keineswegs für eine Trennung von Zeitgeschichte und Öffentlichkeit, wohl aber für die Beachtung der systemauflösenden Dynamik von Codes, wie es für die Zeitgeschichte immer schon der Fall war – trotz und gerade wegen ihrer zunehmend dialektischeren Beziehung angesichts der dauernden medialen zeithistorischen Selbstproblematisierung der deutschen Gesellschaft in den vergangenen zwanzig Jahren.

Im Verzicht auf Differenzierung liegt ein zirkuläres Potential von Kritik, das sich auch bei Goldhagen beobachten ließ. Welchen Spielraum gibt es für Zugeständnisse, wenn die Skandalisierung des Biografischen keine nichtbiografischen Sachargumente mehr erlaubt, ohne dass sie als Bestätigung der kritisierten Festungsmentalität gelesen werden können? So entstehen auf Polarisierung angelegte Bekenntnisschleifen, denen sich Historiker wie Hans Mommsen öffentlich kaum selbst mehr entziehen können: Die mit der Kritik an der Person gleichgesetzte Wissenschaftshistorisierung trägt mit zum Dogmatismus bei, den die Kritik erst unterstellt. In den Bekenntnisschleifen werden akademische Zugehörigkeiten unter den Augen einer Öffentlichkeit verhandelt, die kaum über die Hintergründe der „Wachablösung“ (Hans Mommsen) in der deutschen Zeitgeschichte informiert ist.2

In der Nachfolge Goldhagens setzt hierbei die Öffentlichkeit vielleicht mehr noch als Berg selbst auf ein moralisches Argument, indem die auf den Suizid hin interpretierte Ausgrenzung Joseph Wulfs aus dem wissenschaftlichen Establishment als Folge des Sachlichkeitspathos dargestellt wird. Gegenüber der hier ersichtlich mitschwingenden Schlagzeile des aufgedeckten Skandals muss in der seit Goldhagen verstärkten Diskurslogik der Anschaulichkeit und der Nähe zum Geschehen jede Kontextualisierung, die Strukturen der seinerzeitigen Zeitgeschichte analysiert, als Ausflucht erscheinen. Es ist eben nicht gelungen, Strukturanalysen und ihre Begrifflichkeit in der massenmedialen Historisierung der jüngsten Vergangenheit nachhaltig zu verankern. Dort unterliegt die zunehmende Thematisierung des Eventfernsehens, aber auch des populären Buchmarkts einer Logik, die neben der Skandalisierung vor allem Formen der Personalisierung und Dramatisierung einfordert: Geschichte wird immer noch greifbar gemacht durch Ereignisse, Biografien und Erfahrungen.

Die mediale Präsenz des Holocaust, die ihn überhaupt erst zu einem so dominierenden Bezugsobjekt historischer Gegenwartserfahrung gemacht hat, verdankt sich in wesentlichen Teilen genau diesen Mustern. Nachdem die politisch motivierten Vermeidungshaltungen erodiert waren, hat sich der Holocaust, getragen von Zeitzeugen, in den 90er-Jahren als Prozess lebensgeschichtlicher Erfahrungen und Verarbeitungen in der Erinnerungskultur verankert. Auch die Vergangenheitsbewältigungsforschung tendiert in diese Richtung: Hohe Aufmerksamkeit finden psychosoziale Dynamiken der individuell-exemplarischen oder familiären Vergangenheitsverwandlung. Was in abstrakterer Form mit dem „Zivilisationsbruch“ angedacht war, hat in der Orientierung am „Trauma“ seine individualisierbare Seite gefunden.

Inwieweit folgen neuere Ansätze der Holocaust-Forschung womöglich auch in Teilen diesen Codes? Welcher Komplexitätsgrad, welche Art der Begriffssprache werden noch zugelassen, wenn sie nicht mehr in ein diskursives Feld vermittelbar sind, das sich von einer Struktur- und Systemanalyse immer weiter entfernt? Werden andererseits solche Perspektiven durch die zunehmende Verschränkung von Medialisierung und historischem Arbeiten desavouiert? Zeitgeschichte würde ihre öffentliche Aufgabe verfehlen und verlieren, wenn sie auf ihr Potential der öffentlichen Skandalisierung verzichten würde, auch und gerade, wenn es um die Binnenstrukturen der „Zunft“ selbst geht. Inwieweit darf und sollte aber die Kalkulation medialer Wirkung Teil der wissenschaftlichen Arbeit sein? Inwieweit müsste die Reflexion über die Ingangsetzung medialer Schleifen selbst zur wissenschaftlichen Kompetenz von Zeithistorikern gehören? Oder gilt gerade deren Inszenierung, wie im Falle Goldhagens, trotz aller „professionellen“ Skepsis zukünftig selbst als Qualitätsausweis? Zeitgeschichte im Spannungsfeld von Öffentlichkeit und wissenschaftlichen Standards muss augenscheinlich Praktiken und Techniken der Besetzung und Positionierung dieses Feldes selbst mehr als bisher zum wissenschaftsrelevanten Standard erklären.

III. Die zukünftige Positionierung der NS-Zeitgeschichte
Viel gewichtiger als die Frage der Medialisierung scheint im Falle des Ansatzes von Berg aber diejenige nach methodischen Standards einer Wissenschaftsgeschichte und, mehr noch, nach der Beurteilung des Verhaltens historischer Akteure zu sein. Dabei kann für Historiker kein besonderer Maßstab gelten. Doch indem Berg das Postulat der „synchronen“ Betrachtung eines eigentlich „diachronen“ Prozesses unter der Maßgabe des „Gedächtnisses“ aufstellt, weist er die Forderung ab, Urteilsmaßstäbe nicht allein aus gegenwartsbezogenen Deutungen zu gewinnen, sondern diese mit den Sagbarkeitsbedingungen und Handlungsräumen der Zeit der Zeitgenossen rückzukoppeln. Berg verzichtet auf eine historische Kontextualisierung des wissenschaftlichen Handelns einiger seiner Protagonisten, weil er eine – gleichzeitig nicht ausdifferenzierte – Interpretation des Holocaust und damit verbundene, aktuelle Forschungsansätze als Leitideal setzt und diese zum alleinigen Maßstab auch für die Bewertung früherer Forschungen heranzieht. Um einen solchen Zugang hinreichend zu rechtfertigen, wäre die zeitunabhängige Tauglichkeit eines solchen Ansatzes aufzuweisen – was wiederum das Ende einer Geschichtsschreibung bedeutete, die sich der „Falsifizierbarkeit“ ihrer Erkenntnisse zu unterwerfen bereit ist. Zu Ende gedacht, bedeutet Bergs Ansatz die Aufgabe der Zeitgeschichte als kritischer Wissenschaft überhaupt.

Doch wegen des Ausgleitens der „Epoche der Mitlebenden“ der NS-Zeit steht der Umgang mit nationalsozialistischer Zeit und den NS-Verbrechen an der Schwelle zu einer neuen Stufe der Historisierung. Wehrmachtsausstellung, Luftkrieg und Parteimitgliedschaften sind biografisch letztmalig angebundene Themen. Entweder wird das Verständnis der Zeitgeschichte selbst über die spezifisch deutsche Konnotation des Nationalen und des Miterlebens hinaus erweitert oder die NS-Zeit und mit ihr die NS-Verbrechen wandern generationell aus der Zeitgeschichte aus, da sich die Verschränkung der Wissenschaft mit der lebensgeschichtlichen Relevanz ihrer Themen unweigerlich lösen wird. Auf die bevorstehenden runden Gedenktage reagieren die öffentlichen Sender mit einer „Nazi-Olympiade“: In Dokudramen und Fernsehfilmen werden NS-Größen, nationalkonservativer Widerstand und Kriegsende groß herausgebracht. Die Regisseure sehen sich dank einer neuen Schauspielergeneration und anderem Publikum nun dazu in der Lage, nicht mehr „didaktisch, spröde, introvertiert, angstbesetzt“ zu filmen, sondern „epischer“ und „emotionaler“ Geschichten zu „erzählen“.3

Zeitgeschichte des Nationalsozialismus hat hier weiterhin die Aufgabe, der medialen Sehnsucht nach Einzelpersonen, die Geschichte greifbar machen sollen, alternative Interpretationen an die Seite oder, wo nötig, pointiert gegenüberzustellen. Andernfalls läuft die Zeitgeschichte des Nationalsozialismus ähnlich wie in den 50er-Jahren Gefahr, die öffentlichen Deutungen der NS-Zeit gar nicht mehr gegen ihre Medialisierung beeinflussen zu können. Gerade weil hier aber tendenziell ein NS- und Widerstands“kult“ zurückzukehren drohen, kann sich die Zeitgeschichte als der Öffentlichkeit zugewandte Wissenschaft nicht auf den Holocaust im engeren Sinn beschränken.

Martin Broszat wollte mit der „Historisierung“ des Nationalsozialismus die Zeitgeschichte aus ihrer öffentlichen und politischen Verklammerung gelöst sehen. Wie so viele in den 80er-Jahren ging er dabei von einem absehbaren Ende einer durch lebensgeschichtliche Bindungen motivierten Medialisierung und Erinnerung der NS-Zeit aus. Das hat sich als falsch erwiesen. Insbesondere die Privatisierung des öffentlichen Erinnerns durch Selbstzeugnisse und Lebensgeschichten hat zu einer zyklischen Revitalisierung des kommunikativen Gedächtnisses geführt. Zukünftig ist jedoch zu fragen, welchen Stellenwert „der Nationalsozialismus“ im Verhältnis zum Holocaust als menschheitsgeschichtlichem Ereignis, zu den Kriegs- und Nachkriegserfahrungen als deutscher „Opfergeschichte“ und zu den anderen deutschen „Zeitgeschichten“, insbesondere der SBZ-/DDR-Geschichte, haben wird. Gegen eine Versäulung dieser Felder im zukünftigen Erinnern, wie sie sich in den gegenwärtigen öffentlichen Debatten um Luftkrieg, Vertriebenenzentrum oder SED-Gedenkstätten abzeichnet, ist der Nationalsozialismus – als implodierendes System und als Erfahrungszusammenhang – für die weiteren dieser Bezugsfelder als zeitliche und funktionale Gelenkstelle der Gewaltgeschichte der Moderne zu interpretieren. Darin ist er sowohl als Kulminations- und Ausgangspunkt deutscher Krisen und Gewalt als auch als Bezugsgröße der europäischen Gewaltgeschichte des „langen“ 20. Jahrhunderts zu perspektivieren. Hier zeigt sich die ungebrochene und eher noch wachsende Aktualität der Forschungsperspektiven der „kritischen Zeitgeschichte“ auch und gerade gegen manche Trends der gegenwärtigen Erinnerung.

Wie in einem Brennglas offenbaren die Überforderungen von Historikern durch den Holocaust zudem Grenzen einer solchen Geschichtsschreibung der „Moderne“, insbesondere hinsichtlich der Generierung von öffentlichem Wissen, der Medialisierung und der diskursiven Prägung von Handlungsräumen. Dies verweist auf den Bedarf differenzierterer Konzepte von „Gesellschaft“ als sie in den 60er und 70er-Jahren Anwendung fanden oder bereit standen. Ein Weg dorthin kann über die bislang erst in Ansätzen durchdrungene innere Medialität massenmoderner Gesellschaften führen. Bei den unterschiedlichen Perspektiven auf die NS-Verbrechen, die sich mehr dem Systemverhältnis von Politik und Gesellschaft oder den Handlungsräumen von Tätergruppen zuwenden, handelt es sich nicht um einen unvereinbaren Unterschied. In einer auf die Folgen der Medialisierung von Volksgemeinschaftsutopie und Massengewalt reflektierenden Verbindung von „Gesellschaft“, „Handlungsraum“ und „Individuum“ eröffnet sich die Möglichkeit, die NS-Verbrechen aus einer Verflechtung von Handeln, Imagination und Medialisierung zu erklären. Dabei würde deutlich werden, dass die nach 1945 lang gehegten Trennungskategorien zwischen „Tätern“ und „Gesellschaft“ aufgrund einer diskursiven Kollektivierung im massenmedialen Raum und ihren Auswirkungen auf Habitus, Selbstentwurf und Handlungsdisposition in der Zeit der Tat gar nicht bestanden haben. Das schließt die wissenschaftshistorische Arbeit an dieser Aversion als einer Erblast der traditionellen Geschichtswissenschaft ein, deren Auswirkungen auf die Verkürzungen und Ausblendungen – auch der „kritischen“ – Zeitgeschichte noch der Untersuchung harren.

Habbo Knoch ist Wissenschaftlicher Assistent am Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte der Universität Göttingen. Dissertation: „Die Tat als Bild. Fotografien des Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur“ (Hamburg: Hamburger Editionen 2001). Habilitationsprojekt zu „Großstadthotels und die Erfindung der transitorischen Privatheit im europäischen Bürgertum 1870-1930“.

Anmerkungen:
1 Ullrich, Volker, Forschung ohne Erinnerung. Nicolas Bergs Buch über den Holocaust und die deutschen Historiker sorgt für Streit, in: DIE ZEIT Nr. 29, 10.07.2003, S. 39.
2 Mommsen, Hans, Täter und Opfer – ein Streit um die Historiker, in: Die Welt, 13. 09. 2003.
3 Der tiefe Blick der wasserblauen Augen. Startschuß zur Nazi-Olympiade: Das Dritte Reich ist das große Thema dieses Fernsehjahres – und auch des nächsten, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 01. 02. 2004, S. 27.

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