Überlegungen zum Zensus des Quirinius aus der Weihnachtsgeschichte des Lukas
Henrike Maria Zilling
Lk 2,1-7: "Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde. (2) Und diese Schätzung war die allererste und geschah zur Zeit, da Quirinius Statthalter in Syrien war. (3) Und jedermann ging, dass er sich schätzen ließe, ein jeder in seine Stadt. (4) Da machte sich auf auch Joseph aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das jüdische Land zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem, weil er aus dem Hause und Geschlechte Davids war, (5) damit er sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe; die war schwanger. (6) Und als sie dort waren, kam die Zeit, dass sie gebären sollte. (7) Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge."
Die theologisch geprägte Jesusforschung findet wenig Historisches an der Geburtsgeschichte des Lukas, dabei hielt er es doch für notwendig, ganz im thukydideischen Sinne den Berichten der Augenzeugen und dem, was ihm die "Diener des Wortes" erzählten, "von Anfang an sorgfältig nachzugehen" (Lk 1,2-3).1 Die Vorweihnachtszeit bietet einen willkommenen Anlass, seinen Bericht zum Zensus des Quirinius erneut zu untersuchen. Lukas stellt die Geburtsgeschichte in Zusammenhang mit einem reichsweiten Zensus des Augustus. Wenn die Römer ihr gesamtes Imperium einem Zensus unterziehen, dann ist dies in der Tat ein welthistorisches Ereignis, das sehr passend mit der Geburt des künftigen Pantokrators zusammenfällt (Kol 1,15ff.).2 Einer näheren Überprüfung hält diese Konjunktion jedoch nicht stand, der historische Rahmen der Geburt ist doch etwas provinzieller. Zunächst sei gesagt, dass die Fehleinschätzung des Lukas nachvollziehbar ist. Augustus selbst erwähnt in den Res gestae, dass er mehrfach Volkszählungen hat durchführen lassen.3 Dabei handelte es sich um Bürgerzählungen, mit denen die wehrfähigen Männer erfasst wurden und gleichzeitig ihr Besitz verzeichnet wurde.4 "Jede Einrichtung einer neuen Provinz aber oder eines Landstriches, der zu einer bestehenden Provinz geschlagen wird, beginnt seit Augustus mit der Anordnung eines census; sie fand statt unter Augustus selbst, als im Jahr 6 n.Chr. Archelaus von Judäa abgesetzt und sein Reich mit der Provinz Syrien vereinigt wurde."5 Die Vorstellung von einem reichsweiten Zensus ist also falsch, denn tatsächlich erhob Rom in Judäa keinen Bürgerzensus, sondern einen ersten Provinzialzensus, descriptio prima, im Zuge der Eingliederung von erobertem Territorium. Lukas verallgemeinert den Zensus in Judäa trotzdem nicht ganz ohne Grund zu einem Reichszensus, da zeitgleich eben auch Syrien taxiert wurde, was den Schluss nahelegen könnte, dass überall im Reich Schätzungen vorgenommen wurden.6 Vielleicht hat er überdies davon gehört, dass in Ägypten unabhängig vom Bürgerrechtsstatus die ganze Bevölkerung erfasst wurde. Hierin könnte auch ein zusätzlicher Grund für den Fehlschluss auf einen reichsweiten Zensus liegen.7
Der Zensus der Provinzbewohner wiederholte sich nach der ersten Erhebung im Zuge der Provinzialisierung in bestimmten zeitlichen Intervallen.8 Verantwortlich in den kaiserlichen Provinzen, zu denen auch Syrien gehörte, waren die legati Augusti pro praetore, die auf kaiserliche Anordnung hin einen Zensus durchführten.9 Die Erfassung der Bevölkerung war durch die persönliche Meldung, gewissermaßen durch den Zwang zur Selbstanzeige bei den Steuerbeamten eines Steuerdistriktes gegeben, wobei auch an mobile Steuerbüros der Beamten zu denken ist. Die Reise zum Geburtsort dagegen erfüllt nur dann einen Zweck, wenn dort Grundbesitz vorhanden war; für die Kopfsteuer alleine war das wohl kaum notwendig. Bei der persönlichen Vorstellung im "Steuerbüro" erfolgte vor Zeugen eine Deklaration über Alter, Geschlecht und den ganzen Besitz; die Zensusbeamten legten danach ihre Steuerlisten an. Nach einer Überprüfung der Angaben konnte dann die direkte Steuer, die Kopfsteuer und die Bodensteuer, angesetzt werden; der Besitzer erhielt eine testierte Steuererklärung. Da Männer Kopfsteuer vom 14. bis zum 65. Lebensjahr und Frauen schon vom 12. bis zum 65. Lebensjahr (die Angaben gelten für Syrien) entrichten mussten, ist es ganz entscheidend, dass ganze Familien vor den Zensusbeamten persönlich zu erscheinen hatten, um prüfen zu lassen, wer überhaupt kopfsteuerpflichtig war.10 Daraus geht auch hervor, dass Haushalte gewissermaßen Steuereinheiten darstellten. Die Steuerlast konnte, abhängig von der sehr unterschiedlichen wirtschaftlichen Gesamtsituation für die unterworfene Bevölkerung, erheblich sein. Josephus erwähnt eine erfolglose jüdische Delegation vor Augustus, die vergeblich um Steuernachlass gebeten hatte. Einen solchen gewährte Augustus nur den Samaritanern. Diese wurden mit einem Viertel Kopfsteuerermäßigung für ihre Unterwerfung unter Roms Herrschaft belohnt. Dass die Steuern längerfristig hoch und drückend waren, ist aus dem Umstand ablesbar, dass eine weitere Delegation vor Tiberius vorstellig wird, diesmal bestehend aus Syrern und Juden: "Auch baten die Provinzen Syrien und Judäa, die durch die Steuerlast schwer mitgenommen waren, dass die Abgaben herabgesetzt würden", bemerkt Tacitus.11
Damit möchte ich mich kurz den historischen Umständen des Zensus unter Augustus, von denen in der Weihnachtsgeschichte die Rede ist, zuwenden. Als Herodes 4 v.Chr. stirbt, wird sein Reich unter den Söhnen Antipas, Archelaos und Philippus aufgeteilt. Zehn Jahre später, 6 n.Chr., setzt Augustus, den Herodessohn Archelaos, den Ethnarchen (Volksherrscher) von Judäa, ab und schickt ihn in die Verbannung. Zeitgleich wird P. Sulpicius Quirinius Statthalter von Syrien, das er einem Zensus unterzieht: "Quirinius also, einer von den römischen Senatoren, der übrigens alle öffentlichen Ämter bereits bekleidet hatte und wegen seiner ehrenvollen Stellung großen Einfluss besaß, kam auf Geheiß des Caesars mit wenigen Begleitern nach Syrien, teils um Gerichtssitzungen abzuhalten, teils um die Vermögensschätzung vorzunehmen. Zugleich mit ihm wurde Coponius, ein Mann ritterlichen Standes, zur Wahrnehmung der höchsten Gewalt in Judäa abgeschickt. Bald fand sich nun Quirinius auch in Judäa ein, das mit Syrien verbunden war, um hier ebenfalls das Vermögen zu schätzen und die Güter des Archelaus zu verkaufen."12 Nach Josephus ist jedenfalls nicht die Rede von einem weltweiten Zensus, sondern nur von einem Zensus in Syrien und zur Besteuerung der Bevölkerung in Judäa, welches nun verwaltungstechnisch an Syrien angeschlossen wurde. In den Gebieten der beiden verbliebenen Herodessöhne, die nicht der unmittelbaren römischen Steuerpflicht unterlagen, fand daher auch kein Zensus statt. Folgen wir Josephus, dann besetzt Quirinius also im kaiserlichen Auftrag 6/7 n.Chr. das herrscherlos gewordene Judäa, um es der Provinz Syrien als Anhang hinzuzufügen. Quirinius' erste Amtshandlung im römisch besetzten Judäa ist der Verkauf ehemals herodianischen Eigentums und die Abhaltung eines Zensus. Dadurch ist Judäa direkt der römischen Verwaltung unterstellt. Die Tetrarchien des Herodes Antipas und Pilippus regiert Rom demnach indirekt über die genannten herodianischen Vasallenkönige. Diese politische Herrschaftssituation läßt zunächst die Schlussfolgerung zu, dass Joseph, der in Nazareth lebt und arbeitet, zu den Untertanen des Herodes Antipas gehört. Dann hätte er aber nicht zu einem direktem römischen Zensus wie dem tributum capitis in Judäa aufgerufen werden können. Vielmehr zahlte Joseph unter diesen Umständen Steuern an seinen Landesherrn Herodes Antipas.
Doch nun zu den Anfängen des Jesus von Nazareth, zu seiner Geburt in Bethlehem, was zunächst ein vieldiskutiertes chronologisches Problem aufwirft. Lukas ordnet die Schwangerschaft der Mutter Jesu in die Zeit des Herodes ein.13 Eine Datierung, welche auch Matthäus bestätigt.14 Wahrscheinlich sind die letzten Regierungsjahre gemeint, denn im Frühjahr 4 v.Chr. stirbt Herodes.15 Neun Monate nachdem in Nazareth Maria die Geburt Jesu angekündigt wurde, findet eine ganz normale Niederkunft in einem Stall von Bethlehem statt.16 Das chronologische Problem liegt nun in der lukanischen Synchronisierung des Geburtdatums mit der Regierungszeit des Herodes einerseits und mit dem von Augustus angeordneten Zensus des syrischen Statthalters Quirinius 6/7 n.Chr. andererseits.17 Die Angaben des Lukas - Endphase der Herodesregentschaft, also spätestens vor dem Frühjahr 4 v.Chr., und der Zensus unter dem syrischen Statthalter Quirinius - bedeuten die unmögliche Gleichzeitigkeit zweier um zehn Jahre auseinanderliegender markanter Daten. Bereits in der Antike wurden Zweifel gegen diese Chronologie des Lukas laut. Der Apologet Tertullian korrigiert, dass der Zensus, von dem Lukas schreibt, vielmehr unter dem syrischen Statthalter Sentius Saturninus (8-4 v.Chr.) durchgeführt worden sei.18 Dessen Statthalterschaft ist immerhin auch von Josephus bezeugt, allerdings weiß er nichts von einem Zensus und ansonsten schweigen die Quellen.19
Dieses Problem ließe sich lösen, wenn - was eine umstrittene in Tibur Tivoli gefundene Inschrift vielleicht belegt - Quirinius zweimal Statthalter von Syrien gewesen wäre:20 Einmal in der Endphase der Herodesherrschaft und ein zweites Mal 6/7 n.Chr. Nun ist es aber ausgesprochen unwahrscheinlich, dass der Statthalter von Syrien im Königreich des Herodes überhaupt einen Zensus abhalten und demzufolge auch Steuern hätte einziehen können. Es scheint zumindest so, also ob die Römer zunächst auf das Prinzip der indirekten Herrschaft gesetzt haben. Entsprechend findet erst nach Absetzung des Archelaos der erste Provinzzensus statt, weil Judäa jetzt richtig provinzialisiert wird.21 Denkbar wäre allerdings, dass Rom, als das Ende der Regierungszeit des Herodes abzusehen war, den syrischen Statthalter oder einen Legaten mit kaiserlichem Sondermandat für einen Zensus (Quirinius?) entsandte, um auf dem herodischen Gebiet eine Art Vorzensus durchzuführen.22 Dieser sollte einen Überblick verschaffen und auf eine eventuelle spätere Provinzialisierung vorbereiten. Das könnte eine mögliche Tradition von Lk 1,5 und 2,2-3 sein. Nun würden die chronologischen Angaben passen. Jesus ist dann wahrscheinlich "in den Tagen" des Königs Herodes geboren.23
Warum aber von Nazareth nach Bethlehem ziehen? Joseph, Jesu Ziehvater, so erfahren wir bei Lukas, stammte vom Geschlecht Davids ab und wanderte, aus diesem Grund mit seiner ihm rechtsgültig verlobten Frau Maria von Nazareth zum Geburtsort seines Stammvaters David nach Bethlehem, wo sie geschätzt werden sollen.24 Für die hochschwangere Maria war die Reise sicherlich eine Tortur. Wenn es sich hätte vermeiden lassen, wäre Joseph zu diesem Zeitpunkt der Schwangerschaft wohl kaum zu einer Reise von mehreren Tagen aufgebrochen. In Bethlehem wird Jesus geboren.25 Zwei Wochen später kehren Maria und Joseph mit dem Neugeborenen nach Nazareth zurück. Soweit der Bericht des Lukas. Radikal kritische Einschätzungen des lukanischen Berichts bezeichnet die Geburtsgeschichte in Bethlehem als unhistorisch und ausschließlich als messianisch geboten.26 Folgt man dieser Vorstellung darin, dass an einem zentralen Punkt der Weihnachtsgeschichte eine komplette Erfindung vorliegt, negiert man von vornherein die Möglichkeit, dass die Verbindung nach Bethlehem nicht doch auch einen wahren Kern haben kann. Diese Frage zu stellen hieße, danach zu fragen, wieviel fromme und heilsgeschichtlich notwendige "Lüge" sich bei Lukas wirklich findet und andersherum, wieviel historisch Wahrscheinliches im Bericht des Lukas vorhanden ist? Methodisch kann nur ein Indizienbeweis geführt werden, der auf eine in sich schlüssige Hypothese hinausläuft.
Im Folgenden unternehme ich also den Versuch, die Vermutung zu erhärten, dass Joseph tatsächlich wegen des Provinzzensus 6/7 n.Chr. nach Bethlehem gewandert ist, dass es zensusbedingte Wanderungen gegeben hat und diese Darstellung nicht nur einer messianischen Legendenbildung geschuldet ist.27 Fraglich, das sei an dieser Stelle schon erwähnt, ist außerdem, ob Maria zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch schwanger war. Lukas gibt als Begründung für die Zensuswanderung die gentilizische Verbindung Josephs mit dem "Hause und dem Geschlechte Davids" (Lk 2,4) an. Nun stellt sich die Frage, ob die Römer die gentilizische Bevölkerungsstruktur der Juden als Ordnungsprinzip für den Zensus der Juden benutzt haben könnten. Davon ist Braunert überzeugt: "In der Begründung zu Josephs Wanderung aber kennzeichnet Lukas Bethlehem offensichtlich als Stammsitz des davidischen Geschlechts, so daß danach der Zuständigkeitsort für die Bevölkerung Judäas entsprechend ihren gentilizischen Bindungen festgelegt worden wäre. Bedenkt man, daß die römische Verwaltung bei der Abhaltung des ersten Zensus in einem Gebiet keine neuen Grundlagen schaffen konnte, sondern sich der vorhandenen Voraussetzungen bedienen mußte, die am meisten Erfolg versprachen, d.h. aber in diesem Fall eine möglichst vollständige Erfassung der Bevölkerung gewährleisten, so ist es durchaus einsichtig, daß sie die gentilizischen Bindungen, die im jüdischen Volke von alters her sehr lebendig waren, für ihre Zwecke ausgenutzt hat."28
Dagegen hat Mason eingewendet, dass es keinen Sinn ergäbe, "jemanden zu einer Reise in seine weit entfernte Vaterstadt zu verpflichten, weit weg von Wohnort und Besitz. Joseph und seinen Ahnen trennten über tausend Jahre. Musste also jeder seinen Stammbaum tausend Jahre zurückverfolgen und die Geburtsstadt jenes entfernten Vorfahren herausfinden, wenn diese überhaupt noch existierte? Wie soll das überhaupt möglich gewesen sein?"29 Und wer war überhaupt, fragt Mason weiter, genetisch betrachtet ein Nachkomme Davids? Diese Einwände Masons sprechen gegen einen Zugriff römischer Zensusbeamte auf gentilizische Strukturen, da diese für einen Zensus und die anschließende Besteuerung nicht gerade zweckdienlich gewesen wären. Sinnvoll erscheinen Zensuswanderungen eigentlich nur für die Veranlagung der Bodensteuer. Für die Kopfsteuer alleine sind sie schwer vorstellbar.
Tatsächlich gibt es eine auf einem Papyrus erhaltene spätere Anordnung aus dem Jahre 104 n.Chr. des praefectus Aegypti Vibius Maximus, der offenbar zahlreichen Wanderarbeitern in Alexandria, die sich dort als Landarbeiter verdingen, befiehlt, zur Steuererfassung an ihren Heimatort zurückzukehren.30 Wörtlich heißt es in dem Edikt: "Mit dem Beginn des jedes einzelne Haus betreffenden (Haus zu Haus) Zensus ist es notwendig, alle Personen aufzurufen, die aus welchen Gründen auch immer von ihren Wohnsitzen abwesend sind, zu ihren eigenen (heimischen) Herden zurückzukehren, damit die üblichen Meldeformalitäten ausgeführt werden können ..." Der Befehl begründet die Rückkehr zum heimischen Herd damit, dass die Betreffenden dort die üblichen Registrierungsangelegenheiten leisten sollen. Der Ton des Ediktes ist eindeutig. Es war obligatorisch, für die persönliche Zensusmeldung zu Haus und Hof zurückzukehren. Man hatte sich für den Zensus zuhause einzufinden, damit vor Ort die geforderte Meldung gemacht und der Besitzstand angezeigt und die Angaben überprüft werden konnten. Da einige Landarbeiter dringend in Alexandria gebraucht wurden, sah das Edikt für diejenigen, die entsprechende Nachweise über ihre Unabkömmlichkeit beibringen konnten, sprich über eine Art Arbeitsnachweis verfügten, eine Ausnahmebestimmung vor. Offensichtlich war man in der alexandrinischen Metropole auf inländische Wanderarbeiter speziell aus der Landwirtschaft angewiesen und stellte einige Landarbeiter von ihrer zensusbedingten Heimreisepflicht frei, sofern am Arbeitsort in Alexandria eine Selbstanzeige des Arbeiters vorlag. Von dieser Ausnahmeregelung einmal abgesehen, liegt die Begründung der generellen Rückwanderung ganz augenscheinlich in der Überprüfbarkeit persönlicher Daten und insbesondere der Besitzstandsangaben (Vermögen, Grund und Boden) an Ort und Stelle. Zahlreiche amtliche ägyptische Papyri sind im Zusammenhang mit dem regulär alle 14 Jahre stattfindenden Zensus erhalten. Die Steuererklärungen verzeichnen den Namen, das Alter und oft auch den Beruf des Familienoberhauptes, seiner Frau und seiner Kinder und sie listen vorhandenen (auch anteiligen) Hausbesitz sowie Grundeigentum jeder im Hause des Familienvorstandes lebenden Person auf.31
Dagegen kann eingewendet werden, dass die Übertragung der Zensusberichte aus Ägypten auf die Verhältnisse in Syrien und Judäa nicht ganz unproblematisch ist, weil Ägypten in verwaltungstechnischer Hinsicht einen Sonderfall darstellt; so waren etwa die Alexandriner überwiegend von der Kopfsteuer befreit. Da die betreffenden Papyri aber eben nicht die privilegierten Alexandriner betreffen, sondern ägyptische Landarbeiter, die in Alexandria arbeiten, wie sie uns im Edikt des Vibius Maximus begegnen, oder Ägypter aus verschiedenen Verwaltungsbezirken z.B. Arsinoites, Oxyrhynchites, Herakleopolites, die durch ihre Steuererklärungen mit ihrer Familie und ihrem Besitz vor uns stehen, dann haben wir in ihnen "normale" Provinzbewohner vor Augen. Interessant ist die Dokumentation von Streubesitz in den ägyptischen Steuererklärungen. Eigentümer und Anteilseigner waren grundsätzlich verpflichtet, ihren gesamten Grundbesitz inklusive leerstehender Flächen anzugeben. Die Angaben waren zwingend und die Nichterfüllung wurde scharf verfolgt und geahndet. Schwieriger wird es, wenn Menschen zwar an einem Ort überwiegend wohnhaft sind, Besitz aber auch an einem oder mehreren anderen Orten haben, wo sie eben nicht oder nur temporär ansässig sind. Trotz der dünnen Quellenlage ist es wahrscheinlich, dass weitere Deklarationen dort erfolgten, wo Grundbesitz vorhanden und demnach Grundsteuer fällig wurde: "Persons resident in one place owning property in another commonly file declarations in the place where they own property. We do not have complete enough documentation to describe procedures in detail, but it appears that in such cases the declaration in the non-domiciliary village was a second or subsequent declaration, not the primary one for the person."32 Der Wortlaut der Veranlagungen leitet Besitzstandsangaben mit der Formel "mir gehört …" ein; sodann folgen teilweise detaillierte Beschreibungen. Findet sich die Formulierung: "wo ich lebe und gemeldet bin", so ist deutlich, dass der Deklarant auf seinem Eigentum wohnt. Daneben gibt es auch die Angabe, das Eigentum befände sich an einem Ort "an dem niemand [sc. aus dem Haushalt des Deklaranten] gemeldet ist", es gibt also Grundbesitz außerhalb des Wohnsitzes; diese Ausdruck impliziert, dass der Deklarant eine zweite Erklärung am Wohnort abgegeben hat.33 Erstaunlicherweise enthalten die Erklärungen in keinem Fall so etwas wie eine Adresse. In der Tat wäre es nicht nachvollziehbar, weshalb zum einen präzise Besitzstandsangaben gemacht werden, wenn diese nicht von den Steuerbeamten lokalisiert und überprüft werden konnten. Da aber die offizielle Bezeichnung des Vorganges kat' oikian apographes lautet, d.h. der Zensus betraf jedes einzelne Haus, und er zudem die Meldepflicht an den heimischen "Herden" (ephestia) erforderte, ist m.E. die Überprüfbarkeit der Angaben durch die Anzeige an Ort und Stelle gegeben, was bedeuten könnte, dass die Steuerbeamten beim Zensus in Ägypten tatsächlich von Haustür zu Haustür zogen. Nun kann man zwar die Ansicht vertreten, dass das hier besprochene Edikt des Vibius Maximus aus dem Jahr 104, gerade im Punkte der Rückreiseforderung der Bauern zu den heimischen "Herden", auf Land- und Gastarbeiter in Alexandria beschränkt sei. Dennoch ist nicht einzusehen, warum nur diese Wanderarbeiter in ihre Wohnorte und konkret in ihre Häuser zurückkehren sollten, um die üblichen Zensusangelegenheiten zu erledigen.
Das Phänomen der hier beschriebenen durch einen römischen Zensus bedingten Wanderungen begegnet sonst in Judäa und in der Provinz Arabia (s.u.) und kann als temporäre Migrationserscheinung aufgefasst werden. Komplizierter werden die Umstände des Zensus beispielsweise schon bei einem einfachen Wohnortswechsel innerhalb des ehemaligen herodianischen Herrschaftsgebietes. War am alten Wohnort noch Landbesitz vorhanden (hier ist auch an Erbfälle zu denken), konnte aus den Steuerbescheiden fälschlich auf einen nicht mehr aktuellen Wohnsitz geschlossen werden. Migranten erschienen dann möglicherweise auf Steuerdokumenten so, als ob sie noch dort lebten, wo sie hergekommen sind. Jesus ist in gewisser Weise so ein Migrationsfall. Legendarisch ist die bei Matthäus geschilderte Flucht nach Ägypten, an die hier nicht zu denken ist, sondern vielmehr der sicher belegte Umstand, dass Jesus die stabilitas loci seines Heimatortes Nazareth aufgibt und im Gebiet um den See Genezareth als Wanderradikalist herumzieht und nachhaltig zu wirken beginnt. Nazareth und Umgebung kehrte er mit dem Verlassen des Elternhauses jedenfalls definitiv den Rücken zu.34 Er bleibt aber bis heute der Mann aus Nazareth. Das Nazareth hängt Jesus an, eben weil es sein wahrscheinlichster Geburtsort war und weil er dort lebte, ehe er galiläischer Wanderprediger wurde. Joseph dagegen wird zumindest von Matthäus (Mt 1,20) und Lukas (Lk 2,4) mit Bethlehem in Verbindung gebracht, vermutlich vor allem aus heilsgeschichtlichen Gründen; vielleicht hatte er aber tatsächlich familiäre Wurzel in Bethlehem, es war sein Heimatort, an dem er noch Land besaß, als er gar nicht mehr dort lebte.
Babatha: Doch zunächst zu einem anderen Fall, der vergleichsweise sehr viel besser dokumentiert ist: Der Fund des Privatarchivs einer jüdischen Frau mit Namen Babatha. Sie flieht im Bar Kokhba-Aufstand aus ihrem Heimatort Maoza bei Zoara (genau an der Südspitze des Toten Meeres in der Provinz Arabia gelegen), obgleich schwer zu verstehen ist, weshalb sie ausgerechnet in die judäische Gefahrenzone des Aufstandes zieht, wo nämlich ihr Familienarchiv gefunden wurde.35 Die Entdeckung ihrer Dokumente (35 Papyri) im Jahr 1961 in der sogenannten "Höhle der Briefe" im Wadi Nahal Hever westlich vom Toten Meer, die dort 1800 Jahre unberührt gelegen hatten, eben so, wie sie von Babatha sorgfältig in Leinen verschnürt in einem Lederbeutel deponiert worden waren, ist ein Glücksfall. In unserem Zusammenhang interessiert vor allem der Papyrus Nr. 16, eine beglaubigte Kopie ihrer Steuererklärung vom 2. und 4. Dezember 127 (zwei Tage brauchten die Beamten, bis sie die Steuererklärung bearbeitet hatten und ihr das Dokument aushändigten), dem Jahr, in dem Kaiser Hadrian den Statthalter der Provinz Arabia, Titus Aninius Sextius Florentinus, einen Provinzzensus durchführen lässt. So wie es bei Ulpian im Buch drei seiner Schrift de censibus für das römische Steuerrecht dokumentiert ist,36 gibt Babatha die genaue Größe ihres Grundbesitzes an, insgesamt vier vom Vater geerbte Dattelhaine; sie nennt die Höhe der Ertragssteuer, einmal wird sogar die Hälfte der Ernte veranschlagt (!) sowie eine zusätzlich zu zahlende Geldsteuer (Kranzgold). Zudem macht sie genaue Angaben über die Lage der Grundstücke, indem sie die Nachbargrundstücke bezeichnet; zweimal gibt sie eine Straße und das Tote Meer als angrenzend an. Wohnen tun sie und ihr zweiter Mann Judanes jeder auf eigenem Grund und Boden, sie veranlagten also unabhängig voneinander ihren Besitz und lebten offenbar in Gütertrennung. Babathas Mann zeichnet in ihrer Steuererklärung als Vormund oder tutor (hier als epitropos bezeichnet) gegen neben dem Reiterpräfekten Priscus und fünf aufgebotenen Zeugen, die auf der Rückseite unterschreiben.
Die Steuererklärung machte Babatha in Rabbath-Moab, das ungefähr 40 km von ihrem Heimatort Maoza entfernt östlich am Toten Meer liegt, obgleich die Urkunde den Vermerk enthält, dass Maoza zum Verwaltungsbezirk von Petra, der Provinzhauptstadt, gehört, das wiederum 80 km weiter südlich liegt. Nun gibt es zwei Erklärungsansätze für die zensusbedingte Wanderung in das Steuerbüro von Rabbath: Babatha und ihrem Mann Judanes stand es frei, an welchem Ort, ob in Petra oder Rabbath, sie ihre Steuererklärung machten und da Rabbath nur halb so weit, nämlich ungefähr zwei Tagesreisen entfernt war, entschieden sie sich für dieses. Die zweite Möglichkeit ist, dass dort das für sie zuständige Steuerbüro lag.37 Babatha meldet sich also in einem für sie zuständigen Steuerbüro, das kilometerweit von ihrem Grundbesitz entfernt liegt; in ihrer Steuererklärung gibt sie jedoch eine so genaue Lagebeschreibung, dass ihr Besitz bei einer Überprüfung für die Beamten auffindbar ist. Ihre Angaben erlangen nicht zuletzt durch ein Aufgebot an Zeugen Glaubwürdigkeit. Zu bedenken ist ferner, dass möglicherweise Streubesitz vorhanden war. Sofern z.B. Babathas Ehemann noch in Judäa über Grundbesitz verfügte, musste der bei einem dortigen Provinzzensus auch dort veranschlagt werden.
Nun ist von Rosen eindrucksvoll gezeigt worden, dass der Passus bei Lukas in einer Synopse durchaus formale Entsprechungen mit dem der Babatha ausgehändigten Steuerformular zeigt.38 (1.) Babathas Erklärung 39 und Lukas nennen den Kaiser, der den Zensus angeordnet hatte (Lk 2,1). (2.) Sie machen Datumsangaben, wobei Lukas hier nur zu erwähnen braucht, dass es der erste Zensus war (Lk 2,2), und jedermann wusste, damit war das Jahr der Provinzialisierung Judäas 6 n.Chr. gemeint. (3.) Sie bezeichnen den verantwortlichen kaiserlichen Statthalter (Lk 2,2). (4.) Sie erwähnen den Umstand der schriftlichen Deklaration (Lk 2,3. 5: apographesthai). (5.) Sie verweisen auf die zensusbedingte Wanderung vom Wohnort zum Ort, wo die Steuererklärung gemacht wird (Lk 2,4) und in diesem Zusammenhang auf den Vater- bzw. Geschlechternamen sowie den ererbten "Hausstand auf eigenem Grund und Boden" (Babatha) bzw. in überhöhter Form auf das "Haus" Davids (Lk 2,4).40 (6.) Sie dokumentieren die Notwendigkeit, dass die Eheleute gemeinsam zum Zensus erscheinen (Lk 2,5). Die Übereinstimmung in den Angaben und im Aufbau legt es nahe, daran zu denken, dass Lukas das für einen Zensus übliche Formular kannte; warum auch nicht, denn dieses fand ja "reichsweit" Verwendung und er selber wird seine Steuererklärung auch diesem Formular entsprechend gemacht haben. Lukas zeigt keine formellen Abweichungen, sondern ist ausschließlich knapper bei den formalen Angaben. An einer Stelle baut er den Bericht allerdings aus, er gibt an, dass Joseph in die "Stadt Davids zieht, die da heißt Bethlehem" (Lk 2,4); hier beginnt bei Lukas die politische Theologie, die für ihn relevant ist, dagegen interessieren ihn genaue Grundstücksbezeichnungen nicht; er lässt sie weg oder er verfügte nicht über die entsprechende Information. Der Höhepunkt seiner Darstellung ist der nun folgende Bericht über die Geburt des Heilands in einem Stall bei Bethlehem (Lk 2,6-7). Dass das Lukasevangeliuem stark vom theologischen Interesse seines Verfassers geleitet ist, der eine davidische Abstammung behauptet und Jesus aus diesem Grunde von Nazareth nach Bethlehem bringen muss, ist vielfach vertreten worden. Die theologische Intention soll hier gar nicht in Abrede gestellt werden. Diese scheint die Geburt des Herrn in Bethlehem förmlich zu gebieten, Bethlehem ist die Stadt Davids, die Lukas mit den damals üblichen Zensusmodalitäten plausibel verknüpfen konnte.41
Im Mittelpunkt dieser Analyse steht ein anderer Aspekt zur Debatte, nämlich die schon erwähnte Tatsache, dass wir davon ausgehen können, dass Lukas nicht nur über messianische Erwartungen der Juden in der Zeit Jesu, sondern auch über die viel profaneren zensusbedingten Wanderbewegungen der Bevölkerung gut unterrichtet war. Gehen wir einmal davon aus, dass Lukas diesen Umstand nicht bloß konstruiert, sondern ihm auch entsprechende Informationen vorlagen, dann lohnt es sich, abschließend die soziale und ökonomische Situation in der Region mit einer zensusbedingten Wanderung in Zusammenhang zu bringen. Doch fassen wir zunächst zusammen: Im Galiläa des Herodes Antipas fand kein römischer Zensus statt, sondern die Familie des Joseph wird in Bethlehem gezählt und steuerlich veranlagt. In der lukanischen Geburtsgeschichte lebt Joseph nicht (mehr) in Bethlehem, sondern er macht sich auf "aus der Stadt Nazareth in das jüdische Land zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem" (Lk 2,4). Maria ist bei ihm und bringt unter widrigen Umständen in einem Stall ihren erstgeborenen Sohn zur Welt – ein Haus haben sie demnach nicht in Bethlehem besessen. Dass Maria Joseph überhaupt dorthin begleitet, legt die Vermutung nahe, dass die beiden zum Zeitpunkt des Quiriniuszensus nicht mehr nur verlobt, sondern bereits verheiratet waren - sonst nämlich wäre Maria wohl eher dem Hausstand ihres Vaters zugerechnet worden.42 Möglicherweise aber besaß Joseph in oder bei Bethlehem ein Stück Land, welches im Rahmen des Zensus veranschlagt wurde, denn es gibt keinen anderen Grund, weshalb er zensusbedingt nach Bethlehem ziehen musste. In diese Richtung könnte auch eine Nachricht des Hegesippus bei Eusebius verweisen, sofern man ihr Glauben schenken will: Hegesippus berichtet, zwei Enkel des Judas, eines leiblichen Bruders Jesu, seien als "Nachkommen Davids" angezeigt und vor Kaiser Domitian geführt worden. Im Verhör geben sie an, über einen Grundbesitz von 39 Morgen Land zu verfügen, "den sie mit eigener Hand bewirtschafteten, um davon die Steuern zu zahlen und ihren Lebenslauf zu decken."43 Im übrigen hat wohl nicht nur Joseph, sondern auch Maria Land in oder in der Nähe von Bethlehem besessen, weil es sonst keinen stichhaltigen Grund gibt, weshalb sie mit Joseph nach Bethlehem ziehen mußte; wie Babatha brauchte sie nämlich zur Veranlagung einen tutor und als solcher fungiert der rechtsgültige Ehemann.44
Halten wir daran fest, dass Joseph zwar ursprünglich aus Bethlehem stammt, weshalb er Grundbesitz in der Stadt hat, aber in Nazareth und Umgebung, wo es dank der vielen Bauvorhaben seines Landesherren Herodes Antipas genug Arbeit gab, als Bauhandwerker lebt. Sanders hat unter anderem gezeigt, dass es wegen der zahlreichen Bauprojekte in Galiläa und Umgebung keine Arbeitslosigkeit gab.45 Angrenzend beginnt auch Philippus ein Bauprogramm und auch die umliegenden syrisch-hellenistischen Städte (Dekapolis), dürften als potentielle Arbeitsorte für den Handwerker oder den Kleinunternehmer Joseph aus dem Baugewerbe attraktiv gewesen sein. Eine solche Existenz impliziert, dass Joseph viel unterwegs war. Zumindest erfährt Joseph ziemlich überraschend von der Schwangerschaft seiner angeblich jungfräulichen Braut und er will sie daraufhin verstoßen, was Matthäus in seiner Darstellung besonders konturiert.46 Der Engel des Herrn gibt ihm jedoch die Weisung, seine Frau Maria zu sich zu nehmen.47 Joseph legitimiert seinen Sohn, indem er ihn annimmt und ihm seinen Namen Jesus gibt.48 Damit ist Jesus im Grunde in den Stammbaum Davids adoptiert worden.49 Nach alledem, so scheint es zumindest, wurde Maria schwanger, als ihr Verlobter von zuhause abwesend war, so dass Jesus folglich illegitim war; eine Überlieferung, die Markus und dann Lukas und Matthäus noch stärker in ihrer Redaktion überarbeitet haben. Doch bleibt auf jeden Fall ein Makel an Jesus hängen, was in der ungewöhnlichen - und deshalb wohl kaum erfundenen - Wendung bei Markus "Sohn der Maria" zum Ausdruck kommt.50 Diese Tradition erhärtet die Vorstellung, dass in Nazareth vor allem die Verlobte des Bauhandwerkers oder kleineren Bauunternehmers Joseph lebt, der auf den Baustellen der Umgebung arbeitet, der unterwegs ist, um den Lebensunterhalt für sich und seine junge Frau, die schließlich ein (fremdes?) Kind erwartet, zu verdienen.
Wie dem auch sei, Nazareth war ein günstiger Ort für Menschen, die im Baugewerbe arbeiteten. Logisch fügt sich in dieses Bild, dass Joseph mit seiner Familie, nachdem sein Landbesitz in Bethlehem für die römische Steuer erfasst ist, rasch nach Nazareth zurückkehrt, denn dort liegt der eigentliche Lebensmittelpunkt der Familie. Die in der Region gar nicht so ungewöhnliche steuerliche Situation des Joseph und seiner Frau ist dem Umstand geschuldet, dass sie zwar in einem Distrikt leben und arbeiten, in dem sie nicht der römischen Steuerpflicht unterliegen, ihr Besitz aber in einem anderen Gebietsteil liegt, der von Rom nach der direkten Herrschaftsübernahme besteuert werden soll. An der Bethlehemgeburt zum Zeitpunkt des Quiriniuszensus 6 n.Chr. lässt sich indes kaum festhalten. Wenn Lukas darüber tatsächlich Berichte von Augenzeugen aus dem Umfeld der Familie hatte, dann ist an einen Irrtum zu denken. Dieser könnte sich aufklären, wenn man die bereits oben erwähnte Möglichkeit in Betracht zieht, dass Quirinius tatsächlich den Zensus bzw. wohl eine Art Vorzensus in der Endphase der Herodesherrschaft beginnt, der Joseph und Maria nach Bethlehem bringt.51 Streicht man die Bethlehemgeburt als unhistorisch, kommt Jesus von Nazareth auch in Nazareth auf die Welt.
Für Lukas mag in der Tat die Zugehörigkeit zum Hause David entscheidend für seine Darstellung gewesen sein. An der Beschreibung des Quiriniuszensus zeigt sich aber auch, dass Lukas, wie er selbst behauptet, gewissenhaft nachgeforscht hat (Lk 1,3), denn seine Angaben über den Zensus entsprechen den Tatsachen, wie sie die ägyptischen Papyri und in besonderer Weise die Steuererklärung der Jüdin Babatha bezeugen. Zensusbedingte Wanderungen erwähnt damit erstmals Lukas um 90 n.Chr.; das Edikt des Vibius Maximus von 104 n.Chr. ordnet die Rückwanderung zum Wohnort an, damit die üblichen Zensusangelegenheiten an Ort und Stelle durchgeführt werden können, und schließlich dokumentiert die Steuererklärung der Babatha aus dem Jahr 127 n.Chr. eine Zensuswanderung zum zuständigen Steuerbüro eines Distriktes. Damit wird der Umstand der Zensuswanderung, wie ihn Lukas in der Geburtsgeschichte erwähnt, plausibel: Babatha und Judanes wandern zwei Tage von Maoza nach Rabbath, Maria und Joseph sind ca. vier bis fünf Tage unterwegs von Nazareth nach Bethlehem zum Sitz des zuständigen Steuerbüros, wo sie persönlich vorstellig werden mussten. Lukas lässt Nachrichten in die Weihnachtsgeschichte einfließen, die dem damaligen allgemeinen Wissen über den Zensus entsprungen sind; Lk 2,1-5 zeigt, dass er die Zensusmodalitäten kannte, welche die Wanderung von Joseph und Maria in das messianisch so bedeutsame Bethlehem durchaus als historisch erscheinen lassen. Dabei ist Rosen darin zuzustimmen, dass Lukas das Vorhandensein von Grundbesitz in Bethlehem nicht erwähnen musste, weil der zeitgenössische Hörer wusste, dass nur die persönliche Anzeige ihres jeweiligen Grundbesitzes die Eltern Jesu zwang, nach Bethlehem zu ziehen.
Mit dem Vorhandensein von Grundbesitz gewinnt das Sozialprofil von Joseph und Maria etwas andere Konturen, als es das von Lukas gezeichnete Bild von bettelarmen Menschen suggeriert. Joseph war wohl eher Kleinunternehmer, der Streubesitz hatte, und auch der wahrscheinliche Grundbesitz von Maria zeigt keine arme Frau. Bei einem regelmäßig stattfindenden Zensus waren sie unterwegs zur Veranlagung ihres Grundstücke in Bethlehem - über Besitz, auch Anteilseigentum, an anderen Orten wissen wir zwar nichts, gegeben haben kann es ihn aber dennoch. Jesus kommt somit nicht aus ganz armen Verhältnissen; vielmehr deutet sich im Entsetzen der Familie über die Existenzform eines mittellosen Wanderpredigers im eigenen Haus ein bürgerliches Umfeld an.52 Sein Vater benötigt einen veritablen Arbeiter und keinen, der die Formel, ein Arbeiter ist seines Lohnes wert (Mt 10,10), auf Heilungen und Verkündigungen überträgt. Gerade dieses Milieu reagiert empfindlich und mit Ablehnung auf das sozial deviante Verhalten der eigenen Söhne.
Der wahrscheinlichste Geburtsort Jesu bleibt Nazareth. Sein Geburtsdatum stimmt ziemlich genau mit der Endphase der Herodesherrschaft überein. Einige Jahre später wurde Judäa der Provinz Syrien zugeordnet. Nunmehr war Quirinius Statthalter von Syrien und ließ nach dem Gebot des Kaisers in seinem gesamten Verwaltungsgebiet einen Zensus durchführen. Zu diesem Zeitpunkt war Jesus vermutlich schon ein Knabe; vielleicht war er ziemlich genau 10 Jahre alt, als seine Eltern nach Bethlehem wandern mussten, um dort ihren Landbesitz besteuern zu lassen.
Anmerkungen:
1 Bultmann, Rudolf., Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 1953, S. 463.
2 Timpe, Dieter, Römische Geschichte und Heilsgeschichte, Berlin 2001, S. 40-57.
3 R.g. II 8 bezieht sich auf Zählungen in den Jahren 28 u. 8 v.Chr. sowie 14 n.Chr. Siehe zum unsicheren Geburtstermin die Zusammenfassung bei Theißen, Gerd; Merz, Annette, Der historische Jesus, Göttingen 1997, S. 149ff.
4 Demandt gibt z.B. als Ergebnis der letzten Zählung 4 937 000 Wehrfähige an. Demandt, Alexander, Hände in Unschuld. Pontius Pilatus in der Geschichte, Köln 1999, S. 40.
5 Marquardt, Joachim, Römische Staatsverwaltung, Bd. 1, Darmstadt 1957, S. 213.
6 Vgl. Ios. Ant. 17,13,5; 18,1,1; ILS 2683 (vgl. Anm.12).
7 "It appears, then, that the entire population of Egypt was registred, whatever their status." Bagnall, Roger S.; Frier, Bruce W., The demography of Roman Egypt, Cambridge 1994, S. 12. Hierzu und zum Folgenden. Im ersten Teil "The census returns" stützen sich die Autoren wesentlich auf das unübertroffene Standardwerk von Marcel Hombert und Claire Préaux (Recherches sur le recensement dans l'Égypte romaine, Leiden 1952).
8 Die Intervalle betrugen 12-14 Jahre.
9 Hierzu und zum Folgenden Marquardt (wie Anm. 5), Bd. 1, 214f.
10 Diese Angaben für Syrien macht Ulpian in den Digesten 50,15,3.
11 Tac. ann. 2,42; siehe auch Theißen, Gerd, Wir haben alles verlassen (Mc X,28), Nachfolge und soziale Entwurzelung in der jüdisch-palästinensischen Gesellschaft des 1. Jahrhunderts n. Chr., in: ders., Studien zur Soziologie, Tübingen 1983, S. 106-141, bes. S. 127.
12 All das berichtet uns der jüdische Historiker Josephus (Ant. 18,1,1 u. Bell. 2,8,1). Auf einen Zensus in Syrien verweist auch eine in Apamea am Orontes gefundene Grabinschrift des Präfekten Q. Aemilius Secundus, die sowohl Quirinius als kaiserlichen Legaten als auch einen Zensus unter ihm (!) erwähnt (Dessau 2683). Zu Qurinius siehe den Artikel Sulpicius von M. Horster in der PIR², Bd. VII 2 (2006), S. 373-375.
13 Lk 1,5.
14 Mt 2,1.
15 Ant. 17,167; Bell. 2,10.
16 Lk 2,6-7.
17 Lk 2,2.
18 Adv. Marc. 4,19,10: sed et Census constat actos sub Augusto tunc in Iudaea per Sentium Saturninum … Die Tertulliannotiz könnte jedoch auch eine apologetische Erfindung sein gegen den Einwand, bei Lukas stimmten die chronologischen Angaben nicht (vgl. Theißen, wie Anm. 3, 150).
19 Ant. 16,9,1-2.
20 CIL XIV 3613; siehe dazu die Zusammenfassung der Forschungskontroverse über die Frage, auf wen sich die verstümmelte Inschrift bezieht (auf Quintilius Varus oder auf Sulpicius Quirinius) bei Fox, Robin Lane, The unauthorized Version. Truth and Fiction in the Bibel, London 1991, S. 28ff.
21 Ant. 18,1; vgl. Apg. 5,37. LK 2,2.
22 Brindle, Wayne A., The Census and Quirinius: Luke 2,2, Journal of the Evangelical Theological Society 27 (1984), S. 43-52, hat einen etwas gezwungenen Übersetzungsvorschlag gemacht, wonach der "erste Zensus" bei Lukas eigentlich der "frühere Zensus" vor dem Zensus des Quirinius bedeute.
23 Was sich auch mit Mt 2,1 verträgt; vgl. Lk 3,23 gibt an, Jesus sei etwa 30 Jahre alt gewesen, als Johannes ihn taufte und er öffentlich zu wirken begann. Letzterer ist bekanntermaßen vor Jesus, im 15. Regierungsjahr des Tiberius und damit 28/29 n.Chr. (Lk. 3,1), aufgetreten. Diese Angaben lassen sich mithin harmonisieren und sprechen für einen frühen Geburtstermin noch unter Herodes.
24 Lk 2,4-5.
25 Lk 2,6-7.
26 Demandt (wie Anm. 4), S. 132f. (Abschnitte j.k.) weist irrtümliche und unglaubwürdige Angaben bei Lukas nach; siehe auch Schürer, E., Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi, Bd. 1, Leipzig 1901.
27 Vgl. Theißen (wie Anm. 2), S. 148ff.
28 Braunert, Horst, Der römische Provinzialzensus und der Schätzungsbericht des Lukas-Evangeliums, HZ 6 (1957), S. 192-214, hier S. 207.
29 Hierzu und zum Folgenden Mason, Steve, Flavius Josephus und das Neue Testament, Tübingen 2000, S. 302f.
30 LCL, Select Papyri II, Nr. 220, S. 108f.
31 Bagnall/Frier (wie Anm. 7), S. 22f. Siehe z.B. LCL, Select Papyri II, Nr. 312., S. 337ff. (147 n.Chr.).
32 Bagnall/Frier (wie Anm. 7), S. 15.
33 Ebd., S. 23.
34 Siehe Theißen (wie Anm. 11), S. 107-112.
35 Ihr zweiter Mann Judanes stammt immerhin von dort aus En-Gedi, welches zum Verwaltungsbezirk Jericho gehört. Hierzu und zum Folgenden: The documents from the Bar Kokhba period in the cave of letters, hg. v. Naphtali Lewis, Yigael Yadin u. Jonas Greenfield, Jerusalem 1989, S. 1-31 u. 65-70; Riemer, Ellen, Das Babatha-Archiv, in: Führer und Bestandskataloge 3, Württembergisches Landesmuseum Stuttgart 1994 (1995), S. 94ff.
36 Ulpian beschreibt in de censibus 3 (= Dig. 50,15,4) die Aufstellung des Grundbesitzes, die wir, so Marquardt, sicher für Trajan, wahrscheinlich aber schon unter Augustus so ansetzen können (wie Anm. 5, 221f.).
37 Riemer (wie Anm. 35), S. 101; Isaac, Benjamin, The Babatha archiv: a review article, IEJ 42 (1992), S. 64.
38 Rosen, Klaus, Jesu Geburtsdatum. Der Census des Quirinius und eine jüdische Steuererklärung aus dem Jahr 1927 n. Chr., JbAC 38 (1995), S. 5-15.
39 Lewis/Yadin/Greenfield (wie Anm. 35), S. 66f.; Rosen, (wie Anm. 35), S. 14f.
40 Babatha gibt an: "ich bin die Tochter des Simon"; Joseph erwähnt die Zugehörigkeit zum Haus Davids.
41 Micha 5,1.
42 Lk 1,26; 2,4; in Mt 1,24 ist die Rede davon, dass Joseph seine Braut zu sich genommen hatte, d.h. in seine patriarchalische Obhut und in sein Haus (s.u.).
43 HE 20,1-3; vgl. Mk 6,3.
44 Auf diese Parallele hat zuerst Rosen verwiesen (wie Anm. 35, S. 11).
45 Sanders, E. P., Sohn Gottes. Eine historische Biographie Jesu, Stuttgart 1996, S. 43. Siehe Ios. Ant. 18,2,1; 18,2,3.
46 Mt 1,19.
47 Mt 1,20-21.
48 Mt 1,25.
49 Hierzu und zum Folgenden Lüdemann, Gerd, Jungfrauengeburt? Die wirkliche Geschichte von Maria und ihrem Sohn Jesus, Stuttgart 1997, S. 57ff. u. 70ff.
50 Mk 6,3; vgl. Mt 13,55 ändert in "Sohn des Handwerkers"; Lk 4,22 in "Sohn Josephs", so auch Johannes 6,42. "Um so ungewöhnlicher als ein jüdischer Mann normalerweise mit dem Namen seines Vaters verbunden wurde" (Lüdemann, wie Anm. 49, S. 58f.).
51 Rosen hat spekuliert, dass beider Grundbesitz bereits von Herodes zur Steuer herangezogen wurde und sie deshalb schon mehrfach nach Bethlehem gezogen seien und dort, zu einem früheren Zeitpunkt, sei Jesus auf die Welt gekommen; dabei bleibt der Grund für eine Wanderung an den Ort des Besitzstandes unter Herodes allerdings vage. (Rosen, wie Anm. 35, S. 12f.).
52 Mk 6,1. 4f.; Mt 13,57-58; Lk 4.16. 23-30; siehe auch Mt 10,35-37; 12,46-50.