x-post: H-Germanistik
Anfang letzter Woche wurden zufällig und parallel zu den Feierlichkeiten zum 200. Geburtstag des Großherzogtums Baden und des Königreichs Württemberg Pläne der baden-württembergischen Landesregierung unter Ministerpräsident Günter Oettinger bekannt, wesentliche Teile der Handschriftensammlung der Badischen Landesbibliothek in Karlsruhe zu veräußern. Mit dem geschätzten Erlös von 70 Millionen Euro soll ein Vergleich mit dem Haus Baden geschlossen werden, der es der ehemaligen Herrscherfamilie des Landes Baden erlaubt, die Sanierung des letzten verbliebenen großen Besitzes der Familie, Schloß Salem am Bodensee, zu finanzieren (30 Millionen Euro) und den Rest des Verkaufserlöses in eine Stiftung einzubringen, in deren Besitz das Schloß übergehen würde und die den weiteren Unterhalt des Schlosses sichern soll (40 Millionen Euro). Die Familie von Baden erhielte Wohnrecht in diesem Schloß.
Das Land Baden-Württemberg hat diesem merkwürdigen Handel zugestimmt, um sich Rechtssicherheit in einem lange schwelenden Streit zu erkaufen. Anders als im württembergischen Landesteil hat in Baden – so die überraschenderweise übereinstimmende Argumentation von Land und Familie – nie eine rechtsverbindliche Trennung von staatlichem Eigentum und fürstlichem Privatvermögen stattgefunden, so dass seit der Abdankung des Großherzogs 1918 immer wieder Eigentumsansprüche der Familie von Baden auf die in Landesbesitz befindlichen Kunstschätze geltend gemacht wurden. Zu den Kunstschätzen gehören neben den jetzt zum Verkauf stehenden ca. 3.500 Handschriften der Badischen Landesbibliothek noch zahlreiche weitere Kunstwerke in Karlsruher Museen im Gesamtwert von über 300 Millionen Euro.
Da das Land befürchtet, in einem Rechtsstreit mit der ehemals großherzoglichen Familie zu unterliegen und dann einen wesentlich höheren (finanziellen, nicht kulturellen!) Verlust zu erleiden, hat es diesem Vorschlag zugestimmt und fügt damit Wissenschaft und Kultur in Deutschland einen nicht zu beziffernden Schaden zu. Dieser Schaden wie auch der aus einem solchen Verhalten resultierende Imageschaden für das Land scheint der Regierung aber nicht relevant zu sein gegenüber den möglichen finanziellen Verlusten, die man im Fall eines verlorenen Rechtsstreits zu gewärtigen hätte. Der Ministerpräsident höchstselbst hat diese Position in einem Interview vertreten.
Mittlerweile hat sich breiter Widerstand gegen diese Position der baden-württembergischen Landesregierung formiert, der sich nicht nur aus badischem Lokalpatriotismus speist. Auch die internationale scientific community zeigt sich mittlerweile empört über den Ausverkauf der kulturellen Identität eines keinesfalls verarmten deutschen Bundeslands wie ein Leserbrief englischer und amerikanischer Kunsthistoriker in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 28. September 2006 zeigt. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) hat in einer Pressemitteilung vom 27. September 2006 das Land Baden-Württemberg bereits aufgefordert, den Zugang zu diesen Handschriften, die mit DFG-Mitteln erschlossen und katalogisiert worden sind, für die Wissenschaft auch künftig sicherzustellen, weil sie fürchtet, dass die Handschriften durch den Verkauf an Privatsammler künftig der wissenschaftlichen Nutzung entzogen werden könnten. Darüber hinaus besteht die Gefahr der Zerschlagung eines historisch gewachsenen Ensembles durch den Einzelverkauf der mehr als 3.500 in Frage kommenden Handschriften. Auch für die einzelnen Handschriften besteht Gefahr; sie könnten nach dem Verkauf zerlegt werden, um enthaltene Illustrationen einzeln weiterverkaufen zu können. Der Handschriftenexperte und ehemalige Leiter der Handschriftenabteilung der Württembergischen Landesbibliothek, Prof. Dr. Felix Heinzer (Freiburg), hat aus diesen Gründen die von der Landesregierung an ihn herangetragene Einladung zur Mitarbeit an einer Expertengruppe, die den Verkauf vorbereiten soll, abgelehnt.
Die Diskussion um den geplanten Verkauf der Handschriften sowie die Dokumentation der bislang zu diesem Thema erschienenen Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, offenen Briefe usw. ist in zahlreichen Mailinglisten, Weblogs und Webseiten im Internet zu verfolgen. Eine Auswahl einschlägiger Internetadressen, die sich dieser Aufgabe widmen, befindet sich am Ende dieser Mail.
Diejenigen, die den Erhalt der Sammlung unterstützen möchten, können dies durch Unterzeichnung eines offenen Briefs an den Ministerpräsidenten und die Landesregierung von Baden-Württemberg tun. Den Wortlaut des offenen Briefes findet sich unter der URL http://cgi-host.uni-marburg.de/~mrep/brief/ ; hier können Sie sich per Mail an kleink@staff.uni-marburg.de diesem offenen Brief anschließen.
Weblinks, über die weitere Informationen zu diesem Thema zur Verfügung gestellt werden:
http://www.blb-karlsruhe.de - Dokumentation über Presseberichte, Presserklärungen usw. zum geplanten Ausverkauf
Weblogs:
http://archiv.twoday.net/
http://log.netbib.de/
Mailinglisten
http://www.ub.uni-dortmund.de/listen/inetbib/date1.html - Über das Listenarchiv kann die Diskussion in der bibliothekarischen Fachöffentlichkeit verfolgt werden. Das Archiv ist tagesaktuell.
http://www.aedph.uni-bayreuth.de/mediaevistik.htm - Leider wird das Archiv dieser Liste nur monatlich aktualisiert, d.h. um die Debatte hier nachzuverfolgen, muß die Liste abonniert werden.
Für die Redaktion
Markus Malo
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Markus Malo, M.A.
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