“History as a field of enquiry is standing on the edge of a conceptual precipice. Historians need to be thinking about the radical impact of the digital turn in historiography and historical methodology in a critical and engaged manner”, so Toni Weller in seiner Einleitung zum 2013 veröffentlichen Kompendium “History in the Digital Age.”1 Trotz der mehrfach angemahnten “epistemologischen Dringlichkeit”, sich mit dem komplexen Thema der Digitalisierung aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive in systematischer und kritischer Weise auseinander zu setzen, zeichnete sich die historische community im letzten Jahrzehnt durch eine “auffallende Zurückhaltung” oder gar Ignoranz aus.2 Diesem Thema auf der digitalen Plattform von H-Soz-Kult ein Forum zu bieten, ist daher mehr als willkommen.
Die in den bisherigen Beiträgen angesprochen Themen und Fragestellungen zeigen deutlich, dass sich die “digitale Herausforderung” keineswegs auf die Funktion und Rolle der historischen Grund- oder Hilfswissenschaften reduzieren lässt, sondern dass sie die Geschichtswissenschaften als solche und in Gänze betrifft: der Umgang mit digitalen Forschungswerkzeugen, digitalen Informationsinfrastrukturen, digitalen Kommunikationsplattformen und Publikationen sowie digitalen Quellen hat die Praxis historischen Arbeitens grundlegend verändert. Wie Gerben Zaagsma überzeugend argumentiert hat, zeichnet sich die Praxis des historischen Arbeitens augenblicklich durch eine eigentümliche Hybridität aus.3 Charakterisiert ist diese durch das Spannungsfeld, welches sich aus dem Bemühen ergibt, die Tradition hermeneutischer Geisteswissenschaft mit neuen Methoden und Techniken empirisch geprägter Wissenschaftstraditionen zu versöhnen. Die epistemologischen und methodologischen Konsequenzen, die sich aus dieser „trading zone“ für die Zukunft der Geschichtswissenschaft im digitalen Zeitalter ergeben werden, erfordern eine systematische geschichtstheoretische Reflektion und Debatte, die bislang leider nur sporadisch und größtenteils außerhalb der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft stattfindet.4 Die hier angestoßene Debatte kann daher einen wichtigen Beitrag dazu leisten, einen blinden Fleck in der Historisierung der geschichtswissenschaftlichen Praxis zu problematisieren: inwiefern die Aneignung neuer Werkzeuge und Technologien Möglichkeitsräume historischen Forschens und Arbeitens geschaffen, bzw. alternative Herangehensweisen, Fragestellungen und Interpretationsangebote ermöglicht haben.5
Ausgehend von der These des amerikanischen Technikhistorikers Melvin Kranzberg, dass Technologie an sich „weder gut, noch schlecht, noch neutral“ ist6, möchte ich im Folgenden problematisieren, wie und in welcher Form die Nicht-Neutralität des Einsatzes bzw. Gebrauchs digitaler Technologien die epistemologischen Grundlagen sowie das methodologische Selbstverständnis der geschichtswissenschaftlichen Disziplinen betreffen. Der quellenkritische Umgang mit digitalen Quellen steht hierbei im Zentrum der Aufmerksamkeit, berührt er doch die Grundfesten der historischen Disziplin als Wissenschaft. Bettet man die Frage der digitalen Quellenkritik in den praktischen Ablauf historischen Arbeitens ein, schließen sich notgedrungen Fragen der Informationsrecherche, -analyse, -präsentation und -vermittlung an.
Der Praxis digitaler Quellenkritik vorgelagert ist der Prozess der Digitalisierung und Archivierung sowie die Indexierung und Anreicherung der Digitalisate mit Metadaten, ohne die deren Recherchierbarkeit und Wiederauffindbarkeit unmöglich wäre. In beide Prozesse, die jeder historischen Quellenrecherche im Internet zugrunde liegen, greifen digitale Technologien in grundlegendem Maße ein. Moderne historische Archive sind das Resultat eines Verwissenschaftlichungsprozesses, der auf Prinzipien beruht, die im 19. Jahrhundert entwickelt wurden.7 Basierend auf den Prinzipien des „respect des fonds“ und des „respect de l’ordre“ inkorporieren Archive Logiken des Selektierens, Indizierens und Systematisierens von historischen Quellen, und stellen demnach eine dem historischen Analyse- und Interpretationsvorgang vorgelagerte Filterfunktion in der Überlieferung dar. Als Infrastrukturen der Wissensspeicherung und -ordnung verändern Archive den ontologischen Status von Quellen: aus „Quellen“ (ein begriffliches Konstrukt des Historismus8) werden „Dokumente“, d.h. in Form gebrachte Information. „Documents as evidence are ontological entities whose evidentiary origins lie in their belonging to taxonomic or indexical regimes or to looser discursive or conversational regimes (...) ‚Facts‘ occur through the infrastructuralization of documentary techniques and technologies“, so Ronald Day in seiner anregenden Studie „Indexing it all“.9 Mit dem Prozess der Digitalisierung von „Quellen“, d.h. dem Wandel von „Dokument“ zu „Daten“, geht eine weitere Formwandlung einher, die – so die These – nicht nur das für die Herausbildung der historischen Wissenschaften so zentrale Konzept des Originals obsolet macht, sondern auch in die Überlieferungs- und Indexierungslogik des Archivs eingreift.
Begreift man den Lebenszyklus eines Digitalisats im Sinne der historischen Informationswissenschaft10 als eine Folge von digitalen Codierungs- und Recodierungsprozessen, in denen die Digitalisate indexiert, mit Metadaten angereichert und in unterschiedlichen digitalen Umgebungen rekontextualisiert werden, macht das Konzept des „Originals“ aus quellenkritischer Perspektive keinen Sinn mehr. Der französische Mediävist Jean-Philippe Genet schlug aus diesem Grunde bereits 1994 vor, bei digitalen Quellen von „Metaquellen“ zu sprechen: „A set of structured information, modelled, passed on to the computer and processed by it“.11 Die Frage der Authentizität digitaler Quellen lässt sich demnach nur auf Basis informationstechnischer Kriterien erfassen, die Metaquellen auf ihre Datenintegrität hin überprüfen. Kriterien zur Überprüfung der Datenintegrität sind dann Faktoren wie die Stabilität der Datenmenge, Datenumlaufgeschwindigkeit, Datenvarietät, Datenverunreinigung und Datenvolatilität. Wie Carl Lagoze kürzlich in einem luziden Aufsatz in der Zeitschrift „Big Data & Society“ argumentiert hat, verändert der Prozess der Digitalisierung die klassische „Kontrollzone“ der Archive und erzeugt ein neues Handlungsfeld, in dem Datenproduzenten, Datenhüter und Datennutzer auf je eigene Weise in die Konstruktion des epistemischen Objekts „Quelle“ eingebunden sind.12
Voraussetzung der digitalen Datennutzung ist erst einmal deren Identifizierung bzw. „Entdeckung“ im „Himalaya of Data“.13 Da sowohl die Suche nach als auch der Zugriff auf Metaquellen immer öfter online geschieht und wir zudem mit einer rasant anwachsenden Masse von digitalen Informationen konfrontiert werden, entwickelt sich der verständnisvolle und kritische Umgang mit Suchmaschinen und Online-Datenbanken zunehmend zur Kernkompetenz historischer Forschungspraxis im digitalen Zeitalter. Das schon von Peter Haber als „Google-Syndrom“ beschriebene Phänomen, dass die Suchlogik algorithmusbasierter Suchmaschinen auf statistischer Evidenz beruht, nicht jedoch Relevanzkriterien genügt, die auf problemorientierter historischer Fragestellung gründen, macht die Heuristik des Suchens zum wesentlichen Bestandteil digitaler Quellenkritik.14 „Algorithmic criticism“, d.h. ein Verständnis der Funktionsweise statistischer Datenerfassungs- und Darstellungsmodi muss daher zur Basiskompetenz der in mehreren Beiträgen einforderten „digital literacy“ anvancieren.15 Statt über die Suchpraxis der „digital natives“-Generation zu klagen täten wir besser daran, uns kritisch mit den datentechnischen und infrastrukturellen Grundlagen digitaler Forschungspraxen auseinander zu setzen und die Schulung informationswissenschaftlicher Grundlagen zum Kernbestandteil geisteswissenschaftlicher Ausbildung zu machen.
Ein weiterer Baustein dieser Ausbildung muss auch die „media literacy“ sein, die in mehreren Beiträgen angesprochen wurde. Nicht nur wegen der Tatsache, dass sich das World Wide Web zunehmend von einem textbasierten zu einem multimedialen Medium gewandelt hat, erfordert v.a. die zeithistorische Forschung grundlegende Kompetenzen im Bereich der audiovisuellen Quellenanalyse. Die Ignoranz audiovisueller Quellen in der Zeitgeschichtsschreibung kann angesichts der massiven Retrodigitalisierung audiovisueller Quellenbestände im internationalen Kontext und deren stetig wachsende online Verfügbarkeit nicht länger damit gerechtfertigt werden, dass der Zugang zu diesen Quellenbeständen notorisch schwierig, ja unmöglich sei. Von weit grundlegender Bedeutung scheint mir die Herausforderung, neue Formen der digitalen Geschichtserzählung zu entwickeln, welche die visuelle oder auditive Evidenz audiovisueller Quellengattungen nicht nur zur Illustration wissenschaftlicher – d.h. textbasierter – Geschichtsnarrative nutzt, sondern ihre indexikalische Qualität zum Bestandteil der historischen Argumentation und Beweisführung macht.16 Sind die erzählerischen Möglichkeiten transmedialer Narrative im Bereich fiktionaler Geschichten längst erprobt und etabliert, tut sich die Geschichtswissenschaft extrem schwer mit der Idee, die Möglichkeiten nicht-linearer, multimedialer Formen faktualer Erzähltechniken auch nur zu denken – geschweige denn in experimenteller Weise zu erproben.
Mit dem digitalen Zeitalter und vor allem dem Internet als Massenmedium bietet sich zukünftigen Historikern (d.h. mit digitalen und medialen Kompetenzen ausgebildeten Studierenden) die Chance, geschichtswissenschaftliche Erzählungen in anschaulicher Weise für ein breites Publikum zu präsentieren. Dem oft beklagten „Autoritätsverlust“ der Geschichtswissenschaft in populären Medien – allen voran im Fernsehen – könnte so entgegen gewirkt werden. Aus geschichtsdidaktischer Perspektive wichtiger ist, dass Studierende die Komplexität audiovisueller Quellen grundlegender verstehen, wenn sie diese nicht „nur“ analysieren lernen, sondern sie zum Bestandteil ihrer selbst erzeugten Narrative machen müssen – etwa in Form von Podcasts oder Videoessays. Das Annotieren audiovisueller Metaquellen sollte so selbstverständlich werden wie das Referenzieren von Literatur und das Anbringen von Quellenverweisen in Form von Fußnoten in wissenschaftlichen Aufsätzen und Büchern.17
Das Produzieren digitaler Erzählungen – etwa in Form von „database histories“ oder „enhanced publications“ – bedeutet aber auch, dass wir uns der Tatsache bewusst werden müssen, dass wir als Historiker aktiver Teil der Datenmanipulation werden.18 Wie Jim Mussel so prägnant in seinem Aufsatz „Doing and Making: History as Digital Practice“ beschrieben hat, erfordert nicht zuletzt der Einsatz softwarebasierter Analysewerkzeuge (etwa von text-mining tools) ein vertieftes Verständnis des manipulativen oder im Sinne von Kranzberg „nicht-neutralen“ Charakters solcher Werkzeuge: “In manipulating data from multiple resources, modelling their relationships and so exposing facets hitherto unrealized, the historian moves from simulation to simulacra, to validating representations against reified originals to producing analyses of phenomena, objects and relationships that belong to the past.”19 Mit anderen Worten: das Arbeiten mit digitalen Metaquellen erfordert eine doppelte Reflexivität, welche digitale Quellenkritik mit konstruktivistischer Medienkritik zu einer die erkenntnistheoretischen Anforderungen des digitalen Zeitalters reflektierenden Geschichtstheorie verbindet.
Eine Übersicht über alle Beiträge des Diskussionsforums finden Sie hier: <http://www.hsozkult.de/text/id/texte-2890>.
Anmerkungen:
1 Toni Weller, Introduction: History in the Digital Age, in: Ders. (Hrsg.), History in the Digital Age, London 2013, S. 1-20, hier: 1.
2 Kiran Klaus Patel, Zeitgeschichte im digitalen Zeitalter, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte. 59,3 (2011), S. 331-352.
3 Gerben Zaagsma, On digital history, in: BMGN / Low Countries Historical Review 128,4 (2013), S. 3-29.
4 Andreas Fickers, Veins filled with the Diluted Sap of Rationality: A Critical Reply to Rens Bod, in: BMGN / Low Countries Historical Review 128,4 (2013), S. 155-163.
5 Siehe hierzu die Beiträge in Armin Heinen (Hrsg.), Historizität, Materialität und Narrativität. Zum Zusammenhang von Technikkultur und Historiographiegeschichte, in: Zeitenblicke 10,1 (2011).
6 Siehe hierzu Andreas Fickers, "Neither good, nor bad, nor neutral": The Historical Dispositif of Communication Technologies, in: Martin Schreiber / Clemens Zimmermann (Hrsg.), Journalism and Technological Change. Historical Perspectives, Contemporary Trends, Frankfurt am Main 2014, S. 30-52.
7 Arlette Farge, Le goût de l’archive, Paris 1989.
8 Siehe hierzu Thomas Rathmann / Nicolaus Wegmann (Hrsg.), „Quelle“. Zwischen Ursprung und Konstrukt. Ein Leitbegriff in der Diskussion. Beiheft zur Zeitschrift für Deutsche Philologie, Berlin 2004.
9 Ronald E. Day, Indexing it all. The subject in the age of documentation, information, and data, Cambridge, Mass. 2014, S. 4f.
10 Onno Boonstra / Leen Breure / Peter Doorn, Past, Present and Future of Historical Information Science, Amsterdam 2004.
11 Jean-Philippe Genet, „Source, métasource, texte, histoire“, in: F. Bocchi / P. Denley (Hrsg.), Storia & Multimedia, Bologna 1994, S. 3-17.
12 Carl Lagoze, “Big Data, data integrity, and the fracturing of the control zone”, in: Big Data & Society 1 (2014), S. 1-11.
13 Pelle Snickars, „Himalaya of Data“, in: International Journal of Communications 8 (2014), S. 2666-2678.
14 Peter Haber, „Google-Syndrom“. Phantasmagorien des historischen Allwissens im World Wide Web, in: Michael Hagner / Caspar Hirschi (Hrsg.), Nach Feierabend 2013: Digital Humanities, Zürich 2013, S. 175-189.
15 Stephen Ramsey, Reading Machines. Toward an Algorithmic Criticism, Urbana 2012.
16 Siehe exemplarisch das Projekt „The roaring twenties“ der online Zeitschrift Vectors: <http://vectorsdev.usc.edu/NYCsound/777b.html> (19.01.2016).
17 Renee Hobbs, Digital and Media Literacy: Connecting Culture and Classroom, London 2011.
18 Steve Anderson, Technologies of History: Visual Media and the Eccentricity of the Past, Hanover 2011.
19 Jim Mussel, Doing and Making. History as Digital Practice, in: Toni Weller (Hrsg.), History in the Digital Age (wie Fußnote 1), S. 79-94, hier: S. 91.